Samstag, 3. Oktober 2020

Kaiserstuhler Weiderechte auf Weiacher Boden eingeschränkt

Die Bürger der Stadt Kaiserstuhl genossen von altersher Weiderechte auf den Territorien der umliegenden Gemeinden Fisibach, Hohentengen und Weiach. Und die Zürcher Regierung kassierte in Kaiserstuhl einen Teil der dort anfallenden Erbschaftssteuern ein. 

Beides erscheint uns Heutigen, an territorial klar abgegrenzte Verhältnisse gewöhnt, seltsam und wirft die Frage auf: Warum war das so?

Absprachen der Stadtgründer als mutmassliche Rechtsgrundlagen

Der Umstand, dass diese beiden Regelungen nur von den Modalitäten her zu Streitigkeiten führten, das Bestehen dieser Rechte jedoch nie grundsätzlich bestritten wurde, lässt die begründete Annahme zu, dass es sich um alte Abmachungen aus der Zeit der Gründung des Städtchens handeln muss.

Diese Absprachen trafen die an der Stadtgründung beteiligten Adeligen untereinander. Neben den Namensgebern, den Herren von Kaiserstuhl, die auf der Burg Rötelen am Nordufer sassen, der Neugründung ihren Namen gaben (ca. 1254/55) und damit das Südufer des Flussübergangs sichern konnten, waren auch die Freiherren von Regensberg, sowie die von Wart beteiligt. Zwischen diesen Geschlechtern gab es nämlich verwandtschaftliche und damit auch wirtschaftliche Verflechtungen, vgl. den HLS-Artikel über die Freiherren von Wart: «1250-54 lösten sich die Frh. von Kaiserstuhl als eigener Zweig von den W. ab.»

Die Freiherren von Wart hatten im Weiach des 13. Jahrhunderts einen massgebenden Einfluss. Sie besassen den Meierhof sowie Zwing und Bann über das Dorf (also die Grundgerichtsbarkeit, die später in die sogenannte Niedere Gerichtsbarkeit einbezogen war). Dadurch konnten sie auch Weiderechte verleihen.

Weiderechte: Weit über den Efaden hinaus

Die Rechte Kaiserstuhls erstreckten sich nicht nur auf das dreieckförmige Stadtgebiet, sondern auch auf den dazugehörenden sogenannten Efaden, ein Gebiet, das insbesondere auf der nördlichen Seite des Rheins einen sehr grossen Umfang hatte und sich westlich bis zum Bach erstreckte, der die Geländekammer in der Bergöschingen liegt zum Rhein hin entwässert. Südlich des Rheins war er viel kleiner, nur etwa so gross wie das heutige Gemeindegebiet. Für einen bildlichen Eindruck vgl. Wenzinger Plüss in Argovia 1992, S. 102-103 (Karte aus dem 18. Jahrhundert) sowie S. 104-105 (Plänchen von 1645).

Darüber hinaus durften die Kaiserstuhler auch auf Fisibacher, Hohentengener und Weiacher Gebiet weiden. An der Frage, wie weit diese Rechte gehen, entzündete sich Streit (dazu mehr im nächsten Abschnitt).

Innerhalb des Kaiserstuhler Efadens dürften die Einwohner von Fisibach und Weiach nicht Gegenrecht gehabt haben, was angesichts der auf der Südseite kleinen Fläche verständlich wäre. Auf der Nordseite des Rheins aber könnten die Hohentengener das Recht gehabt zu haben, auf diesem Teil des Efadens ihr Rindvieh auf die Stoppelweide zu treiben (also im Herbst nach der Ernte), vgl. AU XIII, Nr. 248, Punkt 5.

Ein gegenseitiges Recht der Fisibacher und Weiacher zum Weidgang in der jeweils anderen Gemeinde dürfte es nicht gegeben haben (auch kein einseitiges Recht der Fisibacher auf Weiacher Gebiet, wie man den bisherigen Titel des letzten Abschnitts von WeiachBlog Nr. 1353 interpretieren konnte).

Schiedsrichter waren im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts gefragt

Was im Mittelalter wohl noch keine Probleme machte (jedenfalls nicht solche, die nur noch von Gerichten entschieden werden konnten), wurde besonders in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einem Zankapfel. Der Streit um die natürlichen Ressourcen war bedingt durch starkes Bevölkerungswachstum, welches durch eine Klimaverschlechterung zwischen 1570 und 1640 noch verschärft wurde: «als Folge von grossen Vulkanausbrüchen in den Tropen gehäuft kalte Frühjahre und v.a. kühl-feuchte, in den Alpen schneereiche Hochsommer» (vgl. den HLS-Artikel Kleine Eiszeit).

Die von Kläui bearbeiteten Urkunden im Kaiserstuhler Stadtarchiv zeugen von drei Verfahren. Das erste zwischen Kaiserstuhl und Fisibach (Streit beigelegt am 10. Oktober 1574, AU XIII Nr. 246). Ein zweites zwischen Kaiserstuhl und Hohentengen (Auseinandersetzung beigelegt in Meersburg am Sitz des Fürstbischofs am 12. April 1575, AU XIII Nr. 248). Und ein drittes, in dem erneut Fisibach und neu auch Weiach sich gegen Kaiserstuhler Übergriffe zur Wehr gesetzt hatten (Beilegung des Konflikts beurkundet am 14. Mai 1594, AU XIII Nr. 287). 

Kaiserstuhler hatten auch in Weiach übertrieben

Übertreiben ist hier ganz wörtlich zu verstehen, denn die Weiacher beklagten sich (wie die Fisibacher), die Kaiserstuhler würden «etwas zyt har sie in irem weidgang mit mehr vechs dann von alterhar brüchig übertribe». Das Vieh der Kaiserstuhler frass also zuviel, was einerseits mit der zeitlichen Gestaltung des Weidgangs und andererseits mit der Anzahl Tiere zu tun hatte.

Dazu kam noch, dass sie die ihnen von alters her zustehenden zwei Tage in der Woche nach eigenem Gutdünken in vier halbe Tage aufteilten - und darüber hinaus auch noch Flächen beanspruchten, wo die Weiacher und Fisibacher der Meinung waren, dass deren Nutzung ihnen allein zustünde. Darauf erwiderten die Kaiserstuhler, sie würden es ja nicht anders handhaben als nördlich des Rheins auf Hohentengener Boden und verwiesen auf die Abmachungen von 1575.

Schiedsgericht sieht andere Sachlage als in Hohentengen

Die drei Schiedsrichter, die allesamt aus der Stadt Zürich stammten, stellten fest, die Kaiserstuhler hätten «nit sovil rechtsamme im weidgang zu den ermelten beiden gmeinden als gegen denen zů Thengen» und könnten solche Rechte auch gar nicht haben. Da waren offenbar die Zeugenaussagen und allfällige weitere Beweise allzu deutlich.

Der Entscheid wurde anschliessend in fünf Punkten eröffnet.

1. Zwei Tage sind nicht vier Halbtage

Keine Aufteilung der Weidgangstage mehr nach Gutdünken, sondern nur noch zwei Tage in Folge. Ein angebrochener Tag wurde dabei als ganzer Tag gewertet.

Damit wurde verhindert, dass die Kaiserstuhler an vier Tagen nach ihrem Belieben je einen halben Tag hungrige Tiere auf die Weiden der Nachbarn trieben. Denn es verschwindet natürlich weniger Gras, wenn die Kühe sich erst einmal den Magen vollgeschlagen haben (vgl. Nr. 248, S. 122 unten). Dann ist Wiederkäuen angesagt. Und das dauert. 

Kommentar: Die Hohentengener mussten 1575 akzeptieren, dass die Kaiserstuhler zwischen 1. Juni und 15. Juli die zwei Tage in vier halbe Tage aufteilen durften. Und von zwei aufeinanderfolgenden Tagen ist in dieser Meersburger Urkunde auch keine Rede.

2. Nur eine Kuh und ein Kalb pro Bürger

Jeder Burger zu Kaiserstuhl, der Burgrecht und einen eigenen Kamin in der Stadt hat, darf an diesen zwei Tagen eine Kuh, ein Gastwirt zwei Kühe «zu denen von Wyach und Visibach in ir trib und trat zu weid» gehen lassen. Weiter durfte jeder Bürger ein Kuhkalb oder Rind unter zwei Jahren auf die Weide schicken («bis es zweyg järig und zů einer ků worden ist»). 

Kommentar: Auch da waren die Weiacher und Fisibacher besser gestellt als die Hohentengener, denn die mussten zusätzlich pro Kaiserstuhler Bürger auch noch je ein unter einem Jahr altes Stierkalb akzeptieren. 

Selbst Kaiserstuhler, die sich keine eigene Kuh leisten können, dürfen eine fremde wie eine eigene weiden lassen, um ebenfalls in den Genuss des Weiderechts zu kommen. 

Kommentar: Eine weitergehende Verpflichtung nach Hohentengener Muster wurde vom Schiedsgericht abgelehnt. Denn nördlich des Rheins konnten die Kaiserstuhler so viele Kühe, Kuhkälber und Stierkälber weiden lassen, wie es Bürger in der Stadt gab, konnten die Rechte also immer voll ausnutzen.

