Vor rund zweieinhalb Jahren hat sich eine Neuzuzügerin über meine Unterscheidung zwischen Alteingesessenen und Neo-Weiachern echauffiert (vgl. Quellen). Bei einem solchen Thema kommt es natürlich auf die Begriffsdefinitionen an. Wann gilt jemand als Alteingesessener?
Ohne jetzt eine fixe Grenze festlegen zu wollen: diejenigen Familien, deren Weiacher Bürgerrecht auf die Zeit vor 1798 zurückgeht, gehören aus Sicht des Ortshistorikers mit Sicherheit dazu. Wenn das Bürgerrecht bis heute besteht, sowie land- und forstwirtschaftliches Grundeigentum gehalten wird, dann muss man diese Geschlechter mit Fug und Recht als Alteingesessene bezeichnen. Zumal dann, wenn überdies Abkömmlinge in direkter Linie zivilrechtlichen Wohnsitz in Weiach haben. Diese Leute sind sozusagen der Kernbestand der Weiacher Wohnbevölkerung – ein mittlerweile ziemlich kleiner Prozentsatz.
Alamannischer Migrationshintergrund
Natürlich hat jeder hier Lebende letztlich eine Art Migrationshintergrund. Dazu muss man nur genügend weit zurückgehen. Denn auch die Alamannen, zu deren Abstammungs- und Kulturkreis die überwiegende Mehrheit der Deutschschweizer Stammbevölkerung gehört, sind in grösserer Zahl erst ab dem 7. Jahrhundert südlich des Rheins sesshaft geworden. Samt der über die Jahrhunderte unvermeidlichen familiären Vermischung mit den Restbeständen des römischen Reichs, der galloromanischen Provinzialbevölkerung.
Eins dieser Geschlechter nach meiner obigen Definition sind die Griesser. Dieser Familienname ist seit mindestens einem halben Jahrtausend mit Weiach verbunden. Der schweizweit wohl bekannteste Namensträger, der noch in Weiach wohnt, ist der Herdöpfel- und Tomaten-Experte Stefan Griesser (vgl. Quellen).
Wurzeln im Klettgau
In Deutschland findet man den Namen Grießer an 279 Orten, in der Schreibweise Griesser in der Schweiz an 119. Man beachte insbesondere den Cluster im baden-württembergischen Klettgau (heute: Südostteil des Landkreises Waldshut) und den grossen roten Kreis im Nordwesten des Kantons Zürich, der für Weiach steht. Der süddeutsche Cluster hat exakt die Ausmasse der früheren Landgrafschaft Klettgau (in den Grenzen von 1657 bis 1806):
Der Marktflecken Grießen im Klettgau ist sozusagen nur einen Katzensprung von uns entfernt. Er liegt am Nordfuss des Kalter Wangen, dessen Südflanke wir von Weiach aus sehen können. Wenn man den Familiennamen als Herkunftsbezeichnung versteht, dann liegt die alte Heimat der Griesser also gleich hinter dem Berg.
Dieser Hügelzug, der sich von Kadelburg (nahe Bad Zurzach) über die Küssaburg (634 m ü.M.), den Wannenberg (690 m ü.M.), den Kalter Wangen (671 m ü.M.) und den Gnüll (589 m ü.M. oberhalb Wasterkingen) bis nach Lottstetten erstreckt, ist altes Klettgauer Gebiet, das Rafzerfeld eingeschlossen.
Der Klettgau wird teilverschweizert
Den Grafen von Sulz fiel dank ihrer ehelichen Verbindung mit einer Tochter des Hauses Habsburg-Laufenberg im Jahre 1408 die Landgrafschaft Klettgau zu (inkl. der nach 1521 zu schaffhausischen Gebieten gewordenen Teile). Die Zürcher erwarben sich 1409 die Herrschaften Regensberg und Bülach, 1424 die Grafschaft Kyburg, wozu auch Weiach gehörte.
Derjenige Teil des Landgrafschaft Klettgaus, zu dem Hohentengen am Hochrhein, Stetten, Günzgen und Griessen gehörten, blieb auch nach 1657 Reichsboden, gehörte also staatsrechtlich weiterhin zum Heiligen römischen Reich deutscher Nation. Kurz nach dem 30-jährigen Krieg änderte sich das hingegen für die Gebiete nördlich des Eglisauer Brückenkopfs, weil die Grafen von Sulz in Geldnöten waren und daher den Städten Zürich resp. Schaffhausen ihre landesherrlichen Hoheitsrechte über das Rafzerfeld (1651) bzw. Buchberg und Rüdlingen (1657 zusammen mit weiteren Teilen des nordöstlichen Klettgau) verkaufen mussten. Die beiden eidgenössischen Städte waren bekanntlich mit dem Westfälischen Frieden von 1648 staatsrechtlich auch de jure unabhängig vom Reich geworden (de facto bereits seit dem Schwabenkrieg 1499; das älteste Bündnis der Schaffhauser mit den Eidgenossen datiert auf 1454).
Sulzische Untertanen werden auf eigene Faust Zürcher
Der Ort Griessen hat übrigens schon 1468 versucht, eidgenössisch zu werden, was aber misslang. Wenn jedoch ihre Landesherren 1488 in eigener Person Schweizer werden konnten, nämlich durch den Erwerb des Landrechts der Stadt Zürich, liessen sich dies auch einige sulzische Untertanen nicht entgehen. Sie konnten sich in Weiach niederlassen und erwarben das dortige Bürgerrecht.
