Freitag, 3. Mai 2024

Bei der Festnahme «etwas durchgewalkt»

Geschworenengerichte mit einer Jury, wie in den USA, gab es in früheren Zeiten auch im Kanton Zürich. Laut dem Gesetz betreffend die zürcherische Rechtspflege vom 2. Dezember 1874 musste die Gemeinde Weiach (wie jede andere politische Gemeinde im Kanton) für die eidgenössische Rechtspflege einen Geschworenen wählen. Dieser wurde auch zugleich kantonaler Geschworener (vgl. § 1 und 4). Auf je 200 Einwohner mussten die Gemeinden dann laut § 3 noch weitere Männer wählen, die auf die Liste gesetzt wurden und im Bedarfsfall ihre bürgerliche Pflicht wahrzunehmen hatten.

Wählbar war jeder Stimmberechtigte, ausser er gehörte zu dem eng begrenzten Personenkreis, der per Gesetz als nicht wählbar bezeichnet wurde (u.a. Regierungsräte, Angestellte von Strafanstalten und Polizisten; vgl. § 6). Und ablehnen konnte die Wahl nur, wer entweder über 60 Jahre alt, «wegen Krankheit oder in Folge Gebrechens außer Stande ist, die Pflichten eines Geschwornen zu erfüllen, oder endlich, wer sich auf der letzten Geschwornenliste befunden und bei einer Sitzung mitgewirkt hat.»

Gleich zwei Weiacher auf der Geschworenenbank

Gestern vor 125 Jahren berichtete die Neue Zürcher Zeitung über den ersten Tag des abwechselnd in Zürich, Winterthur oder Pfäffikon durchgeführten Schwurgerichts: «Am Montag den 1. Mai begannen in Winterthur die Verhandlungen des dritten Schwurgerichtes des Jahres 1899.»

Für diese Verhandlungen waren gleich zwei Weiacher Geschworene ausgewählt worden: Gemeindepräsident Nauer und Bezirksrichter Griesser. Zusammen mit zehn anderen Geschworenen sowie drei Profi-Richtern mussten sie über Schuld oder Unschuld befinden:

«Präsident: Oberrichter Ziegler; Beisitzer: Bezirksrichter Vontobel von Dürnten und Gwalter von Höngg. Sekretär: Obergerichtssekretär Dr. Rahn. Geschworne: Obrist Bez.-Richter Rüschlikon Obmann, Groß Kassier in Töß, Grießer Bez.-Richter Weiach, Stucki Tierarzt Pfäffikon, Hoffmann Präsident Zünikon-Bertschikon, Schärer-Meier Mönchhof-Kilchberg, Baumann Gemeinderat Goßau, Bretscher Friedensrichter Dorf, Schlatter Gemeinderat Oerlikon, Boller Friedensrichter Hinteregg, Nauer Präsident Weiach, Honegger Gemeinderat in Hinweil.»

Wiederholungstäter versucht sich in waghalsigen Seilakten

Was nun folgt, ist ein – wie ich finde – gelungenes Stück journalistischer Kunst, kündigt der NZZ-Schreiberling doch dem geneigten Leser an, er werde sich nun langweilen, liefert dann aber eine geradezu slapstickreife Geschichte ab, die es verdient, im vollen Wortlaut wiedergegeben zu werden. Film ab:

