Mittwoch, 21. Dezember 2022

Dem verbotenen Lockruf fremden Geldes erlegen

Kennen Sie Teófilo Romang? Das ist der Gründer der Kleinstadt Romang in der argentinischen Provinz Santa Fé, 750 km nördlich von Buenos Aires, eine eigentliche Schweizerkolonie, in der sich ab 1873 viele Auswanderer aus unserem Land niederliessen. 

Romang, der eigentlich Peter Wingeier hiess, stammte aus der Gemeinde Trubschachen im oberen Emmental. Dort findet sich an seinem Geburtshaus an der Hauptstrasse Nr. 10 (Les Verrières–Luzern), nahe dem Flüsschen Trueb, seit 1980 eine in spanisch verfasste Plakette zu seinen Ehren. Daneben eine weitere mit der deutschen Übersetzung.

Diese Tafeln erwähnen aber den Namen Wingeier (noch heute häufig in dieser Gegend) mit keinem Wort. Aus Gründen. Denn Peter Wingeier, ursprünglich angesehener Uhrmacher, geriet mit seinem Geschäft in finanzielle Schwierigkeiten, missbrauchte seine Vertrauensstellung, indem er öffentliche Gelder veruntreute und haute 1860 mitsamt den noch vorhandenen, ihm anvertrauten Mündelgeldern nach Argentinien ab. Unterwegs kaufte er der Witwe eines bei der Überfahrt verstorbenen Arztes aus Langnau i.E., Theophil Romang, die Papiere des Toten ab. Wingeier nahm dessen Identität an. Und praktizierte sogar als Arzt!!!

Da kann man schon von krimineller Energie reden. Und obwohl sein Sohn, der ihm als 14-Jähriger in die neue Heimat folgte, dort studierte und Advokat wurde, der Gemeinde Trubschachen den finanziellen Schaden vollständig zurückzahlte (und so ab 1905 auch ganz offiziell den Namen Romang tragen durfte), haben die Schächeler sich für eine Art der damnatio memoriae entschieden. Über diesen Wingeier redet man nicht. Immerhin ist seine Tat auch nach heutigem Strafgesetzbuch (Art. 138 Ziff. 2 StGB) ein Verbrechen, auf das bis zu 10 Jahre Gefängnis stehen.

Planlose spontane Dummheit

Ein Weiacher namens Rudolf Baumgartner (ohne Alias-Namen) wird aller Wahrscheinlichkeit nach nie eine solche Plakette erhalten. Seine Taten, im Alter von 19 bzw. 29 Jahren begangen, wiewohl auch in den Bereich der Veruntreuung einzureihen, sind doch eher als jugendliche bzw. spätpubertäre Dummheiten einzustufen. Gegen das Gesetz und kriminell. Ja. Aber kriminelle Energie geht anders. Das muss man zumindest schliessen, wenn man die nachstehende Gerichtsberichterstattung aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 8. September 1879 liest:

«Rudolf Baumgartner u. Gen. (21. August) Rudolf Baumgartner von Weiach, geboren 1850, verheirathet, kinderlos, 1869 wegen Unterschlagung bestraft, Dienstmann in Zürich, wohnhaft in Außersihl, wurde von der Handelsbank in Zürich öfter zum Einzug von Wechseln verwendet und empfing am 30. Juni d. J. 18 solcher im Gesammtbetrag von ca. Fr. 10,000 zu diesem Zweck.» [Umgerechnet nach dem Historischen Lohnindex HLI von Swistoval wäre das über eine halbe Million!] 

«Nachdem er am Morgen einige Wechsel im Betrag von Fr. 1174 eingezogen [nach HLI umgerechnet: 63'700 CHF], begegnete er auf seinem Weg beim Bahnhof einem Bekannten, dem Schlosser Gugolz von Außersihl, einem arbeitsscheuen Strolch von 21 Jahren, den er zu einem Glas Bier einlud. Beide sprachen, Anfangs scherzweise, dann ernsthaft, vom Durchbrennen mit dem eingezogenen Geld, Baumgartner, indem er sich über seinen häuslichen Unfrieden beklagte, Gugolz, weil er keine Arbeit und ebendarum kein Geld habe. Beide spazierten mit einander nach Enge zur Papierfabrik.» [Gemeint: Papierfabrik an der Sihl nahe der Saalsporthalle; die Fabrik stand auf Wiediker Boden] 

«Hier gab Baumgartner dem Gugolz Geld, damit er ihm in Zürich einen Zivilanzug kaufe und bringe, da er in der Dienstmännerkleidung unmöglich durchbrennen könne. Wirklich ging Gugolz nach Zürich, kaufte einen Anzug und brachte ihn Baumgartner, der jetzt seine Dienstmannsuniform auszog und sie mit Steinen beschwert in der Sihl versenkte. Gleichzeitig schenkte er Gugolz großmüthig Fr. 100 von dem eingezogenen Geld und schickte ihn noch einmal in die Stadt, mit dem Auftrag, ihm einen Revolver zu kaufen, „da er lebend der Polizei nicht in die Hände fallen wolle“. 

Beide wollten sich dann „im Sternen“ wieder treffen, um gemeinsam durchzubrennen. Gugolz ging, kam aber nicht wieder. Baumgartner, den das lange Warten im „Sternen“ verdroß, ging endlich allein fort, zog von Wirthshaus zu Wirthshaus und wurde am späten Abend betrunken in der „Schützenhalle“ in Außersihl, auf Klage der Handelsbank längst von der Polizei verfolgt – verhaftet. Er trug noch Fr. 926.10 auf sich. 

Am andern Tag wurde auch Gugolz, der sich am vorhergehenden Abend und in der Nacht in Wirthshäusern und Bordellen herumgetrieben hatte, im Konsum in Unterstraß, wo er renommirte und „wixte“ – am Kopf genommen.» [Was der mundartliche Begriff «wixen» wohl bedeutet hat? Eine Handlung, die geeignet war, öffentliches Ärgernis hervorzurufen? Letzteres, was wir heute darunter verstehen würden, wohl eher nicht, zumindest erwähnt die NZZ nichts dergleichen.]

«Baumgartner ist nun der Unterschlagung von Fr. 147.90 (die dem Gugolz geschenkten Fr. 100 und für sich verbrauchten Fr. 47.90) und des Versuchs von Unterschlagung weiterer Fr. 926.10, indem er diese Summe aus dem Säckchen der Handelsbank genommen und in seine Tasche gesteckt hatte, um damit durchzubrennen und Gugolz ist der Gehülfenschaft zu diesem Versuch, indem er zum Zweck der Flucht dem Baumgartner den Zivilanzug verschafft und der Hehlerei im Betrag von Fr. 100 (der geschenkten) angeklagt. Beide erklärten sich schuldig und wurden: Baumgartner zu acht Monaten Arbeitshaus (ab 5 Wochen), Gugolz zu 6 Monaten Gefängniß (ab 7 Wochen) verurtheilt.» [«ab» bedeutet eine (partielle) Anrechnung der Untersuchungshaft]

Was ist mit den Wechseln passiert?

Über den Verbleib der noch nicht in Bargeld umgesetzten Wertpapiere schweigt sich die NZZ aus. Dafür findet man in der Züricherischen Freitagszeitung (Bürkli-Zeitung) vom 19. September nachstehendes Inserat des Bezirksgerichts Zürich, wonach die Handelsbank offenbar nur fünf der am Tage der Deliktbegehung dem Dienstmann Baumgartner zum Einziehen «übertragene und von diesem angeblich in die Sihl geworfene Wechsel» im Gesamtbetrag von rund 3600 Franken vermisste:

Da Baumgartner laut NZZ nur 1174 Franken unterschlagen hat, so muss angenommen werden, dass er auch noch im Besitz von einigen Wechseln war, als man ihn verhaftet hat, es sei denn, der im NZZ-Beitrag genannte Gesamtwert von rund 10'000 Franken sei unzutreffend.