Laut Familiennamenbuch der Schweiz ist Weiach die einzige Schweizer Gemeinde, in der die Griesser vor Ende des Ancien Régime das Bürgerrecht erwarben.
In welchem Jahr dies der Fall war, liegt bisher im Dunkeln. Der älteste dem hier Schreibenden bislang bekanntgewordene Nachweis datiert auf das 1517.
Heini Griesser muss Geld aufnehmen
Und wie so oft handelt es sich um ein Finanzinstrument, beschrieben in einer Urkunde, die im Kaiserstuhler Stadtarchiv liegt. Konkret: um eine am 28. Januar 1517 besiegelte Gült, die in diesem Fall auf einem Ertragsanteil eines bestimmten Weiacher Landwirtschaftsbetriebs lastete.
Das Regest im Aargauer Urkundenbuch (AU XIII, Nr. 150) lautet wie folgt:
«1517 I. 28. (uff mitwoch nechst nach Pauli bekerung)
Heini Griesser von Wiach verkauft Hanssen Stollen, burger und des rats zuo Keyserstuol, die Gülte von 1 mütt guotz subers und wolgelutrotz vesen kernes Keyserstuoler meß, die jährlich auf sant Martistag zu entrichten ist, ab minem halben teyl deß güttlis zu Wiach gelegen, daß man nempte deß Schmidlis güttly, und gienge vorhin järlich darab ab minem teyl 6 stuck und l fiertel, sust fry ledig eygen. Der Kaufpreis beträgt 12 Gl. an guotter Schaffhuser müntz.
Bürgen: Heini Brem, Hanß Aberly, Welti Fust und Cleuwi Kung, all vier von Wiach. Fertigung; Währschaftsversprechen; der Verkäufer behält sich das Wiederablösungsrecht vor.
Erbetner Siegler: Barthlome Rösle, burger und des ratz zuo Keyserstuol. - Orig. Perg. StAK Urk. 133, besch. S. hängt.»
«Vesen» ist ein alter Begriff für die Getreideart Dinkel (vgl. Wikipedia sowie Idiotikon I, 1069, Bedeutung 2). Sauber und wohlgeläutert bedeutet, dass es sich um entspelzten Dinkel handeln muss.
Unklar ist, ob wir eine Privaturkunde vor uns haben, oder das Geschäft vor einem Gericht (Stadtgericht Kaiserstuhl oder Dorfgericht Weiach) gefertigt wurde. Aufgrund des Sieglers (eines Ratskollegen von Stoll) und der fehlenden Angabe des Gerichtsvorsitzenden tendiere ich auf ersteres.
Nachrangige Forderung
Hans Stoll von Kaiserstuhl investierte also 12 Gulden in Schaffhauser Währung (die örtlich übliche Geldeinheit, vgl. WeiachBlog Nr. 1601) in ein Wertpapier. Sein Wertanteil war 1 Mütt Kernen ab derjenigen Hälfte des Schmidlis Güetly, das dem Heini Griesser gehörte. Und wie das heute bei einer Hypothek ist: festgehalten ist auch der Rang dieser Forderung. Sie kommt nämlich nach Bezahlung der bereits darauf lastenden 6 Stuck 1 Viertel zur Auszahlung, wobei 1 Stuck = 1 Mütt. Total belasteten Heini Griessers Ackerland nun also Abgaben im Wert von 7.25 Mütt.
Nach den in Kaiserstuhl geltenden Hohlmassen für entspelztes Getreide (vgl. WeiachBlog Nr. 117) fasste ein sog. Viertel 22.42 Liter, d.h. pro Mütt rund 90 Liter entspelztes Getreide. Jährlich an Martini (11. November) wurde somit ein Betrag fällig, der einem bestimmten Prozentsatz des Handelswerts dieses Mütt Kernen entsprach (üblich waren 5 Prozent).
Quellen und Literatur
- Kläui, P.: Die Urkunden des Stadtarchivs Kaiserstuhl. Aargauer Urkunden Bd. 13 (AU XIII), Verlag Sauerländer, Aarau 1955.
- Entspelzt oder unentspelzt? (Mass und Gewicht 4). WeiachBlog Nr. 117 v. 1. März 2006.
- Als Weiach zum Schaffhauser Wirtschaftsgebiet gehörte. WeiachBlog Nr. 1601 v. 13. Oktober 2020.
- Tina Pilla, Neuzuzügerin: Beitrag vom 16. März 2021 in der Facebook-Gruppe «Du bisch vo Weiach, wenn...».
- Hinweis vom 25. Juli 2021 auf ZU-Bericht über Stefan Griesser, Alteingesessener und Kartoffelsaatgutexperte. [Gasser, B.: Kartoffeln aus aller Welt in Weiach. 1000 verschiedene Härdöpfel von Gelb über Rot bis Violett. In: Zürcher Unterländer Online, 24. Juli 2021, 11:32]
- Stefano Ravara (ed.): Projekt «Mappa Dei Cognomi» 2017-2023. URL: www.kartezumnamen.eu
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