Freitag, 24. Mai 2024

Der Katastrophe knapp entgangen. Das Unwetter vom 24. Mai 1724

Mit Regengüssen, Blitz und Donner ist der heutige Nachmittag über die Bühne gegangen, sodass man Gartenarbeiten dann doch lieber unterbrochen hat, wie man dem WeiachBlog von der Neurebenstrasse berichtet hat.

Kein Vergleich zum heutigen Datum vor 300 Jahren. Da hat unsere Gegend nämlich das erlebt, was von den Experten ein 300- oder gar 1000-Jahres-Ereignis genannt wird: Unvorstellbar viel Wasser, das in sehr kurzer Zeit über einem kleinen Einzugsgebiet abregnet und seine zerstörerische Wirkung in einer Weise entfaltet, die seit Menschengedenken unvorstellbar war.

Die Glattfelder und Eglisauer traf die volle Wucht

Die im Mai 1724 in Weyach und Kaiserstuhl Lebenden hatten riesiges Glück. An ihnen ging die Zerstörung vorbei. Ganz anders erging es den Nachbarn in Glattfelden und Eglisau. Dort schlug das Unwetter mit voller Wucht zu. 

Über dieses Unglück berichtet das Zürcher Lexikon par excellence, die Memorabilia Tigurina, ein Kompendium, das 1742 in dritter, stark ausgebauter Auflage erschienen ist. Unter dem Lemma (Lexikoneintrag) «Wassers-Grösse» steht einleitend auf Seite 511: 

«Grosser Wassergüssen gedenken unsere Chroniken, An. 1196, 1275, 1407, 1496, sc. Sonderlich merkwürdig sind folgende: [...]», wonach seitenweise des Merkens würdige Kurzbeschreibungen zu Überschwemmungen, Unwettern etc. aufgeführt werden, die alle mit Wassermassen zu tun hatten. 

Anonym bleibender Berichterstatter

Der Beitrag zum Unwetter vom 24. Mai 1724 stammt von einem Anyonymus. Es könnte sich durchaus um einen Originaltext handeln, der den Nachfolgern des Lexikonherausgebers Johann Heinrich Bluntschli (1656-1722) derart gefallen hat, dass sie ihn tel quel in den Artikel eingebaut haben. Zu verdenken ist es der Lexikonredaktion nicht, denn die Beschreibung ist wirklich eindrücklich. WeiachBlog bringt ihn hier im vollen Wortlaut (S. 515-516):

«An. 1724, den 24 Mey, hat sich ein dickes Gewülk gezeiget, welches sich Anfangs gestellt über Kayserstuhl und Weyach, so daß die Leuthe daselbst in grossen Forchten stuhnden; aber einsmahls drehete sich das Gewülk, und lährete auf eine entsetzliche Weiß aus über Eglisau und Glattfelden.»

Eglisau konnte die Brücke retten

«Zu Eglisau auf der Seiten [gemeint: auf dem Nordufer, wo das Städtchen steht] hat es solch Wasser und Steine geführt, daß es in die Straß nicht nur Löcher gefressen, sondern auch an den Mauren Schaden gethan, einen eichenen Stock oder Sagholtz die Gaß hinunter geführt, Bäume aus der Wurzel gerissen, so daß ein ganzer Baum mit samt dem Grund aufrecht in dem Rhein gestanden. Gegen der Bruck ware eine solche Menge Stein und Sand geführt, daß, wann nicht durch kluge Anleitung Hrn. Landvogts, die Bruck wäre geöffnet worden, selbige in höchster Gefahr gestanden wäre. Die Gewalt des Wassers ware so groß, daß eine Weibs-Persohn hingerissen, und in den Rhein geführt worden, allwo sie ertrunken.»


Glattfelden unter Schutt und Geröll begraben

«Zu Glattfelden ware der Jammer noch grösser, da das Wasser in denen Weinbergen entsetzliche Risse und Graben gemacht, an etlichen Orten eines hohen Hauses tieff; Und weil daselbst der Boden stein- und sandicht ist, so ist nicht nur entstanden ein gewaltiger Ueberguß von Wasser, sondern auch eine unglaubliche Menge von Steinen, welche, wo sie angestossen, alle Mauren und Häge umgerissen, die Strassen überhöhet, so daß man den Orth fast nicht mehr erkennet hatte. An den Häusern geschahe ein ungemeiner Schade. Ein Hauß, zwey Gemach hoch, ware mit Steinen umgeben, wie mit einer Schanz, in der obern Stuben, eines guten Gemachs hoch vom Boden, giengen die Steine biß nahe an die Fenster; auf dem untern Boden aber hatten die Steine als ein Wald-Wasser [gemeint wohl "Wildwasser"] eingedrungen, den Boden zerbrochen, und die Fasse in dem Keller eingeschlagen. Eine Trotten ware mit Steinen angefüllt, biß über das Trottbeth hinauf, so daß die Einwohner gehling als mit Steinen ummauret gewesen, und unter denselben wären begraben worden, wo sie sich nicht mit Anwendung aller Kräfften zun Fenstern aus hätten salvieren können. Ein Stuck Räben wurde dergestalten ruiniert, daß man nichts mehr darvon gesehen, als die obersten Spitzen von den Räbstecken. Der Materi von Sand und Steinen ware so viel, daß alle umliegenden Gemeinden mit Wägen und Mannschaft eine zimliche Zeit müßten zu Hülff kommen, um die Steine bey viel tausend Fudern abzuführen. Es ist diß Ungewitter weiters gen Flach, da es sonderlich in denen Wiesen grossen Schaden gethan, deßgleichen gen Hinterteuffen, Tößriedern, sc. gefahren. Der Sturm ware so entsetzlich und von solchem Getöß, daß man das starke Donnern, so mit unter geloffen, deßgleichen das Geschrey der Menschen kaum hören mögen. -- Relation eines Anonymi.»

Kirchenkollekte und Nachbarhilfe

Und der Beitrag schliesst mit der redaktionellen Notiz:

«Es haben auch bey diesem Ungewitter die Gemeinden Buch und Altiken gelitten, und ist den samtlich Beschädigten eine Steur zu samlen bewilliget worden.»

Diese offizielle Erlaubnis der Regierung in allen Kirchen des Zürcher Herrschaftsgebiet eine Kollekte sammeln zu dürfen (sog. Liebessteuer) war umso nötiger, als es damals so etwas wie Elementarschadenversicherungen nicht gegeben hat. Auch so dürfte es für die Betroffenen unglaublich hart gewesen sein. Selbst wenn wir hier die Vermutung äussern dürfen, dass die Solidarität in Weyach und Kaiserstuhl gross gewesen sein dürfte und Hiesige sich insbesondere in Glattfelden an der Entfernung des Schutts beteiligt haben.

Nach dem Tode Bücher veröffentlichen

Anonyme Lexikonredakteure machen dieses Wunder möglich. Wie man oben sehen konnte, ist der ursprüngliche Herausgeber Bluntschli bereits 1722 verstorben. Die dritte Auflage wurde zwar zu grossen Teilen neu geschrieben (vgl. insbesondere die Sternchen-Artikel), dann aber unter diesem bekannten Namen veröffentlicht. Werbung musste man dann keine mehr machen. Dieses Vorgehen war damals durchaus üblich (vgl. WeiachBlog Nr. 999 für den Fall Fäsi).

Einlaufbauwerk oberhalb der Chälen ist gut investiertes Geld

Für uns Heutige seien hier nur noch einmal auf die Investition in das Hochwasserbauwerk Obere Chälen hingewiesen. Ein solches Unwetter, wie das oben beschriebene, hätte auch heute noch fatale Folgen. Besonders die Überbauung am Dammweg würde massiv unter Wasser gesetzt.

Auch wenn die Gemeinde nun drei bis vier Millionen dafür in die Hand nehmen muss, worüber sich der Herr Gemeindepräsident schon vor Jahren echauffiert hat (vgl. WeiachBlog Nr. 1271): Das ist ein noch viel weiter reichendes und mindestens so wichtiges Generationenprojekt, als es ein Schulhaus-Turnhallen-Feuerwehrlokal-Gemeindesaal-Riegel darstellt.

Quelle und Literatur

  • Memorabilia Tigurina, oder Merkwürdigkeiten der Stadt und Landschaft Zürich. Dritte vermehrte Auflage. Zürich, bey Heidegger und Companie, 1742  [kurz: Mem.Tig. 1742] – S. 511 & 515-516.
  • Brandenberger, U.: Wie man nach dem Tode Bücher schreibt. WeiachBlog Nr. 999, 30. April 2011.
  • Brandenberger, U.: Hochwasserzonen-Debakel? Vom Umgang mit seltenen Ereignissen. WeiachBlog Nr. 1271, 10. März 2016.

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