Erstaunlich milder Richterspruch

Wie dem auch sei: Die vom Richter ausgesprochene Strafe erscheint verglichen mit dem maximal möglichen Strafrahmen und angesichts des Umstandes, dass Baumgartner einschlägig vorbestraft war, doch recht mild. Die Tat wurde nämlich nach den §§ 171 bis 173 des kantonalen Strafgesetzbuches beurteilt:

«§ 171. Der Unterschlagung macht sich schuldig, wer sich eine in seinem Besitz oder Gewahrsam befindliche fremde bewegliche Sache rechtswidrig zueignet. Die Unterschlagung ist vollendet, sobald der Besitzer die Sache dem zur Zurückforderung Berechtigten wissentlich abgeleugnet oder auf andere Weise seine Absicht, über dieselbe wie über sein Eigenthum zu verfügen, zu erkennen gegeben hat.

§ 172. Die Unterschlagung wird, wenn der Betrag derselben 500 Franken oder weniger ausmacht, mit Gefängniß oder Arbeitshaus bis zu fünf Jahren, in gelindern Fällen mit bloßer Geldbuße bis zu 50 Franken, bei einem Betrage von mehr als 500 Franken mit Arbeitshaus, in schwereren Fällen mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft.

§ 173. Abgesehen von dem Betrage kommt bei der Strafzumessung als strafschärfend insbesondere in Betracht:
a. wenn die Unterschlagung verübt wurde von Vormündern, Bevollmächtigten, Verwaltern, Rechnungsführern, Depositaren, Beamten und Angestellten der Post, Fuhrleuten, Boten, Schiffern, sowie von den bei Aktiengesellschaften, Eisenbahn- oder Dampfschifffahrtsunternehmungen angestellten Personen an Sachen, die ihnen in Folge ihrer Stellung anvertraut werden müssen;
b. von einem Wirthe an seinem Gaste, von Dienstboten oder andern in der gleichen Haushaltung lebenden Bediensteten an Sachen, die ihnen von ihrem Dienstherren oder den Seinigen anvertraut wurden.»

Das Strafgesetzbuch für den Kanton Zürich sah drei Arten von Freiheitsstrafen vor: Zuchthaus, Arbeitshaus sowie Gefängnis. 

Die ersten beiden Kategorien mussten in Strafanstalten verbüsst werden, mit entsprechender Arbeitspflicht der Insassen. Laut § 5 konnten lebenslängliche Zuchthausstrafen verhängt werden, aber auch zeitlich begrenzte zwischen 1 und 15 Jahren. Arbeitshausstrafen dauerten im Minimum 6 Monate, maximal 10 Jahre. Dem Gericht blieb aufgrund von § 172 nichts anderes übrig, als Baumgartner zu einer Arbeitshausstrafe zu verurteilen, blieb aber im untersten Bereich des Strafrahmens.

Auch sein Kumpan Gugolz profitierte von der Richtermilde. Er wurde lediglich ins Gefängnis gesteckt, wo er nicht hätte arbeiten müssen (jedenfalls dann, wenn er den angerichteten Schaden finanziell hätte gutmachen können, was kaum zu erwarten ist), denn §10 des Strafgesetzes lautete: 

«Die Gefängnißstrafe besteht darin, daß der Verurtheilte in eine Verhaftsanstalt eingeschlossen wird. Die Auswahl der Nahrung und der Beschäftigung steht ihm innerhalb der Schranken der Hausordnung frei, wenn er den gestifteten Schaden ersetzt und die Gerichtskosten bezahlt hat, sowie die Kosten des Unterhaltes zu bestreiten vermag. Im andern Falle wird er reglementarisch beköstigt und angemessen beschäftigt.»

Quellen

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