Montag, 26. Dezember 2022

Identitätspolitik mit dem Kalender

Kennen Sie Aloisius Lilius? Das war der Mediziner, Astronom und Philosoph aus Kalabrien, der spätestens 1575 das kalendarische Ei des Kolumbus geliefert hat: Eine Korrektur des Julianischen Kalenders, die die Datierung nicht nur wieder mit der Astronomie in Einklang zu bringen, sondern auch künftig dort zu halten versprach. Mit dem Gregorianischen Kalender laufen die noch verbleibenden Differenzen zum Sonnenlauf (ca. 26 Sekunden) erst nach über 3000 Jahren zu einem ganzen Tag auf.

Falscher Absender. Auswirkungen bis heute.

Nun stellen Sie sich vor, Sie seien in einem Umfeld voller in der Wolle gefärbter Woke-Links-Grüner tätig. Und erfahren von dieser mathematisch-astronomisch genialen Lösung. Die hat, das müssen Sie im stillen Kämmerlein konstatieren, eigentlich nur Vorteile, besonders für den internationalen Handel. Alles wäre paletti. Wäre. Wenn denn diese Lösung nicht von der falschen Seite käme.

Das Problem: dieser Kolumbus ist ein SVPler! Und das Schlimmste: der Godfather der weltweiten Verschwörung dieser rechtsextremen Gläubigen aller Nationen (ein Gottseibeiuns, bekannt unter dem Namen Papst Gregor XIII.) hat dieses Ei mit der Bulle Inter gravissimas auch noch hochoffiziell zum neuen Goldstandard erklärt. «Ganz übel! Schlimm! Geht gar nicht!!!», findet ihr Umfeld. Denn dessen quasireligiös motivierte Ideologen tun ihre Verachtung mit lautstarker Vehemenz kund und nageln jeden an die Wand, der anderer Meinung ist.

Da könnten Sie heutzutage ebensogut behaupten, es gebe nur zwei Geschlechter, Mann und Frau. Der sicherste Weg, Ihre Karriere mit Vollgas an die Wand zu fahren. 

Damals wie heute: Es geht um zutiefst weltanschauliche Fragen. Diese waren der eigentliche, tiefere Grund für die Ablehnung der Gregorianischen Kalenderreform.

«Eher soll unsre Stadt untergehen, als daß wir den neuen Kalender annehmen»

Das rund 115 Jahre dauernde Kalenderschisma zwischen Kaiserstuhl und Weiach basierte auf diesen ideologischen Begründungen. Dieselben, auf denen die Weltuntergangsrhetorik fusste, die die Bülacher nach der obrigkeitlichen Anordnung, per 1. Januar 1701 auf den neuen Kalender wechseln zu müssen, gepflogen haben sollen (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 105).

Die Ideologen der oben erwähnten Woke-Links-Grünen, das waren Ende des 16. Jahrhunderts die massgebenden Theologen der Zürcher Staatskirche und ihrer Pendants in Bern, Genf, etc. Es war letztlich nur eine hartnäckige Identitätspolitik, die in reformierten Gebieten eine mathematisch-naturwissenschaftlich nicht zu leugnende Differenz von 1 Tag in 128 Jahren (vgl. Fourmilab Calender Converter) zur astronomischen Realität während fast einem Dutzend Jahrzehnten par ordre de mufti schlicht wegdefiniert hat.

Die letzten offiziellen Rückzugsgefechte im Kalenderstreit fanden hierzulande 1812 im Kanton Graubünden statt, als nach einem Beschluss des Grossen Rates die Gemeinden Schiers und Grüsch zum Wechsel auf den neuen Datierungsstil gezwungen werden mussten. 

In den Klöstern der Mönchsrepublik Athos aber und bei der Festsetzung des Datums des Alten Silvesters auch im Appenzeller Hinterland, da gilt er weiterhin, der julianische Kalender aus der Römerzeit. Auf den bezieht sich der Hinweis auf die Antike im gestrigen WeiachBlog-Artikel

Wintersonnenwende am 25. Dezember?

Die astronomische Wintersonnenwende ereignet sich am 21. Dezember, das ergibt sich aus der Setzung des Frühlingsäquinoktiums auf den 21. März, welche am Ersten Konzil von Nicäa im Jahre 325 vorgenommen wurde. An diesem Konzil wurde nämlich das Osterdatum verbindlich festgelegt, und zwar auf den ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond im Frühling. Dieses Jahr in der Regierungszeit des Kaisers Konstantin des Grossen ist daher unser Referenzpunkt.

Weil aber das julianische Jahr verglichen mit dem tatsächlichen Lauf der Erde um die Sonne um 11 Minuten und 13 Sekunden zu lang ist, verschiebt sich über die Jahrhunderte hinweg sozusagen das Koordinatensystem. Bis zu Papst Gregor XIII. waren seit Nicäa 10 Tage aufgelaufen, die gemäss seinem Dekret übersprungen werden mussten. 

