«Angesichts solcher Beispiele müssen wir uns fragen, wie wir auch nur annähernd wissen können, was wir alles nicht wissen; und wie sollen wir mit dem umgehen, was wir wissen? Wir schaffen uns Verständigungsvehikel, angefangen etwa bei den spät eroberten und schon bald nach 260 wieder preisgegebenen sog. decumates agri über den ‚Rhein-Iller-Donau-Limes‘ hin zu einer angeblich existierenden ‚grand strategy‘ und einer vermeintlichen ‚defence-in-depth‘ in der Spätantike. In Ansätzen umschreiben alle diese Begriffe eine historische Realität, aber sie sind auch allesamt inadäquate Bausteine bei der Konstruktion unseres Bildes von der Vergangenheit. Die Notwendigkeit, weit zurückliegende, auf ganz anderen Voraussetzungen beruhende Prozesse zu beschreiben, zwingt zu Vereinfachungen und Transpositionen.» (Dietz S. 64)
Diese Worte stammen aus dem Munde von Karlheinz Dietz, einem Althistoriker, geäussert an einem Kolloquium Ende März 2007, das von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften organisiert wurde. Die Beispiele, die er anspricht, betreffen Probleme, die beim Vergleich von Textbefunden (z.B. in den Notitia dignitatum) mit archäologischem Fundmaterial und den damit verbundenen Analyseergebnissen auftreten.
Seine Erkenntnis kann natürlich genauso auf näher liegende Abschnitte unserer Vergangenheit übertragen werden. Es ist immer so, dass man mit heutigen Augen und Konzeptideen versucht, das Vergangene zu deuten, einzuordnen und sich so einen Reim darauf zu machen. Aber es sind und bleiben in vielen Fällen Kunstