Noch vor anderthalb Jahren hätte man erklären müssen, was eine Quarantäne ist. Heute ist dieser Begriff sprachliches Allgemeingut. Dem Coronamassnahmen-Regime sei's geklagt.
Und so wie heute eine immer grössere Zahl an Menschen mehr als nur genervt ist, ob der endlos verlängerten einschränkenden Massnahmen, so war es auch vor 300 Jahren mit der sogenannten Marsilianischen Pest.
Bei allem Verständnis für die Sorgen des Sanitätsrates (einem Ausschuss der Gnädigen Herren von der Obrigkeit zur Zürich): Besonders Händler und Gewerbetreibende im Textilbereich fanden die Vorsichtsmassnahmen dann doch ziemlich übertrieben. Mit dem Ausräuchern der Post hätte man ja noch leben können. Dass die fahrenden Handelsreisenden aus Savoyen nicht mehr kommen durften, auch das wäre noch zu verschmerzen gewesen.
Aber die Art und Weise, wie die Quarantänestationen für Waren betrieben wurden, die führten dann schon zu etlichem Stirnrunzeln. Die Weiacher bekamen das hautnah mit, denn auf ihrem Gemeindegebiet stand so eine Station. Eine Baracke, benannt als «Erlufftungshaus», in der alle Stoffballen aufgeschnitten, wochenlang gelüftet und regelmässig gewendet werden mussten.
Wenn es für Waren gilt, dann halt auch für Menschen
Als äusserst aufwendig erwiesen sich insbesondere die Absonderungs-Vorkehrungen, die das Personal des «Erlufftungs»-Hauses zu treffen hatte. Schliesslich belegte man die Baumwollballen und die gewebten Stoffe aus französischen Landen ja nicht umsonst mit sechs Wochen Wartezeit. Ob sich aber die dazu angestellten Knechte, wie es die strengen Vorschriften des Sanitätsrates verlangten, tatsächlich nur in dem ihnen zugewiesenen Gebiet um die Baracke herum aufhielten, und ob sie wirklich jedesmal die an einem «gewüssen» Ort deponierten Speisen abholen gingen, darf zumindest infrage gestellt werden. Ebenso unklar ist, ob sie wirklich niemals mit jemandem von ausserhalb «Communication» hatten.
All die nicht immer einleuchtenden Vorschriften erregten auf jeden Fall einigen Missmut, wie er deutlich in einem Brief des für den Betrieb des Hauses verantwortlichen Weiacher Pfarrers Hans Rudolf Wolf vom 28. Mai 1721 (also heute vor 300 Jahren) zum Ausdruck kommt:
«Es gibt dismahlen vom Sanitet-Raht ein und andern wunderbaren ordre, dan so wunderbar mir vorkommt, wie die Communion in dem Quarantaine Hauss muss verrichtet werden; durch einen Herren Ministrum von Zürich, der dan 10 Tag im Hauss Quarantaine halten und von mir mit nahrung und decken soll versehen werden ( ... ).» (Weiacher Geschichte(n) Nr. 10, Gesamtausgabe S. 15)
Der Pfarrer kritisierte also, dass ein ordinierter Kollege extra von Zürich herreisen musste, um die Seelsorge für das Personal der Quarantäne-Baracke zu gewährleisten, er aber danach noch zehn Tage dortbleiben musste. Warum gerade zehn Tage?
Es sind Fragen wie diese, die wir Heutigen im Zusammenhang mit den teils abstrus wirkenden Vorschriften aus dem Bundesamt für Gesundheit haben, welche die Weiacher vor 300 Jahren rätseln liessen.
Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie reimt sich. (Joseph Anthony Wittreich, 1987)
Quellen und weiterführende Literatur
- Contagionssachen (Seuchen) 1720-1722. Signatur: StAZH A 70.9 bis A 70.12
- Contagions-Sachen. Signatur: StAZH D 68 («Quarantänen- und Entlüftungshaus zu Weiach» für seuchenverdächtige Ware). Dossier ist Teil des Archivs des Kaufmännischen Direktoriums (Branchenverband des Textilgewerbes der Stadt Zürich).
- Acta und Schrifften: Verloffenheit bey der in Marseille entstandener Contagion und allhiesiger darüber verfasster Sanitetsverordnungen, wie alles hierinnen umbständlichen enthalten. Zusammengetragen von Caspar Hess, Post-Directer (Originaltitel). Signatur: StAZH D 144
- Ruesch, H.: Das «Erlufftungshaus» in Weiach (1720/21). Eine Studie zur Geschichte der obrigkeitlichen Pestprophylaxe im alten Zürich. In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1980. Zürich 1979 – S. 123-136.
- Brandenberger, U.: Mit Mörsern gegen die Pest. Das «Erlufftungshaus» von 1720/21 (Teil 1). Weiacher Geschichte(n) Nr. 9. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, August 2000 – S. 9.
- Brandenberger, U.: Europäisches Handelshemmnis und lokale Einnahmequelle. Das «Erlufftungshaus» von 1720/21 (Teil 2). Weiacher Geschichte(n) Nr. 10. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, September 2000 – S. 13-14.
- Brandenberger, U.: COVID-19 und Marsilianische Pest. Ein kleiner Rechtsvergleich. WeiachBlog Nr. 1510 v. 18. Mai 2020.
- Brandenberger, U.: Vom Leben mit dem zweiten Pest-Mandat, d.d. 9. September 1720. WeiachBlog Nr. 1599 v. 9. Oktober 2020.
- Brandenberger, U.: Vor 300 Jahren: Zürich sperrt Handels- und Reiseverkehr mit Genf. WeiachBlog Nr. 1606 v. 31. Oktober 2020.
- Brandenberger, U.: Die Weiacher Quarantäne-Baracke von 1720/21. WeiachBlog Nr. 1618 v. 15. Januar 2021.
[Veröffentlicht am 29. Mai 2021 um 07:40 MESZ]
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