It's crime time, again. Nach dem Fall vom Montag (Auf der Strasse freilaufendes Pferd tötet Kleinkind; WeiachBlog Nr. 1596) hier nun einer aus dem 20. Jahrhundert, aus der Zwischenkriegszeit. Ein Beziehungdrama mit bleihaltiger Pointe.
Eine Kurzversion des Gerichtsfalls findet man in den katholischen Neuen Zürcher Nachrichten:
«Mordversuch im Rausch. ag. Das Obergericht hat den 34-jährigen Handlanger Friedrich Meierhofer wegen Totschlagversuches in Tateinheit mit vorsätzlicher Trambetriebsgefährdung und wegen sittlicher Verfehlungen an seiner 7-jährigen Stieftochter zu vier Jahren Arbeitshaus und drei Jahren Ehrverlust verurteilt und die Akten zwecks vorsorglicher Maßnahmen der Justizdirektion überwiesen. Meierhofer, ein dem Trunk ergebener, brutaler Mann, heiratete 1932 eine Ausländerin, die wegen unsittlichen Lebenswandels aus der Schweiz ausgewiesen werden sollte. Da die Frau lügenhaft und streitsüchtig war, kam es zu häufigen Prügeleien. Am 22. Juli 1937 kehrte der Mann, der am Nachmittag infolge Selbstmordabsichten den Revolver zu sich gesteckt hatte, kurz vor Mitternacht betrunken nach Hause zurück. Die Frau bemerkte die Schußwaffe und flüchtete, von plötzlicher Angst ergriffen, im Nachthemd auf die Straße und in ein haltendes Tram. Der Mann sprang ihr nach und feuerte einen Schuß auf sie ab. Die Kugel prallte an einer Scheibe ab, ohne jemand zu verletzen.» (NZN, 21. Januar 1938)
«Mordversuch» in der Schlagzeile fängt des Lesers Auge natürlich effektiver ein als ein sperriges «Totschlagsversuch». Auch sonst wird kurz und knapp das moralische Lehrstück abgehandelt. Sozusagen das Wichtigste was man wissen muss. Nicht wichtig war, woher der brutale Handlanger ursprünglich stammte.
Das erfährt man erst, wenn man sich in einen wesentlich blumiger geschriebenen, im Bernbiet veröffentlichten Beitrag vom selben Tag vertieft. Erschienen im heutigen Thuner Tagblatt (TT), der damals als «Oberländer Tagblatt» bezeichneten Tageszeitung, die sich selber als «Fortschrittlich-bürgerliches Organ des Berner Oberlandes» und «Einzige Tageszeitung des Berner Oberlandes» anpries.
Sensationsprozeß vor Zürcher Obergericht.
tst. Am Donnerstag verurteilte das Zürcher Obergericht den 34 jährigen Handlanger Friedrich Meierhofer wegen Totschlagsversuch, vorsätzlicher Trambetriebsgefährdung und wiederholter Begehung unzüchtiger Handlungen mit einem Kinde zu einer Arbeitshausstrafe von 4 Jahren und 3 Jahren Einstellung im Aktivbürgerrecht. Dem Angeklagten wurde gemäß psychiatrischen Gutachten erheblich verminderte Zurechnungsfähigkeit zugebilligt. Die Tragödie eines Menschen. 34 Jahre zählt der Angeklagte — ein menschliches Wrack. Teilnahmslos verfolgt er die Verhandlungen, wie wenn ihn die ganze Sache nichts anginge...
