Schiessbefehl an der Grenze? Das gab es nicht nur in der DDR. Nein, genau heute vor 300 Jahren hat auch der Schwäbische Reichskreis in Ulm ein solches Vorgehen beschlossen. Aus Angst vor einer Pandemie. Statt Republikflüchtlinge sollten Eindringlinge sofort unschädlich gemacht werden.
Der Schwäbische Kreis war eine Unterorganisation des Hl. Römischen Reiches Deutscher Nation und umfasste ein Gebiet, das man heute in etwa mit dem Umfang des Bundeslandes Baden-Württemberg vergleichen kann. Zu ihm gehörten auch die Nachbarstaaten des damaligen Zürcher Herrschaftsgebietes (das mit Dörflingen und der Grafschaft Sax im im heutigen St. Galler Rheintal noch wesentlich raumgreifender war): namentlich Liechtenstein, das Hochstift Konstanz, sowie die Grafschaft Klettgau.
Gebiete der beiden letzteren lagen den Weyachern direkt vor der Nase. Der Beschluss aus Ulm war also ziemlich relevant für die Bewohner des Zürcher Unterlands. Es verwundert denn auch nicht, dass das entsprechende Mandat aus Ulm sich in der Sammlung Zürcher Mandate der Stadtschreiberkanzlei findet. Und es ist anzunehmen, dass der Inhalt durch die Pfarrer von den Kanzeln verkündet wurde, wie das bei Erlassen aus Zürich der Fall war.
Zu diesem Zeitpunkt war die sogenannte Marsilianische Pest schon etliche Monate alt. Man wusste also eigentlich was da lief, die gesundheitlichen Auswirkungen hielten sich in engen Grenzen, die wirtschaftlichen Schäden dagegen nahmen exorbitante Ausmasse an. Die Handelshäuser drängten darauf, den Verkehr endlich wieder aufnehmen zu dürfen. Die Abgeordneten in Ulm einigten sich auf eine Art Kompromiss. Mit radikalen Massnahmen gegen Personen aus dem Seuchengebiet, gegen die sich die Zürcher Vorkehrungen wie ein Sonntagausflug ausnehmen. Die Zürcher Erlasse finden Sie in den WeiachBlog-Beiträge Nr. 1510 (18. Mai 2020), Nr. 1599 (9. Oktober 2020) und Nr. 1606 (31. Oktober 2020). Hier folgt das Mandat aus Ulm im Volltext:
Präambel: Vorsicht ist die beste Medizin
«Nachdeme von zimlicher Zeit her auß Frankreich wegen der in der Stadt Marseille und dortiger Gegend in der Provence Anfangs ein- und seithero in andere angelegene Provinzien weiter umgerissenen leidigen Contagion sehr bedauerliche Nachricht eingeloffen / und täglichen noch einlauffen; Und nun bey deren gefährlichen Beschaffenheit in allewege nöthig ist / daß nicht allein wie jede Christliche Obrigkeit selbsten davor Sorge tragen wird / die Göttliche Allmacht und Barmherzigkeit um Tilg- und Abwendung dieses Ubels einbrünstig und eyfrig angeruffen / sondern auch anbey menschlicher Vorsicht nach alle möglichste Veranstaltung vorgekehret werde / damit dasselbe in die Gränzen des geliebten Teutschen Vatterlandes nicht ebenmässig einbringen möge; So hat man ab Seithen derer Fürsten und Stände bey gegenwärtiger allgemeiner Creyß-Versammlung deßwegen heilsame Praecautiones vorzukehren vor nöthig befunden / sich über folgende Verordung verglichen / und solche überall in dem Creyß durch offene Patentes kund zumachen beliebet / damit sich männiglich / frembd und einheimisch / darnach richten / darob ernstlich halten / und sich vor einverleibter Straffe hüten möge.»
