Ein Winzer ärgerte sich darüber, dass ihm Trauben gestohlen worden waren. Er montierte daher am Zaun eine Tafel mit der Aufschrift: «Achtung! In diesem Weinberg ist eine Mine versteckt!». Tags darauf waren erneut Trauben weggekommen. Und auf der Tafel stand die handschriftliche Ergänzung: «Jetzt zwei!».
Dieser makabre Witz zirkulierte vor bald zwanzig Jahren in der Multinationalen Brigade Süd der KFOR, dem militärischen Verband, der nach dem durch NATO-Bombardement 1999 erzwungenen Abzug der serbischen Streitkräfte aus der Provinz Kosovo für die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der Sicherheit zuständig war (und zu Teilen noch heute ist).
Mental mit dem Messer zwischen den Zähnen
In der Schweiz leben wir seit Jahrzehnten in einer von Gefahren zunehmend gesäuberten Welt. In einer solchen erwischt einen die 2020 breitflächig eingetretene Erkenntnis einer neuen, unsichtbaren und unkontrollierten Gefahr besonders heftig. Wie gehen wir damit um? Ein Vergleich zwischen einem heimtückischen Virus und hinterhältigen Sprengstoffen.
Dass man einen Blindgänger nicht berühren, sondern in gebührendem Abstand markieren und sofort der Polizei melden soll, das wissen auch die meisten Schweizerinnen und Schweizer. Aber dass man besser nicht durchs Gebüsch streifen sollte? Fiele uns nicht im Traum ein. Und doch: Das lernen vielerorts auf dem Westbalkan (und in vielen anderen Weltgegenden) bereits kleine Kinder.
Es kommt daher nicht von ungefähr, wenn die Schweizer Armee die für den Einsatz in einem ehemaligen Kriegsgebiet vorgesehenen Peacekeeper der Swisscoy vorgängig wochenlang auf Vorsicht und Wachsamkeit drillt – mittlerweile seit über zwanzig Jahren.
Das ging auch dem Schreibenden nicht anders. Nach wochenlanger Ausbildung in der Schweiz und einem Force Integration Training mit den Österreichern in Bruck an der Leitha landeten wir im Frühjahr 2001 auf dem von russischen Soldaten besetzten Pristina Airfield. Mental sozusagen mit dem Messer zwischen den Zähnen.
Grundimmunisiert auf die Piste geschickt
Die uns verpasste Grundimmunisierung gegen leichtsinniges Verhalten war auch höchst angezeigt. Denn vordergründig waren da keine Gefahren erkennbar. Abgesehen von den zerstörten Häusern erinnerte nicht viel an Tod und Vernichtung.
Wären da nicht die immer wieder anzutreffenden (damals meist dreieckigen, auf den Boden weisenden) roten Tafeln mit Totenkopf und gekreuzten Beinknochen mit der Aufschrift MINA gewesen.
Solche Schilder warnen vor Minen, Sprengfallen und Blindgängern. Und sind in Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Kosovo (wie in vielen anderen, von Krieg und Bürgerkrieg überzogenen Weltgegenden) auch Jahre nach dem Konflikt noch gegenwärtig:
Absichtlich verlegte Personenminen und in der Landschaft nach Bombenabwürfen verteilte Blindgänger (Unexploded Ordnance, UXO) sind seit 1999 Teil des Alltags im Kosovo. Trotz grossen Anstrengungen in der Minenräumung. Die tödliche Gefahr nimmt zwar tendentiell ab. Aber sie verschwindet nicht. Die Angst bleibt. Man muss mit ihr umgehen und leben lernen.
Uns Soldaten wurde regelmässig eingeschärft, auf keinen Fall von befestigten Wegen abzuweichen. Und wenn, dann nur mit einem ortskundigen Führer.
Wie häufig wir das zu hören bekamen, illustriert der von Angehörigen der deutschen Bundeswehr mit einem Augenzwinkern zum Besten gegebene Spruch: «Du weisst, dass Du zu lange im Einsatzgebiet warst, wenn Du Dich mit Händen und Füssen dagegen wehrst, von Deiner Freundin ins Gebüsch gezogen zu werden.» Diese Vorsicht wurde auch ganz jungen Armeeangehörigen sozusagen zur zweiten Natur, zumindest im Einsatzgebiet.
Willst Du wegen diesen Idioten sterben?
Bei Menschen, die mit dem Helfergen ausgestattet sind, war und ist das nicht automatisch der Fall. Besonders eindrücklich war ein Erlebnis etwa in der Mitte meines Einsatzes. Die Deutschen hatten ihr Kontingent ausgewechselt. Wieder waren viele TAPSI angekommen (die Bezeichnung wird auch als Akronym für «Total ahnungslose Person sucht Informationen» verstanden; in der Schweizer Armee würde man das «Hamburger» nennen - einer der den ersten WK macht), aber auch solche mit Einsatzerfahrung, darunter ein altgedienter Flottillenarzt «in Endverwendung», wie er selber sarkastisch bemerkte.
Medizinisches Fachpersonal ist auch bei den Streitkräften rar und deshalb war es bereits sein x-tes Halbjahr, das besagter Marineoffizier nicht in seiner Dienststellung an einem Bundeswehrkrankenhaus, sondern fern von seiner Familie in einem Feldlager verbrachte, erst in Bosnien, jetzt im Kosovo.
Zusammen mit einer Zeitsoldatin (Stabsunteroffizier mit Rettungssanitäter-Ausbildung, aber im ersten Einsatz) hatte er zwei skandinavischen Kontingenten zwecks Erfahrungsaustausch einen Besuch abgestattet. Auf dem Weg zurück nach Prizren über die kurvenreiche, kürzlich neu asphaltierte Duljepass-Strasse waren sie bei den Ersten, die an einen fürchterlichen Autounfall heranfuhren. Frontalzusammenstoss, wohl aufgrund überhöhter Geschwindigkeit (die Hauptgefährdung im Einsatzgebiet). Eines der Fahrzeuge mit offensichtlich schwer Verletzten lag mehrere Meter von der Strasse entfernt in Gestrüpp. Ein italienischer Militärpolizist regelte bereits den Verkehr.
