Samstag, 7. Mai 2022

Züri-Metzgete 1922. Auf Schotterpisten durch Weiach.

Nein, mit einer kulinarischen Köstlichkeit hat diese Metzgete nichts zu tun. Der populäre scherzhafte Übername des offiziell «Meisterschaft von Zürich» (MvZ) genannten Radklassikers kommt aber nicht von ungefähr, denn aus den Anfangszeiten wird über üble Stürze mit offenen Wunden berichtet.

Die erste Austragung der Metzgete, organisiert als Fundraising-Event, um die Beschaffung von Sportanzügen finanzieren zu können, war 1910 noch eine Ausmarchung unter Amateuren. 

Seriensieger aus dem Wynental

Schon bald startete auch die Kategorie «Professionels». Rekordsieger der Königsklasse an der Züri-Metzgete ist der Aargauer Heiri Suter (1899-1978), der 1919, 1920, 1922, 1924, 1928 und 1929 zuoberst auf dem Podest stand und 1923 Zweiter wurde. 

Suter war ein ausgesprochener Klassiker-Spezialist, der nur Eintagesrennen fuhr. Das könnte darauf hindeuten, dass er daneben noch für den Broterwerb arbeitete und trotz der Bezeichnung seiner Kategorie kein Vollprofi im heutigen Sinne gewesen ist.


Bild: Totaler Schweizer Triumph beim Eintagesrennen ParisTours 1926. Sieger wurde Heiri Suter, Zweiter Kastor Notter; dieselbe Konstellation wie schon bei der Züri-Metzgete 1924. 
Man beachte die erstaunlich moderne Technik der Vorderräder mit Schnellspannern! Kein Wunder bezeichnete sie der NZZ-Korrespondent als «Maschinen» (s. unten).
(Quelle: Bibliothèque Nationale de France; BNF Gallica)

Die NZZ war am 7. Mai im Begleitauto live dabei

Wie die Neue Zürcher Zeitung in ihrer Ausgabe vom 8. Mai 1922 berichtete, führte die Strecke heute vor 100 Jahren über Weiach. Aufgrund des Streckenverlauf darf man davon ausgehen, dass die Fahrer von Glattfelden kommend beim Gasthof Sternen links abbogen, um über den Kistenpass Richtung Kloten zu pedalen:

«Die Radmeisterschaft von Zürich wurde Sonntag den 7. Mai zum 11. Male ausgetragen. Nicht weniger als 527 Meldungen waren dazu eingegangen; annähernd 600 von den Gemeldeten [vgl. unten den Nachfolgeartikel vom 13. Mai, wo die Zahlen plausibler sind] stellten sich am Sonntag früh halb 5 Uhr auf dem Milchbuck dem Starter, von denen mehr als 300 das Rennen beendeten. Dem Start wohnten trotz der frühen Morgenstunde etwa 3000 Zuschauer bei; bei der Ankunft der Fahrer, deren einzelne Kategorien zwischen 8 und 9 Uhr einliefen, hatte sich diese Zahl zum mindesten vervierfacht, ein sprechendes Zeichen der Popularität des Radrennsportes in Zürich. 

Die Rennen verliefen ohne größeren Unfall; kleinere Defekte an Fahrern und Maschinen sind bei einer solchen Massenbeteiligung nicht zu vermeiden. Um 4 Uhr 50 [MEZ; da wird es um diese Jahreszeit grad hell] gingen die Junioren auf die Reise, um 5 Uhr die Senioren, um 5 Uhr 05 die Veteranen, um 5 Uhr 30 die Professionels, um 5 Uhr 40 die Anfänger; die Professionels und Senioren mußten eine Strecke von 100 Km. über Dübendorf, Illnau, Winterthur, Berg, Weiach, Kloten, Schwamendingen erledigen, die Junioren 79,2 Km., die Veteranen und Anfänger 50,3 Km. 

Der Berichterstatter fuhr im Auto das Rennen der Professionels mit und wird darüber noch näher berichten. Der Favorit Heinrich Suter, der letzten Sonntag im internationalen Straßenrennen Paris-Tours mit 5 Zm. (!) Rückstand Zweiter gegen die besten französischen und belgischen Straßenfahrer wurde, siegte hier im Endspurt, nachdem einige von ihm unterwegs unternommene Durchbrennversuche an der Wachsamkeit der Konkurrenten scheiterten.»