Eigentlich hatte man dieses Problem bereits im Jahre 325 erkannt (die Leute konnten auch da schon rechnen). Hrabanus Maurus (um 840), Roger Bacon (1263/65) und Nikolaus Kopernikus (1514) hatten Korrekturen vorgeschlagen und auch die Konzilien von Konstanz (1414–18) und Basel (1431–48) befassten sich mit der Materie. Hätte man die Reform damals schon durchgezogen (und nicht erst nach der Reformation), dann würden die Silvesterkläuse in Appenzell-Ausserrhoden nicht mittlerweile am 13. Januar nach gregorianischer Datierung auf ihre identitätspolitische Tour gehen.

Traditioneller Jahresbeginn im Natalstil

Die Wintersonnenwende wanderte julianisch-kalendarisch ebenfalls mit. Eine Verschiebung von vier Tagen auf 25. Dezember wurde schon im Jahre 838 erreicht. Und nicht bereits kurz vor dem formellen Ende des Weströmischen Reiches (im Jahre 476, am Übergang von der Spätantike aufs Frühmittelalter), wenn man Julius Caesar und seine Kalenderreform um das Jahre 47/46 v. Chr. als Referenz nimmt, wie das die Verfechter der These des Erfundenen Mittelalters tun.

Wenn man also in der Diözese Konstanz (zu der das heutige Züribiet offiziell rund 1200 Jahre gehört hat), im Mittelalter den Jahresanfang im sogenannten Natalstil auf den 25. Dezember festsetzte (vgl. WeiachBlog Nr. 1431, Kapitel 3), dann begann das Jahr am Weihnachtstag bereits damals sozusagen zu früh. 

Zum Zeitpunkt des Ersten Geschworenen Briefes (Brun'sche Zunftverfassung 1336) als in Zürich die Daten für die Amtsübergaben zwischen Natalrat und Baptistalrat festgelegt wurden (vgl. WeiachBlog Nr. 1880), war das astronomische Phänomen der Wintersonnenwende im Vergleich zum Konzil von Nicäa 325 nämlich auch schon wieder 7.87 Tage weitergewandert, also auf den 29. Dezember.

Dass das neue Jahr 1336 nach damaliger Vorstellung trotzdem noch an Weihnachten begann (und die Zürcher die Bezeichnung Natalrat noch bis 1798 durchgezogen haben, wie die Ratsmanuale des Natalrats zeigen, dessen Sitzungen bereits in der Altjahrswoche begannen), hat somit einiges mehr mit Tradition zu tun als mit einer wissenschaftlich abgestützten, über lange Zeiträume konsistenten Chronologie. 

Ideologie ade. Ohne Aufsehen zu erregen. 

Diesen Umstand muss man bei der Transkription und Edition auf dem Schirm haben. Nicht nur bei Urkunden aus dem Mittelalter, wie der von 1166 (oder doch 1167?) über Wiach am Randen (vgl. WeiachBlog Nr. 1431), sondern auch bei den Zürcher Ratsbüchern. Wenn da gemäss Ratsmanual von 1701 (StAZH B II 672) am 28., 30. und 31. Dezember Sitzungen stattgefunden haben, dann sind das noch Tage des Jahres 1700. 

Bild: Beginn des 18. Jahrhunderts im Ratsmanual des Natalrates des Stadtschreibers auf Seite 6 des Jahresbandes 1701

Die erste Sitzung des 18. Jahrhunderts (Seculum XVIII) fand am 15. Januar statt (StAZH B II 672, S. 6). Der 1. Januar nach julianischer Zeitrechnung war gleichzeitig der 12. Januar nach gregorianischer Zeitrechnung.

Was aussieht wie zweiwöchige Ferien der Zürcher Regierung nach dem 31. Dezember 1700, ist somit in Tat und Wahrheit der Vollzug der Kalenderreform mit rund 115 Jahren Zeitverzug. Normaler Sitzungsrhythmus halt. Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen!

Quellen und weiterführende Literatur

  • Gutzwiller, H.: Kalender. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 15.01.2018.
  • Brandenberger, U.: Hundertundfünfzehn Jahre auf der Datumsinsel. Warum Weiach und Kaiserstuhl einst nicht die gleiche Zeitrechnung hatten. Weiacher Geschichte(n) Nr. 105. Ursprünglich erschienen in: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, August 2008. Stand: Mai 2019.
  • Brandenberger, U.: Keine Allerheiligen-Connection und ein paar Kalenderbetrachtungen. WeiachBlog Nr. 1431 v. 3. Dezember 2019.
  • Brandenberger, U.: Machtwechsel! Ab Weihnachten regierte der Natalrat. WeiachBlog Nr. 1880 v. 25. Dezember 2022.

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