Der diesjährige Muttertag könnte wettermässig nicht schöner ausgefallen sein. Auf Twitter erging sich der Herr Gemeindepräsident in Lobeshymnen über die Naturschönheit ausserhalb des bebauten Gebiets. In der Facebookgruppe «Du bisch vo Weiach, wenn...» hat diesen Part der Vizepräsident der Schulpflege übernommen. Ebenfalls Frühlingserwachen herrschte im Unterland vor 156 Jahren. Da war das Ypsilon endlich in Betrieb. Ypsilon?
Die Züricherische Freitagszeitung vom 5. Mai 1865 machte gross auf mit einem sich über die ganze Titelseite und Teile der zweiten Seite erstreckenden Beitrag zur Eröffnung der «Herdöpfelbahn», wie sie im Volksmund genannt wurde (französisch tönt das ganz nobel: Chemin de fer des pommes de terre). Gemeint ist die Eisenbahnstrecke von Zürich-Oerlikon nach Oberglatt, wo sie sich bis Bülach bzw. bis Dielsdorf verzweigte. Dieses Y wurde von einer damals noch eigenständigen Bahngesellschaft betrieben, der Bülach-Regensberg-Bahn. Und die hiess so, weil die beiden Bezirkshauptorte damit mehr oder weniger direkt ans Eisenbahnnetz angebunden wurden (Hinweis: Dielsdorf wurde erst 1871 Bezirkshauptort).
Lesen Sie nachstehend den vollen Wortlaut dieses langen Artikels des Herausgebers der Freitagszeitung, Friedrich Paul David Bürkli (1818-1896), bestehend aus einer volkswirtschaftlichen Vorlesung zum Einstieg, gefolgt von einer touristischen Ode und abgeschlossen durch eine ausführliche Beschreibung der Einweihungsfeierlichkeiten aus Sicht der Honoratioren [ergänzende Anmerkungen durch WeiachBlog in eckigen Klammern]:
Wird das überhaupt rentieren?
«Die Zweigeisenbahn von Zürich nach Bülach und Dielstorf wurde letzten Sonntag [30. April] eingeweiht und mit dem 1. Mai dem Verkehr übergeben, also gleich an einem recht passenden Tage.
Die Wahrheit zu gestehen: es wird Manchem die Herstellung von Eisenbahnen, die mit Dampflokomotiven täglich mehrmals befahren werden sollen, nach zwei fast ausschließlich landwirthschaftlichen Bezirken ohne besonders stark bevölkerte Ortschaften als ein beinahe eben so abenteuerliches Unternehmen erschienen sein, wie selbst das Projekt einer Alpenbahn durch den Gotthardt, und im Verhältniß betrachtet, als ein noch fast gewagteres.
Man sagte wohl, es werde sich ein Verkehr so stark, wie er noch nicht bestehe, erst durch diese Bahnen neu entwickeln können, und wir wollen das gerne glauben. Kleinmüthige aber bezweifeln es noch immer, und von diesen Zweifeln angesteckt haben wir gar oft die Karte unsers Kantons angeschaut und uns gefragt, woher, wie, womit und wohin. Je länger diese Betrachtungen und Erwägungen fortgesetzt werden, desto mehr beruhigt man sich über die Rendite der Bahn und ihren volkswirthschaftlichen Nutzen.
Bald aber auch wird sich Jedem die Ueberzeugung aufdrängen, daß, sofern die gehegten Erwartungen sich auch nur einigermaßen erfüllen, deren vollständige Verwirklichung erst eintreten könne, wenn die Wünsche für noch weitere Ausdehnung erfüllt werden.
Es ist bekannt, daß an diese Bahnen erst dann ernstlich gedacht wurde, als das Bedürfnis nahe trat, sie zu haben, um gegebenen Falles sie weiter an den Rhein zu führen und der von den Vereinigten Schweizerbahnen drohenden Konkurrenz einer untern Glattthalbahn einen Bengel zwischen die Beine zu werfen. Dieser Bengel dürfte aber dereinst von selbst weiter ausschlagen und sich bis an den Rhein, wenigstens bis in die Nähe desselben verlängern. [Die untere Glattthalbahn war ein Bahnprojekt, das um 1857 geplant worden war und von Wallisellen über Weiach nach Waldshut hätte führen sollen, vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 19]
Eine fernere Rücksicht beim Baue dieser Bahnen war noch die, daß man zwei Bezirken — Bülach und Regensberg — von welchen die neuste Statistik zeigte, daß sie mit den andern nicht gleiche Fortschritte in der nationalökonomischen Entwicklung hielten, brüderlich die Hand zum Vorwärtskommen reichen wollte. Jeder fühlte, daß dieß eine Pflicht sei, welche einiger Opfer werth.
