Donnerstag, 21. April 2022

Schüler sitzen nur die Zeit ab. Fürs Leben lernen sie nichts.

Plakativ-provokativer Titel, nicht wahr? Aber er ist nicht nur dazu gedacht, Sie zum Klicken animiert zu haben (Fachbegriff: Click-bait). Nein, er soll zeigen, dass der Kampf gegen solche Missstände ein zeitloser ist. 

«Hergegen soll eine Öfentliche Schule so eingerichtet seyn, daß kein Schüler gezwungen sey, Dinge zu lernen oder nur mit anzuhören, die ihm nach seiner Bestimmung nichts nützen können. Dadurch wird der große Fehler vermitten [vermieden] werden, daß die Jugend Sich nicht angewöhnt, ganze Stunden an einem Orte zu sitzen und zuzubringen, ohne einmal zu wißen, warum sie da sind, Welches der schändlichste Müßiggang ist.»

In diesen mehr als deutlichen Worten prangert ein Experten-Gutachten vom 9. August 1765 (also vor etwas mehr als 250 Jahren) die Missstände an den öffentlichen städtischen Schulen an. 

Bestellt hatten sie es zwar nicht. Und es wird wohl auch nicht allen gefallen haben. Aber ob die Herren Regierungsmitglieder des Zürcher Stadtstaates (damals Kleiner Rat genannt) das nun vorgetragen hörten oder gar selber gelesen haben: Dem einen oder anderen dürfte wohl schon geschwant haben, dass die geschilderten Probleme mit der Praxistauglichkeit in ähnlicher Form auch an den Schulen auf der Landschaft vorzufinden sein würden. 

So kam es dann 1771/72 zu der bekannten Zürcher Schulumfrage, mit der eine kantonsweite Bestandesaufnahme vorgenommen wurde (für Weiach in StAZH E I 21.9.16; vgl. auch die bisherigen WeiachBlog-Artikel in den Quellen- und Literaturangaben unten).

Lateinschulen taugen nur für die Ausbildung von Lehrern und Pfarrern

Was die (notabene der Zürcher Geistlichkeit angehörenden) Experten da kritisierten, war der Betrieb an der zu Zeiten der Reformation programmatisch zurechtgezimmerten sog. Lateinschule. Sprachen- und literaturlastig war die Ausbildung dort und sie sei bestenfalls für die Ausbildung von Lehrkräften und Theologen von Nutzen, so der Befund der Experten. Wenig verwunderlich: Seit den Zeiten Zwinglis waren damals ja auch schon 250 Jahre ins Land gezogen.

Auf den oben zitierten Absatz setzen die «Verordneten zur Lehre» (also die genannten Experten) im späteren Verlauf ihres Papiers gleich noch einen drauf:

«Das schlimmste aber dabey ist wol dieses, daß ein großer Theil der Schüler die beste Zeit Jhrer Jugend mit Solchen Sachen zuzubringen gezwungen werden, die weder auf Jhre Sitten, noch auf ihren könftigen Stand und Beruff nicht die wenigste [geringste] Beziehung oder Einfluß haben. Hergegen dasjenige versaumt wird, was im Gemeinen Bürgerlichen Leben bey Handwerken, Künsten und Profeßionen unentbehrlich oder doch höchst nützlich ist. So daß ein Junger Mensch wol 9 bis 10 Jahre die Schule frequentieren und durchlauffen kan, in welcher ganzen Zeit er wenig oder nichts von alle dem hört, lernt oder weiß, was Jhm als einem Burger, als einem Regenten, Handwerker, Kaufman, Künstler, zu seinem Künftigen Stand und Beruff nur einigermaßen vorbereiten oder Tüchtiger machen könnte; zu geschweigen, daß er indeßen in einer so langen Zeit mancherley schädliche Vorurtheile und schlimme Habitus annehmen muß und wird, die Jhn zu seinen Absichten ganz ungeschikt, und andern Leüten beschwerlich machen.»

