Sonntag, 7. März 2021

Albertine Gaido-Kessler des Kantons Zürich verwiesen

Ja, Sie haben richtig gelesen. Des Kantons, nicht des Landes verwiesen. Was heute in der eidgenössischen Gesetzgebung geregelt ist und einen Gerichtsentscheid in Strafsachen erfordert (vgl. die Weisungen des Staatssekretariats für Migration), das war noch in den 1930ern teilweise kantonal geregelt. Das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer aus dem Jahre 1931 hielt in Art. 10 Abs. 1 fest:

«Der Ausländer kann aus der Schweiz oder aus einem Kanton nur ausgewiesen werden:
a. wenn er wegen eines Verbrechens oder Vergehens gerichtlich bestraft wurde oder wenn er durch schwere oder wiederholte Missachtung von Ordnungsvorschriften das Gastrecht missbraucht hat;
b. wenn er infolge Geisteskrankheit die öffentliche Ordnung gefährdet;
c. wenn er oder eine Person, für die er zu sorgen hat, der öffentlichen oder privaten Wohltätigkeit zur Last fällt oder mit Sicherheit demnächst dauernd zur Last fallen wird.»

In Absatz 3 wurden überdies die Ausweisung gemäss Bundesverfassung und durch strafgerichtliches Urteil explizit vorbehalten. 

Entsprechend konnte ein ausländischer Staatsangehöriger aus dem Kanton weggewiesen werden, allerdings nur in besonderen Fällen: «Die Ausweisung soll nur ausnahmsweise auf das Gebiet eines Kantons beschränkt werden.» (Art. 10 Abs. 2)

Wer einen Ausländer heiratet, verliert sein Schweizerbürgerrecht

Im Fall der gebürtigen Schwyzerin Albertine Gaido-Kessler aus den Jahren 1932 bis 1940 kommt noch ein weiteres Element hinzu. Die Bürgerrechtsgesetzgebung der Schweiz sah vor, dass eine Schweizerbürgerin, die einen Ausländer heiratet, automatisch ihr Bürgerrecht verliert, da sie ja nun dasjenige ihres Mannes erworben hatte. Das war schon seit Jahren so Usus, vgl. WeiachBlog Nr. 1607 über das Schicksal der Witwe Scheerli.

Und so kam es, dass die junge Albertine Kessler nach ihrer Heirat mit einem in Weiach ansässigen Italiener namens Gaido nun auch Ausländerin war. Sie wurde jetzt als Bürgerin von Issiglio angesehen, einer kleinen Gemeinde in den südlichen Voralpen des Piemont, etwa auf halbem Weg zwischen dem Matterhorn und Turin.

Alteingesessene Weiacherinnen und Weiacher kennen die Gaido als Schuhmacherfamilie, die in unserer Gemeinde zu einer Zeit tätig war, als Schuhe noch ein reparierbarer Wertgegenstand waren, der einem kundigen Handwerker ein Einkommen verschaffen konnte. Bis 1950 stellten sie oberhalb der Werkstatt von Albert Erb, d.h. an der Oberdorfstrasse 1, auch Schuhe her, und zwar von A-Z (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 101, Gesamtausgabe S. 394).

Noch jung, aber schon einiges auf dem Kerbholz

Mit einer Kantonsverweisung musste sich Ende der 30er-Jahre tatsächlich noch der Regierungsrat befassen. Die Regierungsratsbeschlüsse seit 1803 sind durch das Staatsarchiv des Kantons Zürich transkribiert worden und können von jedermann mit einem Internetanschluss im Volltext in der Archivdatenbank gefunden werden. Auch der Fall Albertine Gaido-Kessler. Mit voller Namensnennung und haarkleinen Details. Sollte die Betroffene noch leben, kann sie heute ihren 111. Geburtstag feiern.

Doch lesen Sie selbst, was in dieser sog. Präsidialverfügung steht:

«Gaido, Albertine, genannt Dina, geborene Keßler, Tochter des † Anton und der Rosa geb. Hofstetter, geboren am 7. März 1910 in Schübelbach, Kanton Schwyz, als ledig dort heimatberechtigt, verheiratet mit Domenico Gaido, getrennt lebend, keine Kinder, zuständig nach Issiglio, Italien, zuletzt wohnhaft gewesen in Weiach, zurzeit in Haft bei der Kantonspolizei Zürich, wurde im Mai und August 1932 von der Stadtpolizei Zürich aufgegriffen und wegen Geschlechtskrankheit in die dermatologische Klinik eingewiesen. Für die Spitalkosten mußte die zürcherische Staatskasse aufkommen. An diese Unterstützungsauslagen von Fr. 256.50 hat Frau Gaido bisher nichts zurückerstattet. Der Regierungsrat beschloß daher im Herbst 1932 aus armenpolizeilichen Gründen die Kantonsverweisung der Albertine Keßler. Wegen unerlaubter Rückkehr in den Kanton Zürich mußte sie einmal gerichtlich bestraft werden. Albertine Keßler verheiratete sich im Jahre 1935 in Siebnen mit Domenico Gaido, wodurch die frühere Ausweisung hinfällig wurde. Hierauf übersiedelte sie mit ihrem Mann zu dessen Eltern nach Weiach. Anfänglich ging Frau Gaido in die Fabrik [gemeint ist mutmasslich die Schäftenäherei Walder beim Bahnhof Weiach-Kaiserstuhl, allenfalls die Spinnerei Letten bei Rheinsfelden]. Sie erschien aber öfters unentschuldigt nicht zur Arbeit oder blieb unter Vorwänden davon fern. Sie verfiel bald wieder in ihren liederlichen Lebenswandel und trieb sich in dubioser Gesellschaft und vagierend herum. Ihrem Ehemann ist sie inzwischen davongelaufen, sodaß dieser jetzt das Begehren um Trennung eingereicht hat. Mitte Oktober 1937 wurde Frau Gaido verhaftet, weil sie wegen Logisgeldbetruges und wegen Unterschlagung von Schlüsseln gesucht war. Ferner wurde gegen sie wegen betrüglichen Erhebens von Kleidern von einem Warenhaus Strafanzeige erstattet. Das erste Verfahren wurde eingestellt, im übrigen wurde Frau Gaido am 18. Januar 1938 vom Bezirksgericht Zürich wegen einfachen Betruges im Betrage von Fr. 151.60 zu 3 Wochen Gefängnis verurteilt. Es erscheint somit geboten, Frau Gaido gestützt auf Artikel 10, Absatz 1, lit. a, des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 26. März 1931 dauernd aus dem Gebiete des Kantons Zürich auszuweisen.

