Am heutigen Datum vor 100 Jahren erklärte sich der Zürcher Regierungsrat in einer Streitigkeit zwischen der Armenpflege Stadel und einem Weiacher Landwirt für unzuständig. Auf seinen Rekurs gegen einen Entscheid des Bezirksrats Dielsdorf trat er auf Antrag der Direktion des Armenwesens «wegen Inkompetenz» gar nicht erst ein.
Als billige Arbeitskraft in die Nachbargemeinde abgeschoben
Der Sachverhalt wird im Entscheid wie folgt beschrieben:
«Der Knabe Albert Volkart, von Stadel, war vom Jahre 1920 bis 6. März 1924 bei Landwirt A. B., in Weiach, verkostgeldet. Das jährliche Kostgeld betrug Fr. 260; für die Bekleidung des Knaben hatte vertragsgemäß der Pflegevater aufzukommen.»
Umgerechnet mit dem Landesindex der Konsumentenpreise (LIK-Rechner; Basis 1914) ergeben diese 260 Franken nach 100 Jahren rund 1285 Franken. Schon allein daraus kann man erahnen, dass die Arbeitskraft des verdingten Buben durch den Landwirt eingerechnet wurde, sonst hätte sich das Kostgeld nicht gerechnet.
Streit um die Konfirmationskleider
Daran, dass diese Rentabilitätsrechnung nicht mehr aufgehen konnte, entzündete sich der Streit zwischen den Vertragsparteien:
«Am 6. März 1924 mußte der Knabe von dem Pflegeort weggenommen werden, weil sich ergeben hatte, daß er dort nicht gut aufgehoben war. Die Armenpflege brachte von ihrer letzten Kostgeldzahlung einen Betrag von Fr. 100 für die Anschaffung des Konfirmationskleides in Abzug. Der Bezirksrat Dielsdorf schützte diese Verfügung der Armenpflege mit Beschluß vom 14. April 1924.»
Der Bezirksrat hat also – wie er das auch heute erstinstanzlich tun müsste – seines Amtes gewaltet.
«B. rekurriert deshalb an den Regierungsrat und verlangt Zusprechung der Fr. 100. Die Armenpflege Stadel und der Bezirksrat Dielsdorf beantragen mit Vernehmlassungen vom 14. und 16. Mai 1924 die Abweisung des Rekurses.»
Mangelhafter Vertrag? Nicht das Problem der Regierung
Es gehe nicht darum zu entscheiden, «ob die fragliche Kleiderunterstützung notwendig und die Armenpflege aus diesem Grunde zu der Leistung verpflichtet» sei, argumentierte die Direktion des Armenwesens, sondern darum, ob diese Konfirmationskleidung (eine happige Ausgabe von fast 40 Prozent des Jahreskostgeldes) nach dem Vertrag Sache des Pflegevaters sei oder eben nicht. Diese Angelegenheit müsse von der Gerichtsbarkeit geklärt werden.
Abgeblitzt ist B. also laut den Erwägungen der Aufsichtsbehörde der Armenpflege nur deshalb, weil sein Begehren «nicht eine Verwaltungsangelegenheit, sondern eine Rechtsfrage» betreffe. Indirekt rügt der Regierungsrat damit den Bezirksrat Dielsdorf, der diesen Umstand entweder nicht erkannt oder ignoriert hatte. Der Fall zeigt auch, wie wichtig gerade für juristische Laien die heutige übliche Rechtsmittelbelehrung unter jeder amtlichen Verfügung ist.
Ob sich Landwirt B. und die Stadler Armenpflege in der Folge vor dem Bezirksgericht Dielsdorf und allenfalls sogar dem Obergericht wiedergesehen haben, das kann derzeit nur durch einen Besuch im Staatsarchiv des Kantons Zürich ergründet werden. Da wären dann vor allem die Beschlussprotokolle zu konsultieren: StAZH Z 782.177 (1922-1924) sowie StAZH Z 782.178 (1925). Von Interesse könnten auch die Protokolle der Armenpflege im Gemeindearchiv Stadel sein.
Quelle und Literatur
- Armenwesen. Regierungsratsbeschluss vom 22. Mai 1924. Signatur StAZH MM 3.38 RRB 1924/1288
- Lischer, M.: Artikel Verdingung, Version vom 4. März 2013. In: Historisches Lexikon der Schweiz (e-HLS).
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