Donnerstag, 2. November 2023

«Im Land ume vögele». Was tut ein Gassenvogel?

Pfarrer Rudolf Hüsli, der für Weyach zwischen 1555 und 1557 zuständige Seelsorger, kannte sich nicht nur mit Vögeln aus. Er verstand sich auch auf klare Sprache und deutliche Worte. Was ihm im Dezember 1555 als Pfarrer des südlich der Stadt Winterthur gelegenen Bauerndorfes Töss zum Verhängnis wurde. 

Denn Kritik an der Sozialpolitik der Regierung in Zürich, wie er sie in einer Predigt ab der Kanzel geäussert hatte, das ging gar nicht. Vor allem da sie überdies auch noch zutreffend war. Hüsli wurde kurz darauf aus dem Bett heraus verhaftet und in den Gefängnisturm Wellenberg gesteckt.

Wenige Tage später erledigte die Obrigkeit die Angelegenheit für alle Seiten gesichtswahrend, setzte Hüsli als Pfarrer von Töss ab und verdonnerte ihn zum Bewährungsdienst in einem kleinen Nest nahe dem Rhein, für das die Regierung das Recht auf die Pfarrwahl innehatte: Weiach.

Besserer Job dank Vogelbuch?

Um den Job als Pfarrer für Weyach riss sich in diesen ersten Jahren nach der Reformation keiner. Denn es gab damals bei uns nicht nur kein Pfarrhaus (was ein- bis zweimal die Woche je sechs Stunden Fussmarsch hin und zurück in die Stadt Zürich bedeutete), die Position war überdies auch noch so schlecht besoldet, dass man davon unmöglich eine Familie durchbringen konnte. Hüsli hatte aber zu diesem Zeitpunkt bereits eine Ehefrau und zwei kleine Kinder (vgl. WeiachBlog Nr. 432).

Im Bemühen rehabilitiert zu werden und wieder eine bessere Pfarrstelle zugesprochen zu erhalten, übersetzte Hüsli in seiner Weiacher Zeit das Vogelbuch des berühmten Conrad Gessner aus dem Lateinischen ins Deutsche und widmete es der Zürcher Regierung. Mit Erfolg: 1557 wurde ihm die Pfarrei Zollikon übertragen. Nur so, als braver Systemkonformer, konnte er sich zehn weitere Kinder leisten.

Wenn Eier nichts taugen

Doch zurück zu den Vögeln. In seiner Übersetzung findet man mehrfach die Wörter «g(e)vogel» bzw. «ungevogel» (Id. I 698). Damit hat er, wie man dem Schweizerdeutschen Wörterbuch, dem Idiotikon, entnehmen kann, den Zustand von Vogeleiern bezeichnet: befruchtet oder unbefruchtet. Ebenfalls aus Hüslis Übersetzung stammt die Binsenweisheit, Eier von Tauben ohne Kuter (das ist die männliche Taube) seien «ganz ungevogel und unnütz». (Id. I 699)

Und wenn Sie jetzt bereits die Verbindung zu einer Tätigkeit gemacht haben, durch welche die Befruchtung natürlicherweise zustandekommt, dann liegen Sie völlig richtig:

«vogeln vögeln Vb. ‘miteinander schlafen’, spätmhd. vog(e)len ‘begatten’ von Tieren, besonders von Vögeln, danach auch (meist mit Umlaut) vögeln von Menschen (15. Jh.). Herkunft ungewiß. Vielleicht hervorgegangen aus fegeln, mhd. vegeln, einem Iterativum zu fegen ‘reinigen, kehren’, auch ‘reiben, mit kurzen, raschen Bewegungen wischen’ (s. d.), mhd. vegen (in diesem Sinne semantisch vergleichbar mit ficken, s. d.), mit früher (teils euphemistischer, teils lautspielerischer) Angleichung an Vogel bzw. vogeln, vögeln.» [vgl. Eintrag in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Akademie der Wissenschaften der DDR, Lexikographen-Gruppe unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer (1922-2020)]

Dass dieses Wort in schriftlicher Form erst im 15. Jahrhundert auftaucht, heisst nicht zwingend, dass es erst damals entstanden ist. Da es zu einem fundamentalen Erkenntniszusammenhang aus dem bäuerlichen Alltagslebens gehört, könnte das Wort auch weitaus älter sein und aus einer Zeit stammen, in der schriftliche Aufzeichnungen viel seltener waren. Denn breite Verfügbarkeit von Papier ist in deutschsprachigen Gebieten erst ab dem 14. und v.a. 15. Jahrhundert anzusetzen (vgl. Verbreitung der Papierherstellung in Europa).