Es sei ihm, gestand mir der Flottillenarzt bei einem Tagesabschluss-Bier wenige Tage später, nur unter Einsatz von Körperkraft gelungen, seine Kollegin davon abzuhalten, sofort Erste Hilfe zu leisten. Er habe sie festhalten müssen und «hätte der Stuffze beinahe eine Backpfeife verpasst», als sie trotz der Frage, ob sie wegen diesen Idioten sterben wolle, Anstalten gemacht habe, sich seinem Befehl zu widersetzen.
Der Passübergang war im Kosovokrieg umkämpft gewesen. Man musste also jederzeit sowohl mit Minen wie mit UXO rechnen. Auch wenn da Schwerverletzte am Verbluten sind: zuerst muss der Kampfmittelräumdienst (Explosive Ordnance Disposal, EOD) den Zugang freigeben. Da waren die Vorschriften knallhart. Als deren Einsatzleiter grünes Licht gab, war es bereits zu spät; alle drei Insassen des von der Strasse abgekommenen Sportwagens waren tot. Die Kollegin sei danach psychisch zusammengebrochen und werde jetzt psychologisch betreut. «Und wie geht es Dir?», fragte ich. «Ich spüre den Konflikt mehr als ich mir zugestehen möchte.» Mehr als verständnisvoll nicken blieb mir da nicht.
Area denial auf Jahrzehnte
Minen sind teuflische Erfindungen. Sie sind billig herzustellen. Lange haltbar. Einfach verlegbar. Meist lauern sie versteckt. Und wie eine als Justitia verkleidete Rachegöttin richten sie ohne Ansehen der Person, wes Alter und Stand dieselbe auch sein mag. Es gibt scheinbar keine Grenze der Perversität. Minen sind mit Stolperdrähten kombinierbar, die besonders perfiden Modelle haben gar einen Springmechanismus, der sie vor dem Zünden der Sprengladung einen Meter in die Luft wirft. Eine solche Explosion reisst einem Kind den Kopf weg.
Die Sprengladung ist aber nicht darauf ausgerichtet, sofort zu töten. Sie soll optimal verletzen. Wer im Militär den Film «6 Stunden für ein Leben» gesehen hat, weiss, was ich meine. Dem Gegner soll der grösstmögliche Sanitätsaufwand aufgezwungen werden, der gerade noch als sinnvoll gilt. Denn im Krieg gilt das Triageprinzip: Wer mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht überlebt, der wird eher liegengelassen. Schreiende Verletzte senken die Kampfkraft weiter.
Das alles produziert Angst. Die wirkt sogar, wenn überhaupt nie eine Mine da war. Wie in unserem eingangs erwähnten Weinberg-Beispiel. Der muss jetzt nämlich Zentimeter für Zentimeter abgesucht werden. Man weiss ja nie.
Psychologische Effekte unter Kontrolle bringen
Angst wirkt nachhaltig. Pulverisiert Unbeschwertheit. Sie macht aber auch vorsichtig. Wildtiere lernen sehr rasch, wo, zu welcher Jahreszeit und unter welchen Umständen es gefährlich wird (wäre auch beim Wolf so, wenn er denn bejagt werden dürfte). Mit dem Restrisiko müssen und können sie trotzdem leben.
Man kann in einem Minenfeld Glück haben oder «nur» einen Gehörschaden davontragen. Aber wenn es dumm läuft, dann bezahlt man mit dem Leben. Und gefährdet andere, wie die junge Rettungssanitäterin.
Und: Minen können sich auch weiterverbreiten. Regenfälle und dadurch ausgelöste Erdbewegungen haben schon manche Personenmine freigelegt oder ganz ausgewaschen und an einen anderen Ort verfrachtet.
Wer in einem ehemaligen Kriegsgebiet lebt, muss das immer im Hinterkopf haben. Es mag kurios tönen, aber auch heute noch werden immer wieder belgische Landwirte zu Opfern des 1. Weltkriegs: wenn beim Pflügen eine Granate explodiert (vgl. diesen Filmbeitrag der Deutschen Welle über die Gegend um Ypern). Landwirt als Risikoberuf der besonderen Art. Kosovaren kennen das auch.
Mit Sars-Cov2 ist dieser Psychokrieg auch bei uns angekommen. Denn das Virus wirkt pychologisch in einigen Aspekten wie unexplodierter Sprengstoff. Es ist dumm, sie verleugnen zu wollen. Denn sie sind nicht nur beide gefährlich, sondern auch in der Lage eine Gesellschaft sozusagen optimal zu schädigen. Deshalb muss man Gegen- und Schutzmassnahmen in vernünftigem Ausmass ergreifen (und nicht einfach von Panik getrieben einen Lockdown herbeischreien). Ein Restrisiko bleibt. Vor allem auch für Risikogruppen wie das Medizinpersonal.
Schon HIV hat unser Leben über Jahrzehnte teils massiv beeinträchtigt (man denke nur an die sorglose Promiskuität in den 60ern und 70ern), Sars-Cov2 wird das ebenfalls tun.
Ob es sich bei diesen Viren nun um Waffen aus Militärlaboren handelt oder nicht, spielt überhaupt keine Rolle. Es ist so, wie es der frühere Platzspitz-Arzt André Seidenberg heute im Interview mit der NZZ ausdrückt: «Wir müssen lernen, gelassen mit unserer Angst umzugehen.»
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