Diese Opfer brachte der Kanton als solcher, der ganz wohl eine Einbuße erleiden kann, die sich indirekte reichlich ihm lohnen wird. Durch das Wohlergehen eines Theiles wird das Wohlergehen des Ganzen befördert, und wenn sogar die Eidgenossenschaft in Einsicht dieses Satzes Millionen für Hebung einzelner Landestheile ausgibt, um wie viel mehr darf ein Kanton Etwas wagen, der seinen Mitbürgern so viel näher steht.
Die Nordostbahn ferner hatte, nicht nur weil sie sich dadurch eines gefährlichen Konkurrenzunternehmens entledigen konnte, sondern auch, weil sie ihr übriges Bahnnetz dadurch alimentiren wird, ein großes Interesse, selbst bei möglicher Einbuße, es in dieser Weise zu vervollständigen.
Die beiden Großmächte, Staat und Nordostbahn, machten aber den Bezirken Regensberg und Bülach mit dieser Gabelbahn nicht ein Geschenk, das diese Nichts kostete. Vielmehr strengten sich die Bezirke und ihre Gemeinden aufs Löblichste an, um die ihnen zugewendete Gunst zu verdienen, und selbst die Privaten brachten dem gemeinnützigen Werke große Opfer.
So mag es gehen, wie es will; es wäre allfälliger Schaden bei dem Unternehmen (das im Ganzen nur 1,900,000 Frk. kostete, also gerade so viel, als der Konkurs von Caspar Schultheß und Komp. beträgt) auf viele Schultern vertheilt, von denen er keine wund drucken würde. [Nach Historischem Lohnindex von Swistoval sind das umgelegt auf 2009 rund 150 Mio CHF]
Unser Kanton hat schon Straßen und andere öffentliche Anstalten hergestellt, die sich weit weniger direkte rentiren, als diese Bahnen, und deren Herstellung doch Niemand je bereut hat oder bereuen wird. Warum also nicht auch diese Eisenbahnstraßen, die ihn nur 600,000 Frk. kosten, und immerhin einen Zins ertragen werden? [Der Kanton übernahm einen Drittel der Kosten, die Gemeinden ein weiteres Drittel und die Nordostbahn das letzte Drittel]
Mit Recht wurde bemerkt, mit der Bülach-Regensbergerbahn sei eine Neuerung von höchster Bedeutung eingeleitet, welche die Kosten des Versuches gar wohl werth sei,— die: allmälig an der Stelle der gewöhnlichen Heerstraßen Schienenwege einzuführen, welche mit einfachern Herstellungsbedingungen und wohlfeilerm Betriebe, als die Haupteisenbahnen, auch bei weniger reichen Einnahmen doch wenigstens ihren Betrieb bezahlen, und so bei erleichtertem und schnellerm Verkehr dem Lande große Summen an Zeit und Geld ersparen, die, wenn sie auch nicht in die Kasse der Bahnverwaltung fallen, doch dem Lande zu gut kommen.
Bei dem Bau der vorliegenden Bahnen ist die Hauptbedingung erfüllt, daß nemlich die wohlfeile Herstellung es möglich mache, auch bei geringern Einnahmen so gut zu bestehen, wie bei den Eisenbahnen erster Klasse mit ihren größern Einnahmen.
Die Nordostbahn, welche es übernahm, diese Bahnen zu erbauen und zu betreiben, konnte bei dem Baue ihre Erfahrungen im Sparen und wohlfeilen Bauen gehörig verwerthen. Es wird wol kaum je eine Eisenbahn so wohlfeil gebaut worden sein, als diese Gabelbahn. Da kam zwar zu Statten, daß der Bahnhof in Zürich schon da war, der Damm und die Brücke nach Wipkingen schon da waren, der Rötheltunnel schon da war, daß mit Ausnahme einer Brücke über die Glatt fast keine Kunstbauten nöthig waren; aber immerhin waren ganz bedeutende Erdarbeiten erforderlich, hohe Dämme, etwelche Einschnitte. Doch auch diese wußte man so wohlfeil herzustellen, daß, während sonst ein Baukonto von 200,000 Fr. per Kilometer nichts Außerordentliches ist, hier der Kilometer Bahnstrecke auf nur 95,000 Fr. zu stehen kam. [Daraus kann man ablesen, dass es rund 20 Schienenkilometer waren: 16 bis Bülach und dazu noch 4 ab Oberglatt bis Dielsdorf] Günstig war auch, daß man die Schienen der größern Bahnen, welche für die schweren Lokomotiven und Wagen zu schwach wurden, ganz gut für die mit den leichtern und kleinern Lokomotiven und kleinern Wagen zu befahrenden Zweigbahnen anwenden und ihnen wohlfeil abtreten konnte.
Die Befürchtungen, daß der Betrieb zu kostspielig sein möchte für diese kleinen Bahnen, sind eben dadurch gehoben, daß keine besondere Gesellschaft den Betrieb leiten muß, sondern die große Nordostbahn, welcher es eine Nebensache und welche daher eine Menge Ausgaben nicht zu berechnen haben wird. Ueberdieß erfordern die kleinern Lokomotiven und übrigen Vereinfachungen geringere Kosten, als der Betrieb größerer Bahnen. Die Bahn wird 3 Lokomotiven, 12 Personenwagen und 30 Güterwagen bekommen.
Woraus aber soll die Bülach-Regensbergerbahn überhaupt leben? — Soll sie gedeihen, so müssen vor Allem die Bewohner jener Gegenden alle Vorurtheile nach und nach überwinden lernen. Sie müssen einsehen, daß sie durch Benutzung der Bahn sich selbst nutzen; denn wie Hr. Präsident Dr. A. Escher sagte, nur wenn die Bahn, wie sie ist, erfreulich gedeiht, bekommt man Muth, sie weiter zu führen. Soll damit gesagt sein, daß die Bülacher und Regensberger ihr Geld auf die Bahn werfen sollen, um es nur zum Theil als Dividenden wieder zu bekommen? Das wäre thöricht, und ist auch nicht erforderlich. Wenn die Leute berechnen lernen, daß auch für den Bauer Zeitgewinn Geldgewinn ist, so ist uns nicht bange, daß sie ihr gehöriges Kontingent an Personen- und Gütertaxen liefern werden.
Die Städter sollen ihr Umland per Bahn erkunden
Indeß nicht nur von ihnen her, sondern auch zu ihnen hin kann und wird für gehörige Speisung der Bahn gesorgt werden. Sehen wir uns wiederum die Karte an. Viel Güter werden von Zürich, Winterthur sc. erst nach diesen Bezirken geführt werden, wenn einmal der erleichterte Verkehr zu Anlegung zahlreicher Fabriken und anderer industrieller Etablissements eingeladen haben wird.
Dagegen glauben wir uns nicht zu täuschen, wenn wir Bülach und Regensberg einen zahlreichen Personenbesuch versprechen. Engländer und Russen werden zwar weniger zu ihnen kommen — die haben interessantere Wege. Dagegen gibt es für Schweizer und namentlich Zürcher von Stadt und Land hier eine einladende Gelegenheit zu zahlreichen Ausflügen in bisher ihnen sehr wenig bekannte, aber sehr interessante Gegenden.
Nur einige Beispiele! Nehmen wir einmal von Zürich die Fahrt nach Bülach. Wer nicht weiter will, führt bloß nach Glattbruck, macht da einen kleinen Spaziergang zu Fuß nach Kloten und kehrt entweder nach Glattbruck zurück, oder geht noch weiter nach Bülach, um von da wieder per Dampf heimzukehren. Oder er fährt sofort nach Bülach. Von da macht er eine herrliche Fußtour entweder durch das Bülacher Hard nach Eglisau, über Rafz nach Rheinau unf Schaffhausen, oder nach Rorbas, Freienstein, um oder über den Jrchel (Teufen, Berg, Flaach — Buch, Dorf, Goldenberg) nach Andelfingen, wo wieder eine andere Bahn, die Schaffhauser-Winterthurer, den ein wenig Ermüdeten aufnimmt, und ihm zuruft: „Freund, wohin willst du nun weiter getragen sein?" Wir können auch von Bülach nach Dielstorf entweder per Eisenbahn fahren oder zu Fuß spaziren und von dort wieder heimfahren, oder weitere Ausflüge machen.
Fahren wir direkt nach Dielstorf, so haben wir in der Nähe Regensberg, die interessante Burg, wo die Leute nicht alle so bös sind, wie die Freit.-Zeitung sie einst schilderte. Von da der Gang auf die herrliche Lägern. Wenn erst der Förster den Fußweg über dieselbe wieder vom Dorngestrüpp gereinigt hat (oder hat er's schon?), so gibt's nichts Anregenderes als die Tour längs des Grates derselben nach Baden hinunter; aber auch der Weg diesseits über Boppelzen, Otelfingen, Würenlos nach Baden ist nicht zu verachten, noch weniger, weil nicht so bekannt, der jenseits der Lägern, hinter ihr durch durchs Surbthal, über Schöfflisdorf, Niederweningen und das durch seine Gypsgruben (die von Professor Mousson beschrieben sind) interessante Ehrendingen. Da in Baden hat man dann schon wieder die Eisenbahn zur Benutzung. [Die Spanischbrötlibahn war seit 1847 in Betrieb] Wem Baden zu bekannt ist, der gehe über das lieblich gelegene Steinmaur entweder durch das wahrhaft idyllische Bachserthälchen, oder über Stadel und das reiche Weiach ins alterthümliche, seltsam an einen Abhang gebaute Kaiserstuhl, von dem er die interessante Rheinburg Schwarzwasserstelz (mitten im Rhein [noch bis 1875]) oder die melancholisch stimmende prächtige Ruine Weißwasserstelz besuchen kann. Hat er dann auf dem Marsche Appetit bekommen, so sind wol noch in Rötheln, gegenüber Kaiserstuhl, die schmackhaften Fische zu finden.
So wäre noch Vieles anzuführen — Liebhaber von Ausflügen können nur sagen: Herz, was willst du? oder Bouche, que veux tu? wie der Franzose prosaischer sagt.
Solche Gedanken, wie diese einleitenden, mochten wol bei Manchem die Feier der Einweihung am Sonntage erheitern.
Beschreibung der Einweihungsfeierlichkeiten
Zu diesem Feste war die erste Bedingung des Gelingens, schönes Wetter, da, wenn auch der etwas bewölkte Himmel anfangs Regen gedroht hatte, nachher aber nur noch im Stande war, die vorhandenen schönen Aussichten in die fernen Berge zu verschleiern. Gegen 12 Uhr fuhr der Festzug von Zürich ab, in schönen, geschmückten Wagen — der Prunk der Zürich-Zug-Luzernfeier fehlte natürlicher und zweckmäßiger Weise. Die Zahl der eingeladenen Behörden und Gäste und sonst Mitfahrenden war indeß auch bedeutend. In Oerlikon hielt man zuerst, um die von Winterthur eintreffenden Gäste aufzunehmen.
Bei der Station Rümlang stand die ganze Bevölkerung zum Empfange des Zuges bereit. Eine Musik und der Männerchor taten ihr Möglichstes zur Begrüßung der Ankommenden. Zwei geschmückte kleine Mädchen überreichten der Direktion einen Ehrenkranz mit anerkennender Inschrift. Andere Inschriften sprachen die Hoffnungen von der Bahn und ihre Bedeutung aus. Eine Reihe von schmucken größern „Kindern" in der Landestracht und mit den guldglänzigen Schäpli (einem mauerkronartigen Kopfputz, wie man ihn am Einsiedler Muttergottesbild sieht) paradirten in linealgrader Linie, am linken Flügel mit einigen Schlotterhoslenen beflankt, von denen Einer den philosophischen Bauer vorstellte, ein Andrer die berühmte Strumpflismeten besorgte, ein Dritter eine riesige Klungele Schnüre darbot; auf dem rechten Flügel spielten ein Bratisgeiger und ein Rohrflötist, beide in Tracht, lustige Tänze, unbekümmert um Gesang und Musik auf dem linken.
