Montag, 8. März 2021

Mit vier kleinen Kindern in den Aargau abgeschoben!

«Jeder Schweizer kann sich an jedem Orte des Landes niederlassen.» (Art. 45  Abs. 1 aBV)

Wenn Sie um die 50 oder jünger sind, dann kennen Sie nichts anderes. Diese (heutzutage auch schon wieder veraltete) Formulierung mit generischem Maskulinum stand aber so erst seit dem 1. Januar 1979 in der alten Bundesverfassung von 1874, die 1999 durch die heutige ersetzt worden ist.

1848: Juden werden diskriminiert. Jesuiten gleich ganz verboten.

Wenn wir an den Beginn des Bundesstaates zurückgehen, also ins Jahr 1848, dann war dieses Recht noch nicht allen gegeben (vgl. die Bundesverfassung von 1848). Schweizer jüdischen Glaubens wurde es verweigert. Und auch christliche Schweizer mussten allerhand Bedingungen erfüllen, um sich innerhalb der Schweiz am Ort ihrer Wahl niederlassen zu dürfen.

«Keinem Schweizer, der einer der christlichen Konfessionen angehört, kann die Niederlassung in irgend einem Kanton verweigert werden, wenn er folgende Ausweisschriften besitzt:
a. einen Heimathschein oder eine andere gleichbedeutende Ausweisschrift;
b. ein Zeugniß sittlicher Aufführung,
c. eine Bescheinigung, daß er in bürgerlichen Rechten und Ehren stehe;
und wenn er auf Verlangen sich ausweisen kann, daß er durch Vermögen, Beruf oder Gewerbe sich und seine Familie zu ernähren im Stande sei.
Naturalisirte Schweizer [d.h. eingebürgerte Ausländer] müssen überdieß die Bescheinigung beibringen, daß sie wenigstens fünf Jahre lang im Besitze eines Kantonsbürgerrechtes sich befinden.» (Art. 41 Abs. 1 BV 1848)

«Der Niedergelassene kann aus dem Kanton, in welchem er niedergelassen ist, weggewiesen werden:
a) durch gerichtliches Strafurteil;
b) durch Verfügung der Polizeibehörden, wenn er die bürgerlichen Rechte und Ehren verloren hat, oder sich eines unsittlichen Lebenswandels schuldig macht, oder durch Verarmung zur Last fällt, oder schon oft wegen Uebertretung polizeilicher Vorschriften bestraft werden mußte.» (Art. 41 Abs. 6 BV 1848)

Juden mussten sich an den für sie vorgesehenen Orten (wie Lengnau oder Endingen im Aargau) niederlassen. Nur Jesuiten wollte man ganz und gar nicht dulden (vgl. Art. 58).

1874: Auch Juden geniessen jetzt das Recht auf frei gewählte Niederlassung

In der Totalrevision von 1874 wurden diese Bestimmungen im Art. 45 untergebracht. Und auch da gab es noch mannigfache Einschränkungen, wenn man nicht die nötigen finanziellen Mittel hatte oder  wiederholt wegen Vergehen bestraft worden bzw. armengenössig war:


Schweizer Juden wurden nicht mehr aufgrund ihres Glaubens benachteiligt. Jesuiten waren immer noch unerwünscht.

Bundesverfassung erzwingt Regierungsratsbeschlüsse

Im gestern veröffentlichten Beitrag über den Fall Albertine Gaido-Kessler (WeiachBlog Nr. 1627) wurde das armenrechtliche Argument ausländerrechtlich abgestützt. Im Falle der Abschiebung einer ganzen Familie aus Weiach in den Aargauer Heimatort des Familienoberhauptes (vgl. den letzten Abschnitt des Beitrags) wurde mit zwei Zitaten aus dem Weiacher Gemeinderatsprotokoll belegt, dass der Kantonsverweis für Albertine keineswegs ein Einzelfall gewesen ist.

Der Fall Zimmerli-Meier gipfelte in einem Regierungsratsbeschluss vom 10. April 1930, der diesen Verwaltungsakt besiegelt hat. Die Regierung durfte diesen Entscheid nicht an irgendeine kantonale Amtsstelle delegieren. Dass sie sich höchstselbst damit zu befassen hatte, war dem Wortlaut von Art. 45 Abs. 5 der Bundesverfassung geschuldet (s. oben), der auch vorsah, dass der Heimatkanton vorgängig zu orientieren sei.

Die Heimatgemeinde wird zum Zahlen gezwungen

Der RRB trägt den Titel «Heimschaffung» und zeigt auf, welche fatalen Folgen die Weigerung der Heimatgemeinde des Familienvorstandes für die gesamte mittlerweile sechsköpfige Familie hatte:

«Auf Antrag der Direktion des Armenwesens

beschließt der Regierungsrat:

I. Zimmerli, Paul, geboren 1902, dessen Ehefrau Gertrud geborene Meier, geboren 1902, und deren Kinder Elsa Gertrud, geboren 1924. Paul Alfred, geboren 1925, Nelli, geboren 1927, und Ernst, geboren 1928, von Safenwil, Kanton Aargau, wohnhaft in Weiach, werden gestützt auf Artikel 45, Absatz 3, der Bundesverfassung aus armenrechtlichen Gründen heimgeschafft.

Den Eheleuten Paul und Gertrud Zimmerli-Meier wird die Rückkehr in den Kanton Zürich ohne die ausdrückliche Erlaubnis der Direktion des Armenwesens unter Androhung der Überweisung an den Strafrichter im Falle des Ungehorsams (§ 80 des Strafgesetzbuches) untersagt.

II. Mitteilung an die Armenpflege und den Gemeinderat Weiach, die Direktion des Armenwesens, sowie durch Schreiben an den Regierungsrat des Kantons Aargau.» (StAZH MM 3.44 RRB 1930/0794)

Das genannte Strafgesetzbuch war noch das des Kantons Zürich (das eidgenössische StGB wurde erst 1937 beschlossen und trat am 1. Januar 1942 in Kraft). Man erkennt das auch daran, dass von Gesetzesparagraphen und nicht (wie auf Bundesebene üblich) von Gesetzesartikeln die Rede ist.

Am selben Tag hat der Regierungsrat übrigens entschieden (vgl. StAZH MM 3.44 RRB 1930/0795), gleich noch einen weiteren Aargauer in seine Heimat abschieben zu lassen: Otto Hoppeler-Maier von Hermetschwil, der zu diesem Zeitpunkt in der Heilanstalt Burghölzli (d.h. in der Psychatrie) einsass. Aus denselben armenrechtlichen Gründen und unter Berufung auf den nämlichen Verfassungsartikel wie bei der Familie Zimmerli-Meier.

Im Gegensatz zur früher oft gehörten Story, dass man als Armengenössiger immer in der Heimatgemeinde gelandet sei, war das oft nicht der Fall. War man ein sogenannt würdiger Armer, dann unterstützte einen die Heimatgemeinde auch am Ort des Aufenthalts. Nur die wirklichen Problemfälle wurden abgeschoben. Dafür sorgte schon der Umstand, dass die Regierung alles absegnen musste.

Quelle

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