«Der erste Fall, der zur Behandlung kommt, bietet wenig Interesse. Der fünfzigjährige, vielfach vorbestrafte Ulrich Hux von Oberweil-Dägerlen, Schreiner, hat sich neuerdings wegen eines Diebstahlsversuches zu verantworten. Die Anklage führt Staatsanwalt Brunner, als amtlicher Verteidiger ist anwesend Rechtsanwalt Dr. Schmid aus Zürich. Hux wird beschuldigt, sich dadurch des Versuchs von ausgezeichnetem Diebstahl im Sinne von § 168 und 169 Ziff. 3 des [kantonal-zürcherischen] Strafgesetzbuches schuldig gemacht zu haben, daß er Samstag 25. Februar nachts etwa um 8 Uhr auf die Dachzinne des Hauses Nr. 58 an der Zollstraße Zürich III schlich [also praktisch direkt beim Hauptbahnhof], dort einen Strick, den er mitgenommen hatte, am eisernen Geländer befestigte, sich an demselben auf das Dachgesimse hinunterließ, am Fenster eines Schlafzimmers eine Scheibe zertrümmerte, dann, weil von den Hausleuten entdeckt, dem Dachgesimse entlang flüchtete, bis er ein offenes Fenster der Mansardenwohnung fand und einsteigen konnte. Er gelangte in die Waschküche, konnte aber, weil die Thüre von außen geschlossen war, seine Flucht nicht fortsetzen und der Vogel war gefangen. Zwar versuchte er noch, sich hinter dem Waschofen zu verbergen, wurde aber hervorgezogen, etwas durchgewalkt und dann der Polizei übergeben. Er stellte sich sinnlos betrunken, konnte auf einmal nicht mehr stehen, besann sich aber bald eines andern und ließ sich wegführen. Von Betrunkenheit kann gar keine Rede gewesen sein, sonst hätte der Mann nicht mit katzenartiger Behendigkeit in schwindelnder Höhe auf einem schmalen Band den oben beschriebenen Weg machen können. Der Staatsanwalt klagte wegen Versuchs von ausgezeichnetem Diebstahl in einem nicht genau zu bestimmenden, den Wert von 50 Fr. jedenfalls übersteigenden, die Summe von 500 Fr. vermutlich nicht übersteigenden Betrag. Hux erklärte während der ganzen Untersuchung, er könne darüber, warum er ins Haus gegangen sei und das Manöver ausgeführt habe, gar keine Auskunft geben, denn er sei betrunken gewesen. Sicher sei nur das eine, daß er nicht habe stehlen wollen. Heute rückt er nun mit etwas ganz neuem heraus. Das Leben sei ihm verleidet gewesen und er habe sich durch einen Sturz vom Dache entleiben wollen. Das Dachgesimse mit dem Kennel habe aber den Sturz aufgehalten, die Lebensgeister seien wieder erwacht und den Weg in die Waschküche habe er dann nur genommen, weil er auf dem gleichen Weg, den er gekommen, d. h. über die Zinne, doch nicht hätte zurückkehren können. Der Strick reichte nämlich nur etwa über das halbe Dach hinab und vom Gesimse aus hätte ihn Hux allerdings nicht mehr erlangen können. Warum er sich hinter den Waschofen verkrochen habe, weiß Hux auch heute noch nicht. Die Verhandlungen stellten fest, daß der Angeklagte die Scheibe im Schlafzimmer vorsätzlich eingedrückt hatte, da die Rahmen deutliche Spuren eines Messers oder Stemmeisens zeigten, während Hux glauben machen wollte, er sei im „Vorbeiweg“ ins Fenster gefallen. Den Geschwornen imponierte offenbar auch die neue Darstellung nicht und nach kurzer Beratung sprachen sie den Angeklagten im Sinne der Anklage schuldig, worauf ihn der Gerichtshof zu zwei Jahren Arbeitshaus, ab fünf Wochen, und zehnjähriger Einstellung im Aktivbürgerrechte verurteilte.»

Für die nächsten zehn Jahre konnte es also dem Verurteilten garantiert nicht passieren, selber aus Versehen zum Geschworenen gewählt zu werden.

Bemerkenswert an der Geschichte ist, wie locker und flockig es als ganz selbstverständlich dargestellt wird, dass diejenigen Personen, die Hux als erste zu fassen bekamen, ihn «durchgewalkt» hätten. Dass diese Tätlichkeiten in irgendeiner Form strafwürdig gewesen sind, davon steht hier jedenfalls kein Wort. Und ein Fall von Polizeigewalt war's ja dann auch nicht. 

Man stelle sich das in unserer Zeit vor. Einem Wiedergänger des Hux wäre heute die Sympathie der Medienschaffenden sicher: ein Opfer des Milieus.

Quellen

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