Sonntag, 10. Juli 2022

Wenn man dem lebenden Bäbi die Haare schneidet

In den 1921 gedruckten Kindheitserinnerungen der aus Weiach in die USA ausgewanderten Susanna Louise Patteson (geborene Luise Griesser, 1853-1922; vgl. WeiachBlog Nr. 1487 und folgende) finden sich viele kulturhistorisch und familiengeschichtlich bedeutsame Hinweise auf die örtlichen Verhältnisse in ihrer alten Heimatgemeinde.

Luise wohnte an der Büelstrasse 10 auf der Höhe der Einmündung der Luppenstrasse. Und ihr Zuhause war offensichtlich ein für Kinder attraktiver Spielplatz: 

«Vreneli, Setti, and Lizzie often came to my house to play. I was nearest to a brickyard where we got our clay for making mud-pies.» (S. 26)

Mit diesem «brickyard» ist die ehemals obrigkeitliche Ziegelhütte gemeint, die an der Stelle stand, wo sich später das Näpferhüsli befand (heutiger Standort der Gemeindeliegenschaft Luppenstrasse 2).

Auf diesem alten Kärtchen von 1831 sind die obrigkeitlich privilegierten Betriebe mit Signaturen eingetragen. Der Gasthof Sternen (disloziert 1830) ist noch an der Verzweigung Oberdorfstrasse-Winkelstrasse (südlich der Kirche) eingezeichnet, die Mühle im Oberdorf an der korrekten Stelle, die Ziegelhütte im Büel ebenfalls.

Schnipp, schnapp

Ausser mit der Herstellung von Lehmkuchen befassten sich die vier Mädchen vorzugsweise damit, «Familie» zu spielen: Vater, Mutter, Kind und Anverwandte. Es fehlte nur noch das kleine Kind. Aber auch das fand sich in der nächsten Umgebung:

«Playing “house” was one of our favorite pastimes. I would be the mother, Vreneli the father, because she was taller than I, Setti and Lizzie the aunts. We used to borrow a neighbor girl to be our baby. In Switzerland a family is often named after the trade of the father, or after some peculiar trait of an ancestor. The little girl we used to borrow was known as “Brod-Hanse Mari,” because her father’s name was Hans, and he at one time had been a dealer in bread — Brod. Mari had long blonde curls, and one day we girls concluded that they were too long. I got the scissors and Vreneli held Mari while I trimmed those curls to suit our taste.» (S. 26)

Beim Wasserholen eingeladen

Wie alles im Leben, so hatte auch diese doch recht eigenmächtige Aktion ihre Folgen:

«Soon after that one day I met Mari’s mother coming from the village fountain, and carrying a “gelte” of water on her head. Mari was walking beside her with a tiny gelte of water also on her head. A gelte is similar to a small tub, and different sizes are made for old and young, of both wood and copper. Mari’s mother invited me most cordially to go home with her. I did so, and when we got inside she closed the door, gave me a terrible spanking and sent me home saying, “I guess you know what it’s for.”» (S. 27)

Wie es so schön heisst: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Und auch wenn das heute nicht mehr als angemessen gelten würde: Diese von der Mutter des unfreiwillig coiffierten kleinen Mädchens – wohl auf Luises Hintern – verabreichten Schläge dürften die Zustimmung ihrer Erziehungsberechtigten gefunden haben. Es ist daher nicht sehr wahrscheinlich, dass Luise sich daheim über diese Art der Bestrafung beschwert hat.

Kulturhistorisch von Interesse ist die Schilderung, wie Mari und ihre Mutter das Wasser vom Dorfbrunnen in auf dem Kopf balancierten Gelten aus Holz oder Metall nach Hause tragen mussten. In der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Weiach noch keine Hauswasserversorgung; das erste Leitungsnetz mit Hausanschlüssen wurde erst 1877 gebaut.

Da dem WeiachBlog-Autor noch unbekannt ist, um welche Familie es sich bei den «Brodhanse» gehandelt hat, gibt es auch keinen Hinweis, von welchem Brunnen aus sie das Wasser geholt hat.

Zum Spielen weniger geeignete Heimstätten

Warum Vreneli, Setti, Lisi und Luise weniger bei den drei erstgenannten spielten, erklärt die Autorin gleich anschliessend an die Schilderung der Strafaktion.

«Once in a while we played in Vreneli’s house. She was almost as near to the brickyard as I was, but she had a fretful grandmother and we never stayed there very long.» (S. 27)

Die quengelige Grossmutter hat die spielende Mädchenschar also vertrieben. Hier kommen nur wenige Häuser im Büel infrage, die alle nahe bei der Ziegelei gestanden haben. Die fraglichen Familien sollte man daher mit etwas Recherchieraufwand eruieren können. Dann dürften auch Vreneli, Setti und Lisi ihre Nachnamen erhalten und sich in Stammbäumen einordnen lassen.

«At Lizzie’s house it was unpleasant because her father had his tinker shop in the living-room and it was full of queer odors. In cold weather sometimes also the cow was bedded in there in a corner. Many a time I have seen her there with a dear little calf beside her.» (S. 27-28)

Die Kesselflicker-Werkstatt von Lizzies Vater befand sich also in der Stube und dass es da von Metalldämpfen und dergleichen gerochen hat, ist leicht vorstellbar. Wie viele andere in Weiach hielt auch diese Familie zu Selbstversorgungszwecken eine einzelne Kuh, die dazu regelmässig gedeckt werden musste. Kuh und Kalb hatten offenbar keinen wintertauglichen Stall, sodass sie bei Kälte ebenfalls in der Stube lebten. Und da beim Heizen mithalfen.

Auch die Heimstätte der dritten Freundin Setti eignete sich nicht zum Spielen. Denn dabei dürfte es sich um den ehaften Gasthof zum Sternen gehandelt haben, dessen Gebäude sich seit den 1830ern am heutigen Standort befinden:

«Setti lived at the inn, where there were always many people, so, taking it all around, my home was the best to play in.» 

Quellen

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