Der Stand war im Ancien Régime noch sehr wichtig. Ein Sohn eines für die Regierungsgeschäfte als geeignet angesehenen Stadtherrn (aus sogenannt regimentsfähiger Familie) musste nach den damaligen Vorstellungen eine andere Ausbildung erhalten als der Spross eines einfachen Handwerksmeisters. Oder gar ein Bauernsohn vom Land. In seinen Stand war man nach den dermaligen, mit der Aufklärung gerade obsolet werdenden, Vorstellungen der Oberschicht hineingeboren und hatte sich damit abzufinden.

Aber selbst unter Berücksichtigung des gerade genannten Umstandes: Wenn man das liest und dann hört, dass heutigentags reguläre Abgänger selbst von Sekundarschulen und Gymnasien wenig bis gar nichts von konkreten Geldangelegenheiten, dem Ausfüllen von Steuererklärungen, der Funktionsweise von Arbeitsmärkten, ja letztlich nicht einmal von grundlegenden politischen Vorgängen verstehen, dann kann man sich etwa vorstellen, wie diese Gutachter – lebten sie in unserer Zeit – die Lehrleistung der Schulen des 21. Jahrhunderts zerpflücken würden. Als «Leerleistung» etwa?

Wenn die Schule funktioniert, dann klappt's auch mit dem Gemeinwesen

Was sollen also die Schulen letztlich hervorbringen, was kann ihr optimaler Nutzen sein? In den Worten der Gutachter:

«Wann eine Schule wolbestellt, und darinne eine rechte Disciplin gehalten wird, Lernen die Knaben nicht allein die Pensa, so dort tractiert werden; Sondern sie gewöhnen Sich auch an die Obedienzen, an den schuldigen Respect gegen Jhre Vorgesetzten, An eine mitburgerliche Gleichheit, an die Arbeitsamkeit, an ein ordentliches Leben. Sie sehen, daß nicht die Geburt oder Reichthum, oder etwas Äußerliches, sondern der Fleiß und die Fertigkeit im Guten einem vor dem Andern einen Vorzug gebet, und ihn bey Andern angesehen und Achtungswürdig machen kann und soll. Welches alles ein Institutione privata gemeiniglich vermißet wird, zumahlen wenig Eltern die Mühe nehmen, oder die Fähigkeit haben, dergleichen Sachen, die doch den Bürgern einer freyen Republik so nothwendig sind, einzuschärffen.»

Man ergänze die Knaben noch um die weibliche Hälfte der Jugend (und wenn man partout gendermainstreamen muss, dann halt auch noch um die diversen Splitteranteile). Dann wäre das hier  – wiewohl etwas antiquiert formuliert – doch eine ganz nützliche, zielführende Vorgabe für das geistig-moralische Fundament unserer Schulen und ihrer Lehrpläne, finden Sie nicht? 

In diesem Sinne: Es lebe die freie Republik!

Quellen und Literatur

  • Eingabe der Verordneten zur Lehre 1765 als Anstoss zur grossen Zürcher Schulreform der 1770er Jahre. Transkription eines Papiers vom 9. Augstmonat 1765 im Konvolut StAZH E I 2; Signatur: E I 20, Nr. 5.5.15 [Transkriptionen zürcherischer Quellen durch Meinrad Suter, sen.(https://www.zuerich-geschichte.info)]
  • Zürcher Schulumfrage 1771/72. Antworten für Weiach. Signatur: StAZH E I 21.9.16.
  • WeiachBlog-Artikel zum Thema Schulumfrage 1771/72:
    • Sommerschulen bringen «gar grossen nuzen», 1771/72  (Nr. 1548 v. 19. Juli 2020)
    • Martini: Schulbeginn und Zinszahlungstermin // (Nr. 1609 v. 11. November 2020)
    • Dreihundert Jahre Weiacher Schulhäuser // (Nr. 1737 v. 5. September 2021)
    • Rechnen lernten die Weiacher Schüler vor 250 Jahren nicht // (Nr. 1769 v. 17. November 2021)
    • Wie gross waren die Schulklassen vor 250 Jahren? // (Nr. 1797 v. 13. März 2022)

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