Sein Vater war ein Trunkenbold, die Mutter hat er in frühester Jugend verloren. „Dorfglünggi" nannte man den verwahrlosten Burschen in seinem Heimatort Weiach. War eine Scheibe eingeworfen, ein Huhn gestohlen, ein Zaun demoliert; wer war der Täter, wenn nicht der Meierhofer, der schon in jungen Jahren in den Fußstapfen seines Vaters wanderte? Bittere Armut und eine zerrüttete Ehe waren das traurige Milieu, in welchem seine schlechten Eigenschaften den denkbar günstigsten Nährboden fanden. Jeweilige Anläufe zur Besserung schlugen fehl. Es gebrach ihm an innerer Kraft und nirgends winkte ihm das Glück äußerer Hilfe, die sich seiner angenommen. Lange Arbeitslosigkeit demoralisierte den Haltlosen noch vollständig.»
tst. Am Donnerstag verurteilte das Zürcher Obergericht den 34 jährigen Handlanger Friedrich Meierhofer wegen Totschlagsversuch, vorsätzlicher Trambetriebsgefährdung und wiederholter Begehung unzüchtiger Handlungen mit einem Kinde zu einer Arbeitshausstrafe von 4 Jahren und 3 Jahren Einstellung im Aktivbürgerrecht. Dem Angeklagten wurde gemäß psychiatrischen Gutachten erheblich verminderte Zurechnungsfähigkeit zugebilligt. Die Tragödie eines Menschen. 34 Jahre zählt der Angeklagte — ein menschliches Wrack. Teilnahmslos verfolgt er die Verhandlungen, wie wenn ihn die ganze Sache nichts anginge...
Sein Vater war ein Trunkenbold, die Mutter hat er in frühester Jugend verloren. „Dorfglünggi" nannte man den verwahrlosten Burschen in seinem Heimatort Weiach. War eine Scheibe eingeworfen, ein Huhn gestohlen, ein Zaun demoliert; wer war der Täter, wenn nicht der Meierhofer, der schon in jungen Jahren in den Fußstapfen seines Vaters wanderte? Bittere Armut und eine zerrüttete Ehe waren das traurige Milieu, in welchem seine schlechten Eigenschaften den denkbar günstigsten Nährboden fanden. Jeweilige Anläufe zur Besserung schlugen fehl. Es gebrach ihm an innerer Kraft und nirgends winkte ihm das Glück äußerer Hilfe, die sich seiner angenommen. Lange Arbeitslosigkeit demoralisierte den Haltlosen noch vollständig.»
Dorfglünggi?
Wer das Werk des Berner Troubadours Mani Matter intus hat, der kennt auch dessen Lied über die Schimpfworte, das so beginnt: «E Löu, e blöde Siech, e Sürmel une Glünggi...». Vier nicht über alle Zweifel erhabenen Typen geraten darin in handfesten Streit. Pikanterweise darüber, wer wem welchen Schimpfnamen korrekterweise zuweisen darf.
Das Online-Wörterbuch berndeutsch.ch erklärt den Glünggi mit «Tolpatsch, Trottel», gibt ihm also einen noch halbwegs tageslichttauglichen Anstrich. Aber es warnt auch explizit, im Glarnerland sei das eine «ziemlich böse Beschimpfung».
Konsultiert man die Autorität auf diesem Gebiet, das Schweizerische Idiotikon, dann findet auch der Laie dank Volltextsuche heraus, was es mit diesem Wort sonst noch so auf sich hat (und dass die Warnung berechtigt ist), vgl. Id 2, 635:
In diesem 1888 erschienenen Band wird Glüngg bzw. Glünggi als «1. etwas schlaff und baumelnd Herunterhängendes, wie z.B. schlecht angepasste, zerfetzte oder mit unnützen Zieraten behangene Kleider, ein Hängebauch, Kropf, Hodensack; 2. Ausbesserung, Ausflickung an alten Kleidern (wohl eig.: die Gesammtheit der aufgesetzten Lappen, Flickwerk)»; sowie abgeleitet davon als «3. unordentlicher, liederlicher Mensch, Lump» oder «4. faules, träges Tun, Benehmen» bezeichnet.
Bezeichnenderweise taufte ja Jeremias Gotthelf einen zentralen Schauplatz in seinem Roman Ueli der Pächter ausgerechnet auf den Namen 'Glungge', womit er «einen wegen seiner Unordnung berüchtigten Bauernhof» bezeichnet habe (Id. 2, 635 Glungge II).