Der Regierungsrat,
auf Antrag der Polizeidirektion und in Anwendung von Artikel 10, Absatz 1, lit. a, des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 26. März 1931, 
beschließt:

I. Gaido geb. Keßler, Albertine, genannt Dina, geboren am 7. März 1910 in Schübelbach, zuständig nach Issiglio. Italien, zurzeit in Haft bei der Kantonspolizei Zürich, wird dauernd aus dem Gebiete des Kantons ausgewiesen. Die Polizeidirektion wird mit dem Vollzug beauftragt.

II. Der weitere Aufenthalt im Kanton Zürich und das Wiederbetreten desselben ohne die Bewilligung der zürcherischen Polizeidirektion wird der Ausgewiesenen verboten unter Androhung der Überweisung an den Strafrichter zur Bestrafung gemäß Artikel 23 Absatz 1, des oberwähnten Bundesgesetzes vom 26. März 1931 (Gefängnis bis zu 6 Monaten und Buße bis Fr. 10000), sowie nachheriger polizeilicher Ausschaffung im Zuwiderhandlungsfalle.

III. Mitteilung an: a) Albertine Gaido-Keßler, in extenso durch die Polizeidirektion gegen Empfangschein, b) die Polizeidirektion. c) die Direktion des Armenwesens, d) das Polizeiamt Zürich, e) das Zentralkontrollbureau.
»

1932 war Albertine also – damals noch als Schweizerbürgerin  als Sozialfall aus dem Kanton Zürich ausgewiesen worden, hielt sich aber nicht daran. Solche Kantonsverweise waren durchaus nicht unüblich. Vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 110, Gesamtausgabe S. 447, wo aus dem Weiacher Gemeinderatsprotokoll zitiert wird:

«Arbeitsscheuer» Aargauer wird 1930 samt Familie abgeschoben

Im Bereich der Sozialfürsorge («Armenpflege» genannt) wehte damals ein scharfer Wind. Den bekam auch eine Weiacher Familie zunehmend zu spüren: «Lt. Bericht des Gemeinderates Safenwil [sei] Paul Zimmerli-Meier zur Säge Weiach wegen Vernachlässigung der Familienpflichten und arbeitsscheuem Lebenswandel zu warnen, damit später, sofern eine Besserung nicht eintreten sollte, Zimmerli in die Zwangsarbeitsanstalt versorgt werden könne. Ebenso soll demselben mitgeteilt werden, dass die Unterstützungen bis zur Wiederaufnahme von Arbeit sistiert werden.» (27. Juli 1929)

Der Kanton fackelte da nicht mehr lange: «Lt. Protokollauszug des Regierungsrates des Kt. Zürich von 10. IV. 1930 wird die Familie Zimmerli-Meier von Safenwil Kt. Aargau wohnhaft in Weiach aus armenrechtlichen Gründen aus dem Kanton Zürich ausgewiesen.» (26. April 1930)

Die Zürcher Verwaltung liess im Fall Albertine Gaido-Kessler den Regierungsrat eine unbefristete Ausweisung aus dem Kanton Zürich verhängen. Sozusagen ein Rayonverbot für den ganzen Kanton. Sollen sich andere Kantone mit dieser missratenen Person herumschlagen, zum Beispiel ihre alte Heimat Schwyz. Wie man anhand einer Akteneinheit im Staatsarchiv Luzern erahnen kann, hielt sich Albertine 1939 und 1940 in Luzern auf und muss auch dort negativ aufgefallen sein.

Dass seitens der Zürcher nicht gleich ein Landesverweis aus der Schweiz erfolgte, ist wohl auch dem Umstand zu verdanken gewesen, dass Albertine gebürtige Schweizerin war und womöglich nicht einmal der italienischen Sprache mächtig gewesen ist. Gewissermassen mildernde Umstände also.

Quellen
  • Kantonsverweisung. Regierungsratsbeschluss Nr. 177 vom 25. Januar 1938. Signatur: StAZH MM 3.56 RRB 1938/0177.
  • R 5874 Kessler Albertine, Luzern, von Italien, 1939-1940. Ausweisungen im Jahr 1940. Signatur: StALU A 1326/288 im Staatsarchiv des Kantons Luzern.
  • Weitere Materialien unter dem Aktenzeichen N02383, Signatur: BAR E4264#1985/196#1763* im Bundesarchiv Bern. Diese Akten des Bundesamts für Polizeiwesen aus den Jahren 1938-1940 wurden 1985 abgeliefert und unterliegen keinen Zugangsbeschränkungen mehr.

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