3. Keine Schweine im Wald!

Schweine durften die Kaiserstuhler auch nur auf Brachflächen und Stoppelfelder weiden lassen. Verwehrt war ihnen die Nutzung des Ackeret (d.h. der zur Schweinemast benutzte Ertrag des Waldes an Eicheln und Buchnüsschen) sowie die Waldweide. 

Kommentar: Auch hier wieder ein entscheidender Unterschied zu Hohentengen. Denn dort durften die Kaiserstuhler in alle Wälder Schweine treiben mit Ausnahme einzig des Nonnenholzes.

4. Andere Weidetiere verboten

Mit allen anderen Arten von Weidetieren, seien es nun Pferde, Esel, Schafe oder Ziegen haben die Kaiserstuhler auf Weiacher oder Fisibacher Boden gar kein Weiderecht.

Kommentar: Mit Ausnahme der Schafe war das ein Ergebnis, das den Verhältnissen auf Hohentengener Gebiet ähnlich ist. Denn dort durften die Kaiserstuhler Pferde und Esel nur auf ihrem eigenen Efaden weiden lassen. Die Haltung von Ziegen hingegen war «alls ain schadhaft thier» ohnehin verboten.

5. Wo die Marchen waren. Grenzen für die Kaiserstuhler

Hier folgen nun die territorialen Vorschriften, die schon in WeiachBlog Nr. 1353 zu Teilen diskutiert worden sind. Die Kaiserstuhler sollen grundsätzlich nicht weiter weiden lassen, «dann bis an die alten marchen».

Diese waren demnach wie folgt definiert: «von Keyßerstůl uß der landtstraß nach oberthalb uff der rechten hand bis an die zün und wißen des dorfs Wyach, und uf derselben syten obsich bis an das holtz zůhin, doch nit in das holtz hinin, es were dann sach, das sy die von Keyßerstůl in den Santzenberg (so inen zůgehört) zů weid faren welten, als dann sy ir vech wol durch Wyacher holtz tryben mögen. Aber uff der lingen sydten der landtstraß soll dero von Keyßerstůl weidgang gegen Wyach sich nit wyter erstrecken, dann bis an die straß ald weg, so gen Glattfelden gadt, und diserem weg nach durch uß, was underthalb demselben gegem Rhyn zů gelegen, wie von alter halb brüchig. Was aber oberthalb dem Glattfelder weg und von der alten capelen gmür an zwüschent demselben Glattfelder weg und der landtstraß gegen Wyach ligt, darin söllent die von Keyßerstůl dhein [d.h. kein] weidrecht haben, sonders der weidgang des endts denen von Wyach alleinig zůgehören.»

Weiss auf der Gygerkarte eingezeichnet: Flächen unter Zürcher Herrschaft, auf denen die Kaiserstuhler Weiderecht hatten. Unklar ist, wie weit nach Osten das Gebiet nördlich des Glattfelderwegs (violette Strasse) gereicht hat.

Darüber, wo genau dieses Weidrecht unterhalb des Glattfelderwegs aufhörte (bereits nördlich des Dorfkerns oder erst dort, wo damals der Hardwald begann) schweigt sich die Urkunde allerdings aus, da dieser Punkt anscheinend nicht strittig war.

Unter der Urkunde hängen die Siegel der drei Mitglieder des Schiedsgerichts: «Niclaus Waßer, obervogt im Nüwenampt, sodann Gerold Escher, beid des raths der statt Zürich, und Hanns Georg Grebel, stattschryber daselbs.» Bemerkenswert ist, dass die Kaiserstuhler ein reines Zürcher Schiedsgericht akzeptiert haben, obwohl sie auch mit einer Gemeinde unter deren Hohen Obrigkeit im Streit lagen.

Quellen und Literatur

  • AU: Aargauer Urkunden Bd. 13: Die Urkunden des Stadtarchivs Kaiserstuhl, bearb. von Paul Kläui. Aarau 1955 – Nr. 246, 248 sowie 287; letztere auf S. 143-144.
  • Wenzinger Plüss, F.: Kaiserstuhl: kirchliches Leben in einer spätmittelalterlichen Kleinstadt. In: Argovia 104 (1992) – S. 85-163.
  • Pfister, Ch.: Kleine Eiszeit. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 21.05.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007799/2010-05-21/, konsultiert am 03.10.2020.
  • Leonhard, M.: Wart, von. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 23.08.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/019795/2013-08-23/, konsultiert am 02.10.2020.
  • Brandenberger, U.: Wo stand die alte Kapelle? Weidgangsstreit-Urkunde 1594 revisited. WeiachBlog Nr. 1353 v. 31. Oktober 2017.

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