Der Vergleich menschlicher Sexualität mit derjenigen von Tieren macht die Angelegenheit zusätzlich anstössig, ja geradezu vulgär, was sittenstrengen Obrigkeiten, die die unausweichlich ins Haus stehenden Folgen solchen Tuns fürchteten, natürlich nicht gefallen konnte.

Mandat der Stadt Zürich betreffend Unzucht junger Leute

Ein Jahrhundert nach Hüslis Weiacher Zeit hat die Zürcher Obrigkeit keine Kosten gescheut und ihre obrigkeitlichen Anordnungen zur Eindämmung ärgerlichen bis gefährlichen Treibens auf Papier drucken lassen.

So im Jahre 1658 die erneuerte «Satzung und Ordnung Wider herfuͤrbrechende allerley muhtwillig- und lychtfertigkeiten / wie auch das naͤchtliche gassen voglen / und darby verlauffende vilfaltige frefel.» (SSRQ ZH NF I/1/11 26; 1658 Juli 7)

Auch zehn Jahre nach dem Westfälischen Frieden 1648, der der Schweiz die staatsrechtliche Unabhängigkeit vom Hl. Römischen Reich deutscher Nation brachte, führt der Zürcher Staat den Reichsadler samt Krone auf dem Wappen. Nur eine Sparmassnahme?

Sandra Reisinger, die Bearbeiterin desjenigen Bandes aus der Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, der eine Auswahl an Zürcher Mandaten versammelt (SSRQ ZH NF I/1/11), fasst diese Verordnung in ihrem Regest wie folgt zusammen:

«Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich wiederholen ältere ähnliche Mandate und verbieten das nächtliche Zusammenkommen der jungen Knaben und Mädchen in den sogenannten Lichtstubeten, Weidstubeten, im Wald und auf den Allmenden. Auch an den Sonntagen sind diese Treffen sowie das Baden, Tanzen und Musizieren bei Strafe verboten. Die Bewohner der Landschaft werden speziell auf das Verbot hingewiesen. Alle Amtsträger, Pfarrer und Familienmitglieder sollen den Jungen ausserdem ein Vorbild sein, sie von unzüchtigem und unehrenhaftem Verhalten abhalten und bei Nichtbefolgung dies der Obrigkeit melden. Damit alle Bewohner Zürichs Kenntnis des Mandats haben, soll es zwei Mal jährlich verlesen werden.»

Vorschriften einhämmern. Wirkt nachhaltig.

Mindestens zwei Mal jährlich, muss man dazu ergänzen, denn der letzte Satz des Mandats, der zugleich auch eine Aufforderung an die Pfarrherren ist, lautet:

«Und dannethin damit sich niemand einicher unwuͤssenheit zuentschuldigen / so gebietend Wir fehrners / und ist hiemit Unser befelch / will und meinung / daß soͤlich Unser Ansehen uf das wenigist des jahrs zweymal offentlich verlesen werde / damit also ein jeder und jede sich darnach zuverhalten / und ihnen selbsten vor schmaach und schaden zusyn wuͤssind.» [Unterstreichung durch WeiachBlog]

Repetitio est mater studiorum. Will heissen: Was man den Leuten regelmässig einhämmert, das bleibt haften, allenfalls sogar wortwörtlich. Jedenfalls geht es in Fleisch und Blut über. Die soziale Kontrolle im Bauerndorf bewirkt dann ein Übriges und die Strafbewehrung sowie Stigmatisierung bei Verstössen sichert den gewünschten Effekt nachhaltig. Wie nachhaltig, das sieht man an Reaktionen wie derjenigen von Mina Moser (1911-2017), die noch im Alter von über 90 Jahren gezögert hat, allein (d.h. ohne männliche Begleitung) das Wirtshaus zum Wiesental zu betreten (vgl. WeiachBlog Nr. 1409).

Aber man muss dranbleiben. Gerade bei der Jugend.

Reisingers Zusammenstellung ist längst nicht die erste, die es zu diesen Mandaten gibt. Besonders wertvoll auch für Laien (und dilettierende Ortshistoriker, wie es der Autor dieser Zeilen ist) sind nebst der Zugänglichkeit (online jederzeit frei abrufbar unter: https://rechtsquellen.sources-online.org) die Kommentare zu den einzelnen Mandaten, die man übrigens nicht nur in Transkription und vollem Wortlaut vorfindet, sondern auch mit danebengestelltem Druckblatt (sozusagen als digitales Faksimile).

Schauen wir in den Kommentar Reisingers, dann wird klar, dass die Disziplinierung des jungen Gemüses eine Daueraufgabe war (und ist):

«Klagen über das nächtliche Herumtreiben von Jugendlichen sind in Zürich schon seit dem Spätmittelalter in obrigkeitlichen Verordnungen und Gerichtsprotokollen dokumentiert [...]. Mit gedruckten Mandaten, dem Einbezug von Eltern, Lehrpersonen und Wachtpersonal versuchte die Obrigkeit, dem Treiben Einhalt zu gebieten. Dies hatte aber oft wenig Erfolg, nicht zuletzt auch deswegen, weil sich unter den Jugendlichen häufig die eigenen Söhne und Töchter der Ratsherren befanden [...].»

Dieses Problem kennen wir auch heute. So erklären sich die Samthandschuhe, die die Stadtpolizei Zürich im Umgang mit der Hausbesetzerszene anzuziehen genötigt ist auch ganz ohne Rückgriff auf linke Politiknarrative. Denn des für Sicherheit zuständigen Stadtrats Richard Wolff eigene Söhne tummelten sich ja in eben dieser die geltende Ordnung frech herausfordernden Subkultur. Zur Ehrenrettung des Herrn alt Stadtrats: Die (erwachsenen) Kinder machen halt auch weitgehend, was sie wollen. Und es sind heute andere Zeiten, wie Mina Moser es ausgedrückt hätte:

«Das vorliegende Mandat ist das einzige, welches das nächtliche Herumtreiben und andere Aktivitäten der Jugendlichen gesondert behandelt. Hingegen werden Nachtruhestörungen in zahlreichen Zürcher Sammelmandaten thematisiert (beispielsweise StAZH III AAb 1.2, Nr. 1 aus dem Jahr 1601: «daß ein jeder syne kinder zuͦ aller zucht, frombkeit und ehrbarkeit und mit nammen dahin zühe, daß sy nachts by guͦter zyt im huß sygind, und niemand weder mit schryen noch anderen dingen beleidigind»).» [Link durch WeiachBlog auf e-rara.ch umgeleitet]

Womit wir nun endlich die im Titel dieses Beitrags gestellte Frage beantworten können.

Der Gassenvogel, das allzu bekannte Wesen

«Gassenvoglen» (im Titel des Mandats explizit erwähnt) ist laut Idiotikon das «sich auf den Gassen herumtreiben, gleichsam ein 'Gassenvogel' sein». Von diesem Zirkelschluss einmal abgesehen gibt es auch noch weitere volkstümliche Redensarten in dieser Richtung. So beispielsweise «im Land ume vögele», worunter «herumschweifen» zu verstehen ist. Im Aargau nannte man das (laut Id. Bd. I von 1883) «umenand vögele». Unserer Zeit geläufiger ist der Begriff «Nachtschwärmer».

Dass beim «gassenvoglen» auch eine sexuelle Konnotation mitschwingt, darf getrost angenommen werden. Vögeln ist also ein Problem, das – ob unter Erregung öffentlichen Ärgernisses oder nicht – zusammen mit dem Herumtreiben gleich mit verhindert werden sollte.

Fest steht: bei diesem Kampf gegen Sodom und Gomorrha handelt es sich um eine Sisyphos-Arbeit. Das wird allein schon aus dem Statement eines US-Navy-Chaplains deutlich, der dem Autor dieser Zeilen, lang ist's her, anlässlich einer Konferenz aller Armeeseelsorger der KFOR zu verstehen gegeben hat, Disziplin punkto Keuschheit sei auf Flugzeugträgern mit Tausenden auf engem Raum eingesperrten, eher jüngeren Leuten, schwierig zu erreichen: «Da kannst Du predigen so lange Du willst... Die Natur ist stärker.»

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