Samstag, 18. April 2020

Seidenweberei als staatlich gefördertes Heimwerk

Dass Weiacherinnen einst (vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) in grösserer Zahl in Heimarbeit für die Seidenstoffindustrie tätig waren, darüber hat diese Publikation bereits vor fast zehn Jahren berichtet, vgl. Seidenspinnerei im Verlagssystem (WeiachBlog Nr. 861 v. 17. Juni 2010) sowie Eine Lehranstalt für Seidenweberinnen (WeiachBlog Nr. 862 v. 18. Juni 2010).

Einen richtigen Boom gab es, nachdem der Landwirthschaftliche Verein Weiach in den 1840er-Jahren unter tatkräftiger Mithilfe des Weiacher Pfarrers Hirzel für das Pflanzen von Maulbeerbäumen sorgte, womit sich etwas später von der Raupe bis zum fertigen Stoff die ganze Produktionskette im Dorf befand. 1853 gab es in Weiach (nach Helene Baltensberger) sogar eine Ausbildungsstätte für Seidenweberinnen.

Im selben Jahr 1853 war es Pfr. Hirzel, der Louise Griesser Patteson getauft hat, die sich später in den USA als Tierbuchautorin einen Namen machte. Sie gibt in der (schon in den vergangenen Tagen in Auszügen vorgestellten) Autobiographie über ihre Jugend in der Schweiz einen persönlichen Einblick in den damaligen Erwerbszweig Seide.

Den betreffenden Abschnitt leitet Patteson mit einer wirtschaftspolitischen Betrachtung ein:

«In Switzerland handwork and home-made things are favored by the Government over factory products. People who make things in their own homes do not have to pay as high a tax as those do who make them on a large scale in factories. This is done to encourage people to be their own masters, instead of serving somebody who wants all the profits. For this reason many industries, such as weaving, knitting, braiding of straw, watchmaking, and wood-carving, are extensively carried on in homes, and every locality has some leading home industry.»

Eine sehr sinnvolle beschäftigungspolitische Massnahme. Heute würde diese Art von Selbstständigkeit von den AHV-Stellen wohl nicht mehr toleriert. Jedenfalls dann, wenn diese  Weberinnen, Strickerinnen, Strohflechter, Uhrenmacher und Holzschnitzer de facto im Home Office unter klaren Produktionsvorgaben eines immer gleichen Verlagsherren arbeiten (und von ihm auch die Rohseide beziehen). Anders sähe die Sache wohl aus, wenn sie glaubhaft machen könnten, dass das gesamte Risiko inklusive jenes der Nichtverkäuflichkeit der gewebten Stoffe an verschiedene Händler auf ihren Schultern lastete. Doch lesen wir weiter bei Patteson:

«The great home industry in my part of the country was silk-weaving, and it was pursued almost entirely by women. My Aunt Verena, Father’s older sister, had two daughters who were silk-weavers. Their looms were in a wing which had been added to their house for this especial purpose, and this room was to my childish notion the prettiest I had ever known. It was papered in blue and white, and the flowers were the lovely Swiss gentians. I loved to go there, too.»

Mit etwas genealogischer Arbeit in den Kirchenbüchern, kombiniert mit einem Blick in die Lagerbücher der kantonalen Gebäudeversicherung, könnte man nun wohl sogar herausfinden, wo sich das Haus dieser Tante Verena befand, in dessen Anbau mit Enzianmotiv-Tapete die Webstühle der beiden Töchter standen. Bei rund 40 Webstühlen, die es in dieser Zeit in Weiach gab, verwundert es nicht, dass diese beiden nicht die einzigen Bekannten der jungen Luisa Griesser waren, die sich als Seidenweberinnen betätigten:

«Another silk-weaver friend was Nenna, who had her loom in the living-room. The walls in her house were not so pretty as those at my cousins’; they were finished in wood, and looked dark and gloomy.
Every day Nenna sat at her loom, just as my cousins did, plying a shuttle from side to side. She made a web of silk, and so did my cousins, about once a month, as I heard them say. Every so often the three went away somewhere all dressed up, each carrying an immense roll of something on top of the head. It was the bolt of silk cloth that they had woven, and they were taking it to the city, five hours distant.

In those days distances were measured by hours, and an hour was about three American miles. Now distances are measured by the metric system.»

In der beschriebenen Zeit gab es noch keine Eisenbahn ins Zürcher Unterland. Man musste den Weg in die Stadt Zürich unter die Füsse nehmen, je rund fünf Stunden hin und zurück. Und wie in afrikanischen Ländern heute noch üblich mit den Waren auf dem Kopf. Das änderte sich erst am 1. Mai 1865, als die sog. Herdöpfelbahn ihren Betrieb aufnahm. Wer es sich leisten konnte, nahm ab Niederglatt den Zug.

Quelle und weiterführende Literatur
  • S. Louise Patteson: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co.,
    Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; 
    PDF, 11 MB] – S. 13-15.
  • Meier, Th.: Handwerk, Hauswerk, Heimarbeit. Nicht-agrarische Tätigkeiten und Erwerbsformen in einem traditionellen Ackerbaugebiet des 18. Jahrhunderts (Zürcher Unterland). Diss. Univ. Zürich. Chronos, Zürich 1986.

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