Vor Oberglatt und Niederglatt wieder Musik und Männerchöre, wieder geschmückte Stationshöfe. Hr. Pfarrverweser Kuhn hielt eine launige Ansprache, in der er sich nach Bedankung für die Bahn entschuldigte, daß die Bauern nur für sich getischt haben, und die Ankommenden nach Bülach vertröstete, wo man ihnen einen Bessern einschenken werde. Da kamen denn die Regensberger auf der Bahn von Dielstorf zum Anschluß. In Niederglatt stieg man aus, die Bahnbrücke über die Glatt zu beaugenscheinigen, die, sauber gebaut, doch eben nur das Interesse hat, daß sie die einzige Kunstbaute der neuen Bahnstrecke ist. Ein Stuck Damm war da allerdings gegen die Mühle zu herabgestürzt, aber ein unbedeutendes, und es war in aller Eile vollständig der Schaden wieder hergestellt worden.
Als wieder Alle eingestiegen waren, ging's rasch über den hohen Erddamm Bülach zu.
Bülach ist bekanntlich kein Dorf, sondern hatte Stadtrecht, und macht auch ganz die Gattung einer Stadt. Wie hat auch es sich verändert, seit wir es im Jahre 1828 zum ersten Male auf einer für den 10jährigen Knaben ermüdenden Fußtour nach Rheinau und Schaffhausen sahen! —
Eine Menge Leute war da um den Bahnhof versammelt und bildete Spalier, daß man wirklich meinte, man befinde sich m einer Stadt; das Gedränge war fast so stark wie an einem Sechseläuten in Zürich bei der Münsterbrücke.
Kanonenschüsse zuerst. Musik und Männerchor mit ziemlich kunstreichem schönem Gesang. [Man vergleiche die Beurteilung der Musik in Rümlang oben...] Weißgekleidete Mädchen mit Rosaflorschärpen trugen Guirlanden, mit denen sie die — Lokomotiven bekränzten.
Dann bildete sich der Zug. Zuerst vier Dragoner als Wegbahner, dann die Musik, dann die weiß-rosa gekleidete Unschuld, dann junge, grün uniformirte Tellenbuben mit Armbrusten u. s. w. Der Schmuck der Häuser und Leute war um so schöner, als die Sonne ihn hell und warm beschien.
Im Wirthshause zum Kopf [Goldener Kopf vor dem nördlichen Stadttor] — ein großer Kopf, der viele hundert Köpfe faßte — wurde die Gesellschaft mit einem guten Essen erlabt und, was noch mehr galt, mit geistiger Speise in Form von Toasten gespiesen. Zuerst ergriff Hr. Regierungspräsident Zehnder im Namen des Komité das Wort. Er findet die Bedeutung der Bahn vornehmlich darin, daß sie der erste Versuch sei, an die Stelle der großen Fahrstraßen einfach angelegte Eisenbahnen einzuführen, um den Verkehr im Kanton selbst zu heben; es ist dieß eine neue Richtung der Eisenbahnpolitik, die Bahn aber nicht ein Werk der Spekulation, sondern der Gemeinnützigkeit; sein Hoch galt der Vereinigung der verschiedenen Kräfte zu gemeinnützigem Streben. Er konnte zur rechten Zeit landen mit seiner Rede. Hr. Statthalter Meier von Bülach brachte sein Hoch auf Regierung und Nordostbahndirektion; er scheint gleich unserm Statthalter von Zürich kein großer Stegreifredner zu sein. Hr. Oberst Ziegler, der Mitwirkung des Volkes gedenkend, den Bewohnern des Bezirks. Hr. Dr. Sulzberger, als Präsident des Großen Raths, gedachte der glücklichen Ueberwindung der Streitigkeiten, welche dem Erstehen des Werkes vorausgegangen, bis endlich Staat, Gemeinden und Privaten [sic!] sich geeinigt, welche mächtige Trinität er hochleben ließ. Der Letzte wird der Erste sein, hieß es da mit dem Reden, als Hr. Präsident Dr. A. Escher aufstand und sein Hoch den Fortschrittsbestrebungen des Kantons brachte, grade am Eisenbahnwesen desselben nachweisend, wie weit und über alle Erwartung unser Kanton hier vorwärts gekommen sei. Da sei keine Gefahr der Versumpfung und des Erstickens im eigenen Fette, wie man sie dem Kanton unverständiger Weise vorgeworfen. Auf die Straßenkorrektionen [ab den 1830er-Jahren] seien die Pferdebahnprojekte gefolgt, die sich aber in der Ausführung zu Dampfbetrieb erweitert haben. Man werde sicher die Hände auch jetzt noch nicht in den Schooß legen, sondern, wenn der Ertrag es als rathsam erscheinen lasse, die Schienenwege weiter führen. Wie mit den Eisenbahnen, so sei es mit dem Schulwesen gegangen, das jetzt in dem Prachtbau des Polytechnikums [ETH Zürich Hauptgebäude; 1858-1864 durch Gottfried Semper] gipfle, so in manchen andern Zweigen der Verwaltung, und es habe nicht den Anschein, daß man so bald befriedigt ausruhen werde. Solchen Fortschrittsbestrebungen galt sein Hoch.
Nun war's hohe Zeit, auf den sog. Lindenhof sich zu begeben, wo ein prächtiges Tröpflein zum Nachtisch längst parat stand. Heiß brannte die Sonne, da die paar Linden ihre Blätter noch nicht entfaltet haben; aber munter und fröhlich bewegte sich Alles durcheinander.
Von Bülach nach Dielsdorf
Gegen 5 Uhr fuhr man höchlich befriedigt mit dem Aufenthalte im freundlichen Bülach nach Dielstorf hinüber, — bis Oberglatt auf bereits bekanntem Wege hinein, dann auf neuem hinaus. Unterwegs hielt der Zug unerwartet still. Was hat's gegeben? Ein Funken aus der Lokomotive hatte die Wimpel und Tücher, mit denen sie geschmückt war, in Brand gesteckt, und helle Flammen züngelten einige Momente um das eiserne Dampfroß. Das wurde aber nicht scheu, stand auf Geheiß still und ließ sich ganz ruhig den versengten Schmuck abreißen. Bald pfiff's wieder — und wir waren in Dielstorf.
Wir berichten ungenau, wir waren nur bei Dielstorf; denn der Endpunkt dieses Bahnzweiges liegt etwas weit rechts ab vom eigentlichen Dorfe. Warum wol? Geneigter Leser, du wirst es leicht errathen, wenn du die Karte ansiehst. Soll die Bahn je über Dielstorf hinaus, so durfte sie nicht in dessen Herz hinauf, sondern mußte unten bleiben, um ohne Knick, sondern nur mit Kurve, und ohne Steigung ins Surbthal einmünden zu können, von wo sie wol einst die Endiger- und Längnauer-Juden ins europäische Eisenbahnnetz aufnehmen wird, wie dieselben bereits in die europäische Völkerfamilie aufgenommen sind.
Wieder Begrüßung durch den Männerchor; wieder brachten geschmückte junge Mädchen Blumen, dieß Mal nicht für das Dampfroß, sondern Sträuße für dessen Herren, die Herren Eisenbahndirektoren. Die Zahl der Menschen, die man hier beisammen fand, war fast noch größer, als in Bülach. Es muß der ganze Bezirk sich Rendezvous gegeben haben. Unabläßiges Kanoniren von der Burg herab [d.h. vom Schloss Regensberg] hatte sie wohl ans Stelldichein erinnert!
In der Post sammelten sich die von dem Zuge Hergebrachten, und nicht lange mußten sie warten, so kam der Festzug.
Von diesem Festzuge hatten vorzeitig veröffentlichte Programme bereits viel verrathen, aber auch Falsches berichtet. Was sie indeß nicht ahnen lassen konnten, das war der Geschmack, das Geschick, der Takt, die Anmut, der Humor, mit dem er angeordnet und ausgeführt war.
Ohne zu schmeicheln, darf man sagen, diese Leute verdienen mit der Stadt Zürich in nächste und engste Verbindung gesetzt zu werden. An ihrem Zuge verbanden sie mit ländlicher Unbefangenheit wahrhaft urbane Beweglichkeit und Freiheit bei den Szenen, Bildern und Aktionen, die sie darzustellen hatten. Man hat bei den Umzügen in der Stadt wohl mehr Massenhaftigkeit, mehr Prunk und Glanz, reichere Kostüme u. s. w. gesehen; aber an sinniger Anordnung und an anständiger Haltung blieben die Regensberger [d.h. Bewohner des Bezirks] in Nichts zurück. Nichts von rohen Uebertreibungen, übermüthigen Neckereien gegen die Zuschauer, undisziplinirtem Ausschreiten, Voreilen, Zurückbleiben. — Die alte Zeit wurde durch den Freiherrn Leuthold von Regensberg, den Gegner der Stadt Zürich, mit geharnischtem Gefolge, das lange Speere trug, Alle beritten, dargestellt. Dann kam der Landvogt mit Richtern und Waibel zu Fuß. Der kluge und schlaue Kleinjogg neben dem Dr. Hirzel, seinem Gönner und Freunde, und hinter ihnen einige über den Wechsel der Zeiten erstaunte Junker. Eine schmucke Bauernhochzeit aus dem Wehnthal. Die alten Boten mit Wagen und zu Fuß. Schließlich das einspännige Postwägelchen mit schwarzer Trauerfahne. Die Gegenwart wurde durch die vier Jahreszeiten symbolisirt, der Frühling: durch Kindergruppen, — Feldarbeiter, Rebleute, Gärtner, — Rätscherinnen zu Wagen [vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 94]; der Sommer: wieder durch Kindergruppen, — Heuer und Krieser, — Erntewagen; der Herbst: abermals durch Kindergruppen, — Winzer, Weinfuhr, Sauser- und Jassergesellschaft, — Pflug und Egge, Säemann, — Kabisschnätzler zu Wagen; der Winter: durch Kindergruppen, Samiklaus, — Jägerzug zu Wagen und zu Fuß, — Lichtstubete. Die Zukunft: ein wirkliches kleines Straßen-Lokomotiv, als Zukunftslokomotiv des Surbthals, das einen Passagierwagen schleppte; Darstellung künftiger Industrie; Viehgruppe; Käserei; Ausfuhrartikel: Wagen mit Rinde, Gyps, Stein; des schweizerischen Alpenklupps Sektion Lägern; Englische Touristen; Studenten, die geologisiren, entomologisiren, botanisiren; auf dem Ferienreischen sich befindende Schuljugend.
Dieser Zug soll nächsten Sonntag wiederholt werden, und wer uns nicht glauben will, daß diese Landleute es uns Städtern gleich thun können, der mag selbst hinfahren und sehen.
Wie in der Post die Herren, so vergnügte sich nachher das Volk in den übrigen Wirtschaften und auf den Plätzen, wo Karoussel und andere Lustbarkeiten veranstaltet waren. Nirgends bemerkte man Rohheiten oder Exzesse, wenigstens so lange und so weit man das fröhliche Leben beobachten konnte. Wenig wurde mehr gerednert; Herr Statthalter Ryffel [vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 55] hielt eine freundliche, launige Ansprache, Herr Lehrer Peter gedachte der Wünsche des Sees und Hr. Staatsschreiber G. Keller verglich die Politiker und Staatsmänner mit dem Büblein des heiligen Augustinus, die erkennen müssen, daß es ihnen so wenig, als jenem Büblein mit dem Meere, möglich sei, den Willen und das Wesen des Volkes in ihre Sandgrübchen auszuschöpfen.»
Das Meer mit dem Löffel trockenlegen
Gottfried Keller, der Dichter im hohen Staatsamt, nahm da offenbar kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Ermahnung von Exekutive und Legislative ging.
In der Geschichte vom Büblein mit dem Meere wird über Augustinus von Hippo (354-430) erzählt, dass der Kirchenlehrer am Strand spazierenging, als er Pause von der Arbeit an seiner Schrift über die Heilige Dreifaltigkeit machte. Da sei ihm ein kleiner Bub aufgefallen, der ein Loch in den Sand gegraben hatte und mit einem Löffel Wasser aus dem Meer ins Loch füllte. Auf die Frage des Augustinus, warum er das mache, antwortete der Bub, er wolle das Meer ausschöpfen und so trockenlegen. Augustinus habe dem Kind mitleidvoll klarzumachen versucht, dass dies doch wohl unmöglich sei, denn das Meer sei viel zu gross. Da habe das Kind entgegnet: «Ich werde es wohl eher fertigbringen, das Meer mit meinem Löffel trockenzulegen, als du es zustandebringen wirst, mit deinem Verstand dem Geheimnis der Dreifaltigkeit auch nur ansatzweise auf den Grund zu gehen. Es ist viel zu gross.» Dann sei der Bub verschwunden. (nach Faessler 2018)
Das im Entstehen begriffene Buch war also das kleine nasse Loch im Sand. Dem Umstand, dass Augustinus sein Buchprojekt daraufhin nicht aufgegeben hat, verdanken wir sein 15 Bände umfassendes Werk über die Dreifaltigkeit. Aber er war ja immerhin ein Heiliger und kein Politiker. Doch weiter mit den letzten Abschnitten von Bürklis Leitartikel:
«Nicht ungern vernahm man aus dem Munde des Hrn. Präsidenten der Nordostbahn [Alfred Escher], daß die Heimfahrt von "nach 9" auf nach 10 Uhr verschoben sei. Es verschaffte dieß Gelegenheit, die "Burg", welche man in der schönen Beleuchtung der untergehenden Sonne gesehen hatte, noch einmal in elektrischem Lichte erglänzen zu sehen. Dafür kam man dann aber auch punkt mit der Polizeistunde in Zürich an und begab sich ruhig nach Hause. — „Meine Herren, es ist Feierabend!" Ja Feierabend, der Abend und das Ende einer schönen Feier.
Die Regensberger Waffenfabrik
Es ist uns nicht möglich gewesen, die Menge der Inschriften mitzutheilen, sowie wir auch der Reden nur andeutend erwähnen konnten. Die Litteratur brachte neben einer historischen Festschrift des Hrn. J. Utzinger (Geschichte der Gegend und Straßen Bülachs und der Bahn [vgl. Literatur unten]), ein schönes Gedicht des sinnigen Dichters Konrad Meier von Bülach (jetzt in Zürich) und ein von dem Boten ausgetheiltes Tagblatt von Regensberg, das feine Witze enthalten soll, die aber für uns ferner Stehenden nicht alle vollverständlich sind. Einer geht auch auf den Redaktor der Freit. Zeitung [den Verfasser Bürkli selber]: Es wird nemlich in Regensberg eine Waffenfabrik angekündigt, welche Schwerter, Spieße und Gewehre gegen die Angriffe der sonderbündischen Generale Burkley, Schewchzer, Wodman u. Comp, verfertige. [Mit Schewchzer ist Friedrich Scheuchzer, der Herausgeber der Bülach-Regensberger Wochenzeitung (heutiger Zürcher Unterländer) gemeint]. Den geringen Aerger darüber haben wir mit einem vollen Glase des besten von den Regensberger Ehrenweinen weggeschwemmt, und einem der Waffenfabrikanten darauf mit der alten Freundschaft aus den Universitätsjahren die Hand gedrückt.
Um diese Festbeschreibung machen zu können, nahmen wir die Einladung zum Feste an, waren auf Unangenehmes in Regensberg gefaßt, fanden aber nur freundliche Worte, und sehen auch hierin, daß die Bauern den neugebackenen Aristokrätlein weit voraus sind.»
Ein Seitenhieb auf all die Herren im Umfeld des Eisenbahnkönigs Escher (wozu auch der Statthalter Ryffel gehörte) und der freisinnigen Regierung der ersten Jahre des Bundesstaats.
Und wer weiss, vielleicht hat dieser Leitartikel ja zu Ausflügen über Weiach nach Kaiserstuhl angeregt. Weiacher Post und Passagiere haben ab da jedenfalls den Zug nach Zürich ab Station Niederglatt genommen, wenn auch nur für wenige Jahre (nämlich bis zur Eröffnung der Linie Winterthur-Bülach-Eglisau-Koblenz am 1. August 1876).
Quelle und Literatur
- Utzinger, J.: Festschrift auf die Eröffnung der Eisenbahn Oerlikon-Bülach-Dielsdorf. Bülach 1865 – 19 S.
- Bürkli, F. P. D.: Die Zweigeisenbahn von Zürich nach Bülach und Dielstorf. In. Zürcherische Freitagszeitung, 5. Mai 1865 – S. 1-2.
- Faessler, A.: Hingeschaut. Das Meer weggelöffelt. In: Luzerner Zeitung, 31. August 2018.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen