Donnerstag, 13. Mai 2021

Jakob Meyerhofer (13): «Ich freue mich sehr über die Eisenbahn.»

Im gestrigen Beitrag ging es um die 1865 eingeweihte Herdöpfelbahn, welche das Zürcher Unterland (oder wenigstens die Bezirkshauptorte) erstmals per Schiene mit der Stadt Zürich verbunden hat. Für die Weyacher war der nächstgelegene Bahnhof in Niederglatt (bis zum 1. August 1876, als Weiach-Kaiserstuhl feierlich eingeweiht wurde).

Einem glücklichen Zufall verdanken wir, dass die Tagebücher von Jakob Meyerhofer, geboren am 9. Januar 1860, einem aus Weiach stammenden stark hörbehinderten Buben, erhalten geblieben sind. 

Jakobs Tagebuch des Jahres 1873 wurde durch Willi Dolderer, 8052 Zürich, transkribiert und 2004 von der Kantonalen Gehörlosenschule herausgegeben (vgl. Quellenangaben unten). 

Internat mit Aufzeichnungspflichten

Der junge Weyacher hatte das Glück, im Juni 1868 in die Blinden- und Taubstummenanstalt in der Stadt Zürich aufgenommen zu werden. Diese wurde als Internat geführt und hatte den Zweck, die behinderten Zöglinge auf eine einfache Erwerbstätigkeit vorzubereiten, die ihren Einschränkungen angepasst schien. 

Die Zöglinge mussten Hefte führen, in denen sie den Lehrstoff für Rückgriff in späteren Jahren unter Anleitung notierten. Und: die Lehrkräfte hielten sie auch an, Aufsätze über ihre Ferienerlebnisse zu verfassen, wie den nachstehend in vollem Wortlaut wiedergegebenen über die Osterferien, verfasst am Mittwoch, 16. April 1873:

«Am letzten Freitag, Sonntag u. Montag waren Festtage, denn es war der Charfreitag u. die Ostern. Ueber diese Festtage hatten wir Ferien, u. die meisten Zöglinge durften schon am Donnerstag nach Hause geben, um die Ihrigen zu besuchen. Auch ich durfte nach Hause zu meinen l. Eltern. [l. ist die Abkürzung für liebe/n, etc.] 

Am Donnerstag Mittag begleitete Herr Kläger mich, den Heinrich Griesser u. die Pauline Frei. Er kaufte Billet für uns. Wir einstiegen in die Eisenbahn. Ich u. Griesser fuhren auf der Eisenbahn nach Niederglatt. Dort stiegen wir aus u. gingen zu Fuss von Niederglatt nach Weyach. Ich sah meine l. Mutter in dem Weinberg. Die Mutter winkte mir. Ich ging in den Weinberg u. grüsste die Mutter u. die Geschwister. Ich trank Wein u. ass Bauernbrod. Dann ging ich mit den Geschwistern nach Hause. Da kam mein l. Vater. Ich grüsste den l. Vater.

Am Abend kamen die Mutter u. der Vetter Jakob Meierhofer u. der Knecht nach Hause. Der Knecht fütterte das Vieh mit Heu. Der Knecht heisst Johannes Lombele. Wir tranken Kaffee u. assen Brod u. Kartoffeln. Dann gingen wir zu Bette.

Am Freitag war der Charfreitag. Es war schlechtes Wetter. Es regnete. Am Vormittag putzte der Bruder Johannes meine Schuhe u. die Schuhe der Eltern. Ich schnitt die Runkelrüben mit der Runkelrübenaxt. Die Mutter lag im Bette, weil sie unwohl war. Die Schwester Elise wusch die Bänke u. die Stühle u. die Taburete mit dem Lappen u. Wasser. Am Nachmittag blieben die Geschwister im Hause. Sie spielten mit dem Ball in der Stube. Der Vater ging fort. Am Abend tranken wir Kaffee u. assen Brod u. Kartoffeln. Ich schälte die Kartoffeln. Schang raffelte die Kartoffeln mit der Raffel. Wir gingen um halb 9 Uhr zu Bette.

Backtag und Zeitungslesen

Am Samstag Vormittag backte die Mutter die Kohlwähen u. dann die Bauernbrode. Die Mutter gab mir 2 Stücke Wähen. Ich ass die Wähen u. trank Wein. Ich hülste Böhnli aus.

Am Nachmittag legten Elise u. ich die Bauernbrode in die Multe. Die Mutter wand den Faden von dem Haspel auf das Spuhlrad. Der Knecht spaltete das Holz. Die Schwester Elise wusch die Gelten mit dem Lappen u. mit Sand u. Wasser in der Küche. Da kam ein Mädchen u. gab uns die Zeitung Volksfreund. 

[Gemeint ist der Bülach-Dielsdorfer Volksfreund, später Neues Bülacher Tagblatt genannt. Dieses Konkurrenzblatt der Bülach-Dielsdorfer Wochenzeitung (später Zürcher Unterländer) hatte Jakobs Vater offenbar abonniert.]

Am Abend kam der Nachbar, Heinrich Bersinger u. las die Zeitung. Ich u. Johannes Meierhofer holten die Aepfel aus dem Keller. Ich schnitt die Aepfel. Ich u. Johannes nahmen die Kernenhäuser von den Aepfeln. Dann gingen wir zu Bette.

Am Sonntag u. Montag war Osterfest. Am Sonntag Vormittag putzte ich meine Schuhe u. die Schuhe des Vaters. Die Eltern anzogen die schwarzen Sonntagskleider. Sie gingen in die Kirche. Sie kamen um halb 11 Uhr. Die Schwester Elise wischte den Boden mit dem Besen. Dann putzte Elise die Bänke u. die Sessel. Dann bekamen wir ein gutes Mittagessen. Wir anzogen die Sonntagskleider. Da kam Heinrich Griesser. Meine Mutter gab dem Griesser u. mir die Aepfel. Griesser ging wieder fort. Die Mutter u. ich u. die Geschwister besuchten den Grossvater. Der Grossvater ist 5 Wochen lang krank. Er hat Hirnerweichung. Der Grossvater liegt im Bette. Sein Kopf ist blass. Die Mutter war traurig, weil der Grossvater krank ist. Er muss wahrscheinlich sterben. Er zittert an dem Leib. Er hat Schmerzen an dem Kopfe.

Ein Augenzeuge des Eisenbahnbaus auf Weiacher Gebiet!

Am Abend gingen der Vater u. ich u. Johannes Meierhofer auf das Feld. Der Vater hat gesagt, dass er eine Wiese für 670 Franken gekauft habe. [Nach Historischem Lohnindex von Swistoval: rund 36'000 Franken] 

Dann sahen wir auf dem Felde, wie die Eisenbahn gebaut wird. Da stehen einige Erdwaggons. Auf dem Boden sind Schienen. Ich freue mich sehr über die Eisenbahn. Dann gingen wir nach Hause. Der Knecht fütterte das Vieh. Da kam die Base u. redete mit der Mutter. Dann gingen wir zu Bette.

Am Montag putzte ich meine Schuhe u. die Schuhe des Vaters. Elise wischte den Boden in der Stube. Ich u. Johannes holten Wasser in die Küche. Die Mutter legte Eier in die Pfanne. Dann nahm die Mutter die Eier aus der Pfanne. Die Eier wurden schwarz gefärbt von dem Farbholz. Ich bekam 6 schwarze Eier von der l. Mutter. Die Geschwister bekamen 2 Eier. Ich freute mich über die Eier. Ich ass 2 Eier u. ein halbes Brödli.

Weiacher Jungschützen, unbewohntes Wasserschloss, Wirtshausbesuch

Am Nachmittag gingen die Eltern u. die Geschwister u. ich von Weyach zuerst nach Kaiserstuhl u. dann fast nach Zurzach. [Wie man nachstehend sehen wird, war der Ausflug wesentlich kürzer] 

Ich sah bei Weyach viele Jünglinge. Sie schossen in die Scheiben auf einem Acker. Ich sah, dass viele Bäume u. Steine abgehauen wurden. Da wird die Eisenbahn gebaut. Wir gingen zuerst bei der Sägemühle vorbei [unterhalb Fisibach] u. dann zu dem Schloss auf dem Rhein. Das Schloss heisst Schwarzwasserstelz. Es hat einen Thurm; es ist alt. Bei dem Schloss steht eine alte Brücke. In dem Schloss wohnen gar keine Leute. Bei dem Schloss steht ein Wohnhaus. In dem Wohnhause wohnt nur eine Frau. Sie heisst Frau Baumgartner; sie ist von Weyach. Das Wohnhaus steht bei dem Rhein. Die Mutter redete mit der Frau Baumgartner. Ich sah eine Angel liegen. 

Dann gingen wir in den Wald u. dann nach Kaiserstuhl. Die Mutter kaufte Kaffebohnen u. Kaffezusatz in dem Laden. Der Vater kaufte viele Nägel für 1 Franken. Die Krämerin gab den Geschwistern u. mir Bonbon. In dem Laden sind viele verschiedene schöne Sachen. 

Dann gingen wir in das Wirtshaus. Der Vater; ich u. die Geschwister tranken Bier u. assen Brödli u. die Mutter trank den rothen Wein u. ass auch Brödli. Der Vater gab der Witherin [gemeint ist wohl die Wirtin] 1 Franken 20 Sangtim. Sehr viele Leute waren im Wirthshause. Viele Leute sangen dort laut. Fast alle Leute tranken Bier u. assen Weggli. Dann gingen wir wieder nach Hause.

Am Abend schälte ich Kartoffeln mit dem Messer. Elisabetha raffelte die Kartoffeln mit der Raffel. Wir gingen zu Bette.

Am Dienstag Morgens anzog ich die Sonntagskleider. Ich putzte meine Schuhe. Dann ass ich Butterbrod.u. trank Wein. Dann nahm ich Abschied von den l. Eltern u. Geschwistern. Albert Griesser begleitete mich u. den Griesser von Weyach nach Niederglatt. Ich schwitzte sehr. Albert Griesser kaufte Billet für mich u. für den Griesser. Dann einstiegen wir in die Waggon; wir fuhren allein auf der Eisenbahn von Niederglatt nach Zürich. Ich kam in die Anstalt u. grüsste die Lehrerschaft. Ich habe Bauernbrod, gedörrte Zwetschgen u. 4 Eier in die Anstalt gebracht.»

Man sieht: Jakob nutzte (wie von Alfred Escher angeregt) die Bülach-Regensberg-Bahn als Passagier. Und noch etwas zieht sich wie ein roter Faden durch: die Kinder mussten ganz selbstverständlich ihre Aufgaben im Haushalt wahrnehmen, beispielsweise Schuheputzen und Küchenhilfsarbeiten.

Verwendete Quellen und weiterführende Literatur

  • Tagebücher 1871, 1873 und 1875/76 von Jakob Meyerhofer von Weiach (ZH), 1868-1876 Schüler an der Blinden- und Taubstummenanstalt Zürich. Mit einer Einleitung von G. Ringli und G. Wyrsch-Ineichen. Hrsg.: Kantonale Gehörlosenschule, Zürich 2004.  Fundstelle: 1873 – S. 23-24.
  • Brandenberger, U.: Herdöpfelbahn. Tourismus-Ankurbelung mit Seitenhieben. WeiachBlog Nr. 1650 v. 12. Mai 2021.

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