Art. 1: Absolute Handelssperre für Frankreich, Savoyen und Genf
«Diesemnach Fürsten und Stände dieses Creyses heilsamlig verordnen / daß nicht allein niemand wer der auch seye / mit Marseille, Toulon und andern in der Provence, Languedoc, Dauphiné, auch an der Rhone gelegenen Orthen, ingleichen mit dem Savoyischen Gebieth und der Stadt Genff einiges Commercium pflegen / sondern auch auß dem ganzen Königreich Frankreich und dessen incorporirten Provinzien / (allein Elsaß dermahlen noch außgenommen/) einige Waaren mehr / sie mögen Nahmen haben / wie sie wollen / beschreiben / oder in den Schwäbis. Creyß einführen solle; Allermassen sämtliche Stände und Obrigkeiten / welche an dieser heilsamen Verordnung ohne dem Theil tragen / ohne Anstand daran seyn werden / allen Handel und Wandel / auch in alle Gemeinschaft mit ganz Frankreich (nur allein wie vorgemeldet / Elsaß der Zeit noch außgenommen/) auch mit ermeldtem Savoyischen Gebieth und der Stadt Genff denen Ihrigen zuverbieten / denen bey den Haupt-Pässen und Uberfahrten bestellten Befehlshaberen und Wachten aber / bey Leib- und Lebens-Straff gemessen anbefohlen wird / nach dem Exempel der in andern benachbarten Landen gemachten Verordnungen ernstlich dahin besorgt zuseyn / daß in diesem Löbl. Schwäbis. Creyß durchauß keine Französische Waaren eingelassen werden; sondern falls dergleichen hereinpracticiret werden wolten / sollen selbige / sie mögen angetroffen werden wo sie wollen / ohne weitere Consideration so gleich an einem besondern Orth öffentlich verbrennet / und die Fuhr-Leute oder Eigenthümer / bey deren Attrapir- und Außkundschafftung an Leib und Leben gestrafft / die Schiffe versenket / odre auch wie die Wagen / verbrennet / und die Pferde confisciret werden: Von welchen Confiscationen hernach deren Angebern / welche es Ambts halber zuthun / nicht ohne hin schuldig sind / die Helfte abzureichen.»
Art. 2: Handelsgüter aus anderen Gebieten nur mit Gesundheits-Attesten
«Diejenige Kauffmanns-Güther und Waaren aber / welche auß Elsaß / Lothringen / der Schweitz / und andern frembden Landen und Orthen / ausserhalb Frankreich / und besagtem Savoyischen Gebieth und der Stadt Genff herkommen / sollen anderst nicht passiret werden / sie seyen dann mit richtigen und beglaubten Attestatis von der Obrigkeit des Orths, woher sie kommen / versehen / daß sie in dem Land selbst / und an solchen Orthen / wo reine und gesunde Lufft ist / gewachsen / gesammlet / fabricirt / oder verarbeitet / auch gepacket / und durch keine verdächtige Orth geführet / nicht weniger die darzu gebrauchte rohe Materialien an unverdächtigen Orthen eingekauffet / oder von solchen hergebracht worden.»
Art. 3: Ohne Quarantänenachweis keine Einreise
«Was aber die Persohnen betrifft / da ist auß denen vorbemerkten inficirt- oder verdächtigen Orthen und Provinzien ebenfalls auf keine Weise jemand zu passiren / sondern wer daher kommt / so gleich bey denen Haupt-Pässen und Uberfahrten ab- und zurück zuweisen / mit denen andern aber / welche sonsten auß Frankreich / der Schweitz / und anderen frembden Orthen herkommen / zur Zeit dieser Unterscheid zuhalten / daß ein jeder / weß Stands oder Würden der auch seye / durch einen richtigen und beglaubten Gesundheits-Pass odre Fede, worinnen die Persohn nach ihrem Alter / Statur, Haaren / Barth und Kleidung / auch ihre Wohnung und Heimath / oder wo dieselbe sich sonsten aufzuhalten pflege / beschrieben / darzuthun schuldig seyn solle / daß er auß keinem angesteckten oder verdächtigen Orth weder außgereyset / noch unter Wegs in dergleichen gewesen seye / noch mit andern angesteckten Orthen und Persohnen Gemeinschafft gepflogen / sondern daß er sich wenigst 40. Tag die nächsten zurück / an einem gesunden / uninficirten Orth in denen benachbarten Provinzien beständig aufgehalten / oder vor Eintritt in den Creyß an dessen Gränzen 6. Wochen lang Quarantaine gemacht habe;»
Art. 4: Todesstrafe für Eindringlinge. Schiessbefehl an der Grenze
«Widrigen falls da Persohnen von verdächtigen Provinzien und Orthen ohne genugsam beglaubte Fede in diesen Creyß sich ein- und durchschleichen wolten : Wann sie an denen Pässen und Uberfahrten von der Wacht / sich zu retiriren erinnert worden / sich aber widersetzen / oder sonsten durchpracticiren wolten / so gleich auf der Stelle tod geschossen / oder da sie bey unerlaubten Passagen und verbottenen Neben-Fahrten würklich sich hereingeschlichen hätten / und ertappet wurden / nachdeme Sie von jedes Orths Obrigkeit / wo sie herübergekommen / examiniret worden / ohne weitern Process offentlich aufgehenkt / die Schiff- und Fuhr-Leuthe aber / welche dergleichen Persohnen über- oder hereingeführet / ingleichem die Unterthanen und Wachten / so dieselben an den Posten oder Uberfahrten passiren lasen / mit empfindlicher / auch allenfalls da es geflissentlich geschehen wäre / an Leib und Leben gestraffet / anbey mit denen Schiffen und Wagen / wie vorhin wegen der verdächtigen Waaren gemeldet / verfahren / oder solche samt den Pferden confiscirt / und denen Angebern ebenfalls / wie oben gemeldet / die Helffte von denen Gelt-Straffen und Conficationen verabfolget werden solle;»
Art. 5: Organisation der Kontrollen. Inpflichtnahme der Wirte
«Allermassen dann auch fehrner / damit solches alles also genau beobachtet / und erfüllet werde / nicht allein an denen Haupt- und zumahlen auch denen Ordinari See- und Rhein-Passagen und Uberfahrten / (welche durch die daselbst belegene Herrschafften besonders werden bekannt gemachet werden /) nicht weniger an denen geschlossenen Orthen und Pässen / auch bewandten Dingen nach in denen Flecken und Dörfferen / (wie deßwegen von Creyses wegen die Verordnung abgefaßt worden/) betraute / beeydigte Inspectores und Wachten / welche die Reysende fleissig examiniren / ingleichem die Signa, und neben selbigen die Stöck mit daran gehefften Patenten aufzustellen / und anbey die Neben-Uberfahrten über den Rhein und See / so viel frembde Persohnen und Waaren betriftt / gänzlich zuverbieten / sondern auch allen Gastgebern und Wirthen anzubefehlen / der Schluß gefasset worden / bey Verlurst ihrer Ehre und Guts niemand / der nicht mit einem gültigen - von der Obrigkeit und Wachten / allwo er passirt / recognoscirten / und von neuem unterschriebenen Pass, wie oben bemerket worden / versehen / zubeherbergen / sondern sogleich der Obrigkeit hiervon die Anzeig zuthun / damit dieselbe gegen solche Ubertretter / welche sich heimlich und boshafftig eingeschlichen / der Gebühr nach / und zwar mit Erkennung Leib- auch wol gar Lebens-Straff verfahren möge.»
Art. 6: Für Juden gibt es keine Ausnahmen
«Wobey derer im Land und der Nachbarschafft wohnenden bekandten Juden halber hiermit nachtrucksam verordnet und befohlen wird / daß dieselbe durch ihre gewöhnlich habende Geleithe von der Schuldigkeit / dergleichen genugsam beglaubte Attestata und Fede dannoch vorzuweisen / keines wegs entbunden / und enthoben / sondern dieselbe und ihre Haußgenossen sich der obbeschriebenen Fede zubedienen / gleichwie sonten männiglich gehalten seyn / die frembde Juden aber / wie auch die mit Waaren herumziehende Savoyards gar nicht passiret / weniger den Einheimischen gestattet werden solle / daß sie frembde heimlich hereinzüglen / und ihnen Unterschleiff geben / und diß bey Leib- und Lebens-Straff.»
Art. 7: Abhaltung von Bettler, Vaganten, etc.
«Ubrigens aber so viel andere Vaganten / Bettler und dergleichen Gesind belanget / ist ob deme / was unterm 6ten Maij, verwichenen Jahrs hierunter von Creyses wegen heilsamlich verordnet worden / ernstlich zuhalten / und selbe / sie haben gleich Fede oder Pässe / oder nicht / sogleich ab- und zurückzuweisen / und ihnen darbey anzuzeigen / daß sie auf weiteres Betretten mit denen in vorgehenden affigirt- und publicirten Verordnungen geschärfften Straffen / ohnnachläßlichen angesehen / auch nach Befinden gar am Leben gestrafft werden sollen.»
Art. 8: Reisende brauchen einen Gesundheitspass
«So fehrne aber jemand auß diesem Creyß in die Fehrne verreysen wolte / wurde selbiger von seiner Obrigkeit sich wissen mit einem Gesundheits- oder Sanitäts-Pass oder Fede (darinnen ebenfalls der Nahm / die Statur der Persohn / die Farb / Haar / und Alter beschrieben und gemeldet werden solle / daß sie die nächste 40. Tage zurück sich allda als einen gesunden Orth / wo reine Lufft seye / aufgehalten /) zuversehen / damit er an Fortgang seiner Reyse nicht gehindert werde / deßgleichen er auch ein beglaubtes Attestatum von dem Orth / wo er gewesen / und passiret / bevor er wieder eingelassen wird / zurück zubringen hat.»
Art. 9: Öffentliche Bekanntmachung des Mandats
«Gleichwie nun dieses alles um so mehrers die Wolfahrt des gemeinen Wesens so wol überhaupt / als auch die Conversation des Creyses / und eines jeden Hoch- und Löbl. Stands erheischet / insonderheit aber dergleichen Praecautions-Mittel / welche der Höchste segnen wolle / ohnumgänglich erfordert werden; Als ist dieses Patent, damit diesem allen desto mehr nachgelebet werde / auch sich keiner mit der Unwissenheit entschuldigen könne / so fort an gewöhnlichen Orthen / Pässen und Uberfahrten zuverkündigen und zu affigiren.
Ulm / den 14. Maij, Anno 1721.
Der Fürsten und Stände des Löbl. Schwäbischen Creyses / bey gegenwärtig-allgemeinem Convent, anwesende Rähte / Bottschaften und Gesandte.»
Wie man sieht, wurde das Reisen doch nicht gänzlich verboten. Aber auf Personen aus unverdächtigen Gebieten eingeschränkt und davon abhängig gemacht, ob man seine Aufenthaltsgeschichte lückenlos nachweisen konnte oder nicht.
Quelle und Literatur
- Mandat der Stände des Schwäbischen Kreises betreffend sanitätspolizeiliche Massnahmen wegen der Pest in Marseille, 14. Mai 1721. Einblattdruck. Signatur: StAZH III AAb 1.9, Nr. 3.
- Brandenberger, U.: COVID-19 und Marsilianische Pest. Ein kleiner Rechtsvergleich. WeiachBlog Nr. 1510 v. 18. Mai 2020.
- Brandenberger, U.: Vom Leben mit dem zweiten Pest-Mandat, d.d. 9. September 1720. WeiachBlog Nr. 1599 v. 9. Oktober 2020.
- Brandenberger, U.: Vor 300 Jahren: Zürich sperrt Handels- und Reiseverkehr mit Genf. WeiachBlog Nr. 1606 v. 31. Oktober 2020.
- Brandenberger, U.: Die Weiacher Quarantäne-Baracke von 1720/21. WeiachBlog Nr. 1618 v. 15. Januar 2021.
[Veröffentlicht am 15. Mai 2021 um 02:18 MESZ]
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