Samstag, 18. Mai 2024

Ein alter Chriegwäg und wo die Brandassekuranz den Krieg verortet

Wie wir in den drei vorangegangenen Beiträgen dieser vierteiligen Serie über den Siedlungs- und Flurnamen «Im Chrieg» bzw. «Krieg» gesehen haben, lässt sich der Name in dieser oder einer abgeleiteten Form fast fünf Jahrhunderte zurückverfolgen. Und nach Meinung der Namenforscher geht er auf eine Eigentümerbezeichnung zurück.

Dieser Namensträger bzw. einer seiner Vorfahren dürfte sehr wohl etwas mit Krieg und Kriegsdienst zu tun gehabt haben. Und dies zu einer recht weit zurückliegenden Zeit im Mittelalter oder am Übergang zur Reformationszeit. 

Ein Verwandter Wilhelm Tells?

Es gibt sogar Autoren, die uns einen verwandtschaftlichen Zusammenhang dieses Eigentümers zu Wilhelm Tell nahelegen wollen. Jawoll, genau DER Tell. Wilhelm Gorkeit von Tellikon (1251-1297) sei ein Armbruster gewesen. Also ein Waffenproduzent (vgl. Schärer 1986).

Wenn also Regionalhistoriker oder Lokalchronisten für den Weycher «Chrieg» eine Verbindung zur Franzosenzeit (d.h. insbesondere die Periode 1799/1800 des Zweiten Koalitionskrieges) und damit zu anderen Flurnamen wie Franzosenhau und Frankenhalde herstellen, dann liegen sie damit falsch. Einzig beim Franzosenhau treffen sie ins Schwarze. 

Die Franzosen sind am Chrieg nicht schuld

Der Nachlass von Dr. h.c. Heinrich Hedinger (1893-1978), dem viele Unterländer Gemeinden ihre erste gedruckte Dorfgeschichte zwischen harten Buchdeckeln verdanken, enthält (so wie er es für jede andere Gemeinde des Bezirks angelegt hat) auch ein Schulheft mit Notizen über Weiach (StAZH X 211.1.31). Da findet sich eine Liste Flurnamen in Weiach (datiert auf «Jan. 1965»), die zeigt, dass Hedinger von dieser Deutung ausgegangen ist: «Chrieg  Franzosenkrieg» notierte er.

Die Liste ist wohl im Zusammenhang mit einem Vortrag Hedingers (Titel: «Us der Gschicht vo Weych») entstanden, den er am 31. Januar 1965 anlässlich eines Kirchgemeindeabends im Restaurant Bahnhof gehalten hat (vgl. Zollinger: G-Ch Weiach 1965 – S. 14). Ein Manuskript dieses Vortrags hat der Redaktor dieser Zeilen bislang nicht gefunden.

Der Weiacher Ortschronist Walter Zollinger, wie Hedinger ein pensionierter Primarlehrer, hat in seinem blauen Büchlein zum 700-Jahr-Jubiläum (1271-1971) just diesen Zusammenhang übernommen: 

«Dass in den Jahren 1798/99, also während der Kämpfe zwischen den französischen Heeren und ihren Gegnern, den Deutschen, Österreichern und Russen, auf dem Gelände um Weiach ebenfalls fremde Truppen lagerten, bezeugen die noch heute gebräuchlichen Flurnamen Saxenholz, Frankenhalde, Im Chrieg, Franzosenhau zur Genüge.»  (Aus der Vergangenheit des Dorfes Weiach, 1. Auflage. Weiach 1972 – S. 42)

Ein Chriegwäg vor 80 Jahren

Adolf Pfister, Primarlehrer in Weiach von 1936 bis 1942, führt in seiner 26-seitigen Flurnamenliste (zu finden im Ortsgeschichte-Ordner Pfister/Zollinger) die beiden Namen «im Chrieg» und «Chriegwäg». Welchen Weg die Weycher mit letzterem Namen anfangs der 40er-Jahre bezeichnet haben, ist dort leider nicht erwähnt. Aber vielleicht war es tatsächlich der heute als Birkenweg bekannte, über Privatgrundstücke verlaufende Weg zwischen Chälenstrasse und Stockistrasse.

Erhebung Boesch 1958

Bei der Erhebung zum Zürcher Namenbuch in den späten 1950ern wurde der «Chrieg» jedenfalls in unmittelbarer Nähe kartenmässig aktenkundig. Gewährsmann dürfte der damalige Gemeindepräsident Albert Meierhofer-Nauer gewesen sein (zur Person, vgl. WeiachBlog Nr. 426).


Über eine Karte aus späterer Zeit (Stand 1983) gelegt, ergibt die Abgrenzungszeichnung der Flurnamen nach dem Kalk Boeschs das obige Bild. Da liegt der «Chrieg» ziemlich nahe am Birkenweg. Laut dieser Erhebung haben also die in den 50ern schon bestehenden Gebäude Chälenstrasse 10 und 12 im Chrieg gestanden.

Karteikarte aus StAZH O 471 mit phonetischer Schreibung links und stenographischen Details zur Nutzung rechts.

Anfrage einer Bergnamenforscherin aus der Innerschweiz 

Wenn wir nun wieder ins 19. Jahrhundert zurückblicken, dann stösst die Flur Im Chrieg an die Riemlistrasse. Nämlich laut einem Eintrag in demjenigen Verzeichnis der kantonalen Brandassekuranz, das im Gemeindearchiv gelagert ist.

Nachstehend die Korrespondenz, die der Autor dieser Artikelserie mit Dr. des. Nathalie Henseler, einer Namenkundlerin aus dem Kanton Schwyz, am 19. November 2022 geführt hat:

Frage: «Weisst du zufällig, wo sich der Flurname „Chrieg“ in Weiach befindet? Danke im Voraus 😃»

Antwort: «https://search.ortsnamen.ch/de/record/7063657/ Die in diesem DB-Eintrag gegebene Koordinate von Swisstopo ist ein brauchbarer Kompromiss, auch wenn sie primär deshalb dort verortet ist, weil das der einzige noch nicht überbaute Fleck an diesem Hang ist. Man muss davon ausgehen, dass Chälen sowohl ein Überbegriff für das Quartier sowie im engeren Sinne die Bezeichnung für die Gebäude entlang des Sägebaches war. Die Topographische Karte des Kt. ZH (sog. Wildkarte) verortet Im Chrieg an der Stockistrasse. Im Lagerbuch der Gebäudeversicherung ist hingegen das einzige heute noch vorhandene Gebäude an der Riemlistrasse 5/7 zu finden (https://maps.zh.ch/s/gzya7zgf). D.h. "Im Chrieg" liegt eindeutig unterhalb der Halde des Riemli und mit grosser Wahrscheinlichkeit in der westlichen Hälfte der heute von Weinbergstrasse, Riemlistrasse, Chälenstrasse und Stockistrasse umgrenzten Fläche (s. Link).»

Henseler (die ihr Bergnamenbuch auch schon in Kurt Aeschbachers TV-Show oder bei SRF Einstein  vorstellen durfte) hat im Rahmen ihrer Dissertation die alten Familiennamen des Kantons Schwyz namenkundlich unter die Lupe genommen. In den Bezirken March und Höfe (Gemeinden Altendorf, Galgenen, Innerthal, Lachen, Schübelbach, Tuggen und Vorderthal) ist der Geschlechtername «Krieg» altverbürgert, d.h. laut Familiennamenbuch der Schweiz seit mehr als 225 Jahren nachweisbar.

Rückblende Lagerbuch Gebäudeversicherung 1834

Hier das entsprechende Blatt aus dem Lagerbuch (Signatur: PGA Weiach IV.B.06.01):

Das Gebäude «Im Krieg. N°. 67.» trägt heute die Gebäudeversicherungsnummer 573/574. Die südöstlich davon gelegenen Gebäude mit den aktuellen Nr. 571 (damals N° 68b; Riemlistr. 3) und 468 (damals N° 68a/c; Chälenstr. 6) wurden schon zum Zeitpunkt der Erstellung des Gebäudeversicherungsbandes (spätestens 1834) der Chälen zugerechnet. Dort steht als Ortsbezeichnung: «Unten in Kellen».

Wo die ebenfalls «Im Krieg N° 64, 65 u. 66» benannten, mutmasslich zusammengebauten Gebäude standen, ist bislang nicht bekannt. Sie wurden 1835 «ganz abgeschlißen», erscheinen also auf der Wildkarte (Stand 1845-1848) nicht mehr. N° 64 gehörte 1834 Heinrich Baumgartner und bestand aus einem «Haus, 1/3 Scheune & 1 Stall». N° 65 & 66 gehörten im selben Jahr «Ulr. Wyllis s. Erben» und bestanden aus einem «Haus, 2/3 Scheune & 1 ditto» [d.h. Stall]. 

Am Platz der heutigen Gebäude Chälenstrasse 10 (N°74, heute 474) sowie Chälenstrasse 12 (N° 75, heute 478), die 1958 als Chrieg identifiziert wurden, können sie jedenfalls nicht gestanden haben, denn diese Häuser waren schon 1834 an dieser Stelle und wurden von den Gebäudeschätzern mit der Bezeichnung «Unten in Kellen» erfasst.

Wissen Sie mehr?

Nach all diesen Ausführungen die Frage an meine ortskundigen Leserinnen und Leser: Wo liegt Ihrer Meinung nach der Chrieg in Weiach? An der Stockistrasse, an der Riemlistrasse, an der Chälenstrasse, an zweien davon, an allen drei gleichzeitig? Oder ganz woanders?

Quellen und Literatur

  • Pfister, Adolf: Flurnamenliste; erstellt zwischen 1936 und 1942; Teil des sog. Ortsgeschichtlichen Ordners im Archiv des Ortsmuseums Weiach (noch ohne Signatur).
  • Sammlung der Orts- und Flurnamen des Kantons Zürich, 1943-2000 (Signatur: StAZH O 471). Datenerfassung für Weiach durch Prof. Bruno Boesch mit dem Gewährsmann «Alb. Meierhofer» im Jahre 1958.
  • Hedinger, Heinrich: Flurnamen in Weiach. In: Stoffsammlung über den Bezirk Dielsdorf und seine Gemeinden, Heft Nr. 25 Weiach. Signatur: StAZH X 211.1.31.
  • Schärer, Arnold Claudio: Und es gab Tell doch. Harlekin-Verlag, Luzern 1986.
  • Henseler, Nathalie: Die namenkundliche Deutung der Landleutegeschlechter des Kantons Schwyz. Unter Berücksichtigung sozialhistorischer Aspekte von Familiennamen im voralpin-ländlichen Raum. Diss. Univ. Zürich 2023.

Mini-Serie «Im Chrieg. Ein Weycher Flurname»

Teil 1 (WeiachBlog Nr. 2096); Teil 2 (WeiachBlog Nr. 2097); Teil 3 (WeiachBlog Nr. 2098); Teil 4 = dieser Artikel (WeiachBlog Nr. 2099)

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