Freitag, 22. Juli 2022

Eidg. Schützenfest 1872 überfordert die Herdöpfelbahn

Die «Herdöpfelbahn» war ab 1865 die erste Eisenbahnverbindung des Zürcher Unterlands in die Limmatmetropole. Offiziell hiess sie Bülach-Regensberg-Bahn (nach den beiden Bezirkshauptorten) und führte ab Oerlikon nach Oberglatt, wo sie sich Richtung Dielsdorf bzw. Bülach verzweigte (vgl. WeiachBlog Nr. 1650 zur Eröffnung des Unterländer Ypsilons). 

Die Nordostbahndirektion hatte sie auf Betreiben der Unterländer mehr zähneknirschend als freudestrahlend erbauen lassen und das dorthin abgestellte Rollmaterial war eher bescheiden gehalten. Denn: was wollte man an Transporteinkünften auch erwarten aus einer rein landwirtschaftlich geprägten Region. Der NOB ging es schliesslich um den Profit. 

Die Rafzerfelder stürmen die Bahnwaggons

Zu besonderen Anlässen hätte die NOB allerdings durchaus Umsatz machen können. Nur fehlte es dann wohl hinten und vorne an der Kapazität. Das lässt ein Ausschnitt aus der Monographie von Dr. Rainer Siegenthaler über dieses Bähnchen vermuten. Er stützt sich auf (mittlerweile 150 Jahre alte) Zeitungen und schreibt:

«Vom 13. bis 23. Juli 1872 brachte das 24. Eidgenössische Freischiessen in Zürich beträchtlichen Personnenverkehr auf die B.R.: 

«Über das Eidgenössische Schützenfest hat unsere Gegend ihrer Bahn den Namen «Erdäpfelbähnli» abgeschafft. Sie konkurrierte flott mit den grossen Bahnen, man muss sie gesehen haben, die Menge Volkes, welche dem Bülacher Bahnhof zuströmte. Vornehmlich haben die Rorbasser Talbewohner Zeugnis, dass der Weg nach Zürich sie in gerader Linie über Bülach führt. Die Rafzerfelder zeigten in grosser Zahl, wie erwünscht ihnen eine Fortsetzung der Linie von Bülach nach Schaffhausen sei, oder dass wenigstens die von Winterthur beanstandete Linie Embrach-Bülach-Eglisau baldmöglichst ausgeführt werde. (*)»

Aus Schaden klug: Weycher und Stadler setzten nicht auf die Eisenbahn

Schon bei dieser Einleitung kann man sich etwa ausmalen, wie gross der Ansturm gewesen sein muss. Das galt besonders für die beiden Sonntage, den 14. und den 21. Juli:

«Am 21. Juli 1872 sollen in der Frühe gegen 400 Personen aus Niederglatt, Stadel oder Weiach per Wagen zum Schützenfest gewallfahrtet sein, weil sie vor 8 Tagen in Niederglatt ergrämt von 6 bis 9 Uhr warten mussten. Und sie hatten recht. Es wäre ihnen am 21. wieder gleich gegangen, denn schon in Bülach füllten sich um 6 Uhr morgens 26 Wagen mit Passagieren. Es war ein Zug, der im Bahnhof lange nicht ganz einfahren konnte und der Abend führte in drei ebenfalls gewaltigen Zügen die voll Freude gestimmten Festbesucher wieder den heimischen Dörfern zu.»»

Die erwähnten 400 Personen entsprachen damals rund einem Fünftel der Gesamtbevölkerung dieser drei Gemeinden (unter der Annahme, dass Raater, Schüpfemer und Windlemer auch mitgezählt wurden, obwohl zwischen 1840 und 1907 von Stadel separate Gemeinden). Auch nicht so klar ist, in welchem Bahnhof der NOB-Zug aus Bülach nicht einfahren konnte. In Zürich HB?

Leider gibt Siegenthaler nicht an, aus welcher Zeitung er obiges Zitat entnommen hat (mögliche Kandidaten wären da die Bülach-Dielsdorfer Wochen-Zeitung, der Bülach-Dielsdorfer Volksfreund, oder auch der Lägernbote. Und das ist noch längst nicht alles. Denn damals gab es noch eine grosse Fülle von regionalen Blättern – trotz kantonsweit lediglich rund 300'000 Einwohnern, d.h. 20 % der heutigen Zahl.

Kein billiges Vergnügen, aber dafür wenigstens ein Sitzplatz

Auch für die nachstehenden Inseratinformationen mangelt es an einer Herkunftsangabe: «Ausser einem Extrazug der NOB für den 14. und 21. Juli 1872 inserierten Fuhrhalter Fahrgelegenheiten ab Kaiserstuhl um 04.50 Uhr morgens für 1.50 Fr. und ab Weiach 4.30 morgens für 1.20 Fr., beide boten Rückfahrgelegenheit am Abend.»

Diese 120 Rappen von vor 150 Jahren würden heute nach dem Historischen Lohnindex (HLI) von Swistoval.ch rund 70 Franken entsprechen. Es war also nicht gerade billig, sich zu frühester Morgenstunde an die Limmat kutschieren zu lassen. Wollte man aber nicht die ganze Strecke zu Fuss gehen (weil man in Niederglatt stehengelassen wurde), dann blieb halt nur ein beherzter Griff ins Portemonnaie.

Quelle

  • Siegenthaler, R.: Die Bülach-Regensberger-Bahn (B.R.). Dampfeisenbahn II. Classe im Volksmund «Herdöpfelbahn» genannt. 30. April 1865 - 31. Dezember 1876. Der Anfang der heutigen S-Bahnlinie 5. Akeret Druck, Bülach 2007 [Broschüre 12 S.] – S. 10.

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