Beim Eintagesrennen Paris–Tours 1922 wurde Suter sozusagen um Haaresbreite (5 cm auf fast 350 km) von Henri Pélissier geschlagen. Besonderes Aufsehen erregte der Sieg von dessen Bruder Francis ein Jahr zuvor «beim 342 Kilometer langen Paris–Tours im Jahre 1921, dem „schwersten Rennen aller Zeiten“: Wegen eines Schneeeinbruchs, starkem Regen und Wind kamen von 85 Startern nur acht Fahrer ins Ziel, der letzte 4 Stunden und 21 Minuten nach dem Sieger Pélissier, der sich in zwei dicke Capes gehüllt und 14 Stunden und 56 Minuten benötigt hatte.» (Wikipedia-Eintrag Francis Pélissier) 1926 und 1927 gelang es Heiri Suter, diesen Klassiker als Sieger zu beenden.

«Die von Redakteur H. Buchli als Präsident des Preisgerichts um 1 Uhr in Oerlikon vorgenommene Preisverteilung, für die ein reichhaltiger Gabentisch zur Verfügung stand, machte mit folgenden Resultaten bekannt: 

Professionels (20 Prämiierte): 1. Suter Heinr. (Gränichen) 3:16:36. 2. Gehrig Herm. (Basel). 3. Krauß Louis (Genf). 4. Widmer Otto (Genf). 5. Martinet Jean (Genf). 6. Guignet Alphonse (Lausanne). 7. Straßer E. (Rheinfelden). 8. Dreßler Adolf (Baden). 9. Vuille Henri (Pieterlen). 10. Brütsch Hans (Ramsen).»

Der Sieger Heiri Suter war also mit durchschnittlich 30.53 km/h unterwegs. Zum Vergleich: Der Klassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich ging 2022 mit 41.53 km/h Siegergeschwindigkeit über die coupierte Strecke mit vielen ruppigen Steigungen.

«Amateur--Senioren (34 Prämiierte): 1. Lonardi Viktor (Zürich) 3:8:43. 2. Notter Kastor (Niederrohrdorf). 3. Hunziker P. (Gränichen). [...]  Veteranen (16 Prämiierte): 1. Egli Wilh. (Zürich) 1:36:09. 2. Müller Adolf (Wettingen). 3. Bühler Jos. (St. Urban). [...] Amateur— Junioren (52 Prämiierte): 1. Graf Gustav (Zürich) 2:26:42. 2. Balzan Angelo (Obergösgen). 3. Meier Erwin (Hedingen). [...] Anfänger (93 Prämierte): 1. Frey Hch. (Zürich) 1:36:19,4. 2. Vollenweider Walter (Gunzgen). 3. Baumgartner Aug. (Leibstadt). [...] »

Gefährliche Schotterpisten. Wenn Radrennen Staub aufwirbeln

Wie im Beitrag vom 8. Mai angekündigt, wurde der ausführliche Rennbericht nachgeliefert; in der NZZ vom 13. Mai 1922: 

«Vergangenen Sonntag kämpften die Radfahrer der Ostschweiz um die Meisterschaft von Zürich. Gegen 600 Anmeldungen liefen ein, annähernd 500 Mann starteten in fünf Abteilungen. Bedarf es da noch eines Kommentars, um die Beliebtheit des Radsportes zu beweisen? Das Wetter war so ideal, daß schon am Morgen um 4 Uhr annähernd 3000 Personen auf den Milchbuck hinaufeilten, um beim Start dabei zu sein. Jeder Konkurrent hatte irgendeinen guten Freund in der Nähe seines Rades, der ihm die letzten Ratschläge gab, ob es ein Veteran, Junior, Senior, Berufsfahrer oder Anfänger war. Wie immer, so hatte auch diesmal der Zürcher Radfahrerverband wieder zuverlässige Arbeit geleistet; prompt erfolgte der Aufruf, waren die großen Kolonnen entlassen, und bald verkündete nur noch eine Staubwolke gegen Schwamendingen, daß die wilde Jagd begonnen hatte. Mit kreuzweis über Brust und Rücken gewundenen Ersatzschleuchen, in leichter Kleidung, an die Gabel des Rades Flaschen mit Tee oder Kaffee gebunden gingen die Fahrer auf die Reise und pedalten ihre 100, bezw. 80 und 50 Kilometer ab. Strahlend ging die Sonne auf, und in Dübendorf umkreisten die wackern Flieger in zeitiger Arbeit das Flugfeld und begleiteten uns, die wir in einem Auto die 25 Mann starke Gruppe der Berufsfahrer verfolgten, eine Strecke weit. Jene Tage der glorreichen Straßenrennen Zürich-München wurden in mir lebendig, da ich drei Stunden lang hinter der Kopfgruppe fuhr und Tritt für Tritt ihres Kampfes verfolgte. Aber die erhofften großen Sensationen blieben diesmal aus: Die Kopfgruppe verkleinerte sich zwar ab und zu um einige Fahrer, aber dem Favoriten in der Menge, dem besten Straßenfahrer, den die Schweiz heute besitzt, Heinrich Suter, der acht Tage vorher mit einem Rückstand von nur fünf Zentimeter im klassischen Straßenrennen Paris-Rouen [korrekt: Paris-Tours] Zweiter wurde und die ersten Größen der Landstraße schlug, wollte es nicht gelingen, das Feld auseinanderzureißen, auch nicht in den für Durchbrennversuche besonders geeigneten „Stichen“ von Gutenswil, von Berg [am Irchel] und an der Wagenbreche. Die Meute gab auf die große Kanone „Heiri“ verzweifelt acht, und jeder seiner berühmten harten Tritte in die Pedale, begleitet von einer katzenbuckeligen Bewegung, wurde sofort entdecktt und mit gleichen Rennpraktiken erwidert. Die Berufsfahrer fuhren im Durchschnitt nicht besonders rasch, teilweise sogar im Bummeltempo. Aber was ein Straßenfahrer zu leisten vermag, zeigte die kurvenreiche Talfahrt hinter Berg zur römischen Bogenbrücke nach Freienstein hinunter, wo in wilder Jagd das Feld sich plötzlich auseinanderzog und in einem Tempo von mindestens 60 Kilometer die Tiefe erreichte. Wir vermochten mit unserm flinken Auto, durch die zahlreichen Kurven verhindert, dieses Tempo nicht zu halten und stießen auf die Kopfgruppe erst hinter Rorbas wieder, erstaunt feststellend, daß fast alles noch dicht beieinander war. Ein Massensturz, teilweise verursacht durch ein paar lümmelhafte Motorradfahrer, die den Schwanz der Kopfgruppe außerordentlich gefährdeten, verlief glimpflich, bald nachher verstärkte sich aber die noch aus vierzehn Mann bestehende Führung um weitere vier Mann, die schon früher abgehängt worden waren, die sich aber wieder ans Feld heranarbeiten konnten. Von Niederglatt weg wußten wir, daß der Endspurt diesmal entscheiden werde, und eifrig erörterten wir die Chance der einzelnen Fahrer. Die deutsche Schweiz war durch Heinrich und Max Suter ausgezeichnet vertreten, auch der Basler Gehrig hatte das Zeug, bei den letzten Metern mitzureden, aber für Suter gefährlich waren besonders die beiden Martinet aus Genf, der Genfer Maffeo, Sieger des letzten Jahres, und Krauß, Widmer und Grandjean aus der gleichen Stadt. Eine Kopfgruppe von 16 Mann lag in Schwamendingen noch beisammen, und bei verschärftem Tempo nahmen sie die letzte große Steigung zum Ziel auf den Milchbuck hinauf in Angriff, dieses leider garniert mit einem wüsten Schotterfeld, etwa 100 Meter vor dem Zielband. Es wäre sehr interessant gewesen, den Endkampf aus der Position hinter der Kopfgruppe zu verfolgen, aber wir befürchteten, daß das plötzliche Heransausen einer so großen Fahrermenge am Ziel Komplitationen im Gefolge haben könnte und eilten voraus, um die letzten Winke für eine breite Einfahrtsstraße zu geben. Kaum waren wir aus dem Auto gesprungen und hatten das nahe Eintreffen verkündet, wälzte sich von der Tiefe herauf schon der Jubel der Menge. „Heiri! Heiri!“ tönte es, und plötzlich schoß mit einem Vorsprung von etwa zehn Metern der berühmteste Gränicher kappenlos, zusammengeduckt wie eine Katze, das bestaubte Gesicht tief über die Lenkstange gebeugt, als Sieger durchs Ziel, dichtauf von Gehrig, Krauß, Widmer und Jean Martinet gefolgt. Max Suter, der Bruder, hatte das Unglück, im Schotterfeld mit vier Kameraden zu stürzen, und so verloren er und die andern Pechvögel einen guten Platz. Begeistert wurde der Sieger gefeiert, er, die Hoffnung der großen schweizerischen Radfahrergemeinde für das internationale Rennen der kommenden Pfingsttage Zürich-Genf-Zürich! Wenige Stunden, nachdem diese Zeilen erscheinen, rast er schon wieder in Frankreich in einem Straßenrennen durch die Welt, als einer, der, wenn er sich einmal zur Ruhe setzt, von seinen Reisen viel erzählen kann. Von der Landschaft hat er zwar nicht viel dabei gesehen, aber von Regen und Wind, Kälte und Staub, Hinterlistigleiten der Konkurrenz, Mühen und Beschwerden, Siegen, Preisen und Enttäuschungen wird er vieles zu berichten wissen, als einer, der ein großes Stück der Welt auf seinen kräftigen Beinen durchzog.»

Quellen

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