Auch die Weiacher werden wohl eher die übleren Konnotierungen im Sinn gehabt haben, als sie dem Friedrich Meierhofer diese Bezeichnung anhängten. Doch lesen wir weiter im «Thuner Tägu»:
Die Ehe als Rettungsanker
Vielleicht, daß ihn eine fürsorgende Gattin hätte aufrichten und retten können. Im Herbst 1932 vertraute ihm ein Kollege, er wisse ihm eine Frau, am kommenden Morgen könne er sie treffen. Das Rendez-vous fand statt und man kam innert 24 Stunden überein, sich zu verehelichen. Obwohl der Mann wußte, daß seine Zukünftige, eine 25jährige Ausländerin, wegen unsittlichem Lebenswandel vor der Ausweisung stand und ihn selbst ihr eigener Vater vor seiner Tochter warnte, entschloß er sich in seiner Verzweiflung, diesen letzten Rettungsanker zu ergreifen. Die Ehe der beiden moralisch defekten Partner muß fürchterlich gewesen sein. Wüste Raufereien waren an der Tagesordnung. Zweimal kam es zur Scheidungsklage; beide Mal wurde sie wieder zurückgezogen. Der Mann ergab sich weiterhin dem Trunke, während sie gleich einer Straßendirne mit allerlei Männern Umgang hatte. Die Folge des frevelhaften Tuns war eine Geschlechtskrankheit, die sie in Spitalbehandlung zwang. In der Zwischenzeit verging sich der Mann an seinem 7 jährigen, komplett verdorbenen Stiefkind, das die Frau in die Ehe mitgebracht hatte. Während ihres Spitalaufenthaltes schrieb sie ihm reumütige Briefe, mußte aber gleichzeitig wegen unsittlichen Gebarens gegenüber Mitpatienten in eine besondere Abteilung gebracht werden.
Die Flucht im Nachthemd und der Schuß auf den Tramwagen.
Kurz nach der Heimkehr der Frau kam es zur beinahe unabwendbaren Explosion. Man schrieb den 22. Juni 1937; Den ganzen Tag trank der Mann in Wirtschaften herum. Eine Viertelstunde vor Mitternacht kehrte er angetrunken in die eheliche Wohnung an der Bederstraße in Zürich-Enge heim. Die Frau öffnete ihm im Nachthemd und versuchte einem Wutausbruch durch eine stürmische Umarmung zuvorzukommen. Zu ihrem Entsetzen ertastete sie in der Tasche des Mannes einen Revolver. Die Unzurechnungsfähigkeit des Mannes und ihr schlechtes Gewissen ließen sie das Schlimmste ahnen. Sie floh in die Küche und sprang zum Fenster hinaus auf den 3 Meter tiefer gelegenen Balkon des unteren Stockwerkes. Mit entsicherter Waffe in der Hand verfolgte sie der maßlos jähzornige Gatte. Sie gewann das Freie und stürzte sich nur mit einem dürftigen Hemd bekleidet in einen eben anhaltenden, mit Personen besetzten Tramwagen der Linie 13. Knapp hinter ihr her rannte der Mann, zielte mit der Schußwaffe durch die Scheibe auf die Frau und gab einen Schuß ab. Das Geschoß durchdrang die Scheibe, prallte aber an der Türe ohne Schaden anzurichten ab. (TT, 21. Januar 1938)
Interessant an der Schlussszene mit Showdown auf offener Strasse ist, dass das Tram 13 bereits damals (wie noch heute) die Bederstrasse entlang fuhr auf seinem Weg zum und vom Albisgüetli. Ebenso bemerkenswert ist, wie schon vor über 80 Jahren bis tief in die Nacht hinein Trams gefahren sind!
Ob diese Schussabgabe nun am 22. Juni (TT) oder 22. Juli 1937 (NZN) stattgefunden hat, das bleibe als nicht so entscheidendes Detail dahingestellt.
Quellen und Literatur
- Neue Zürcher Nachrichten, Band 34, Nummer 17, 21. Januar 1938 - S. 3. (Digitalisat)
- Oberländer Tagblatt, Band 62, Nummer 17, 21. Januar 1938 - S. 3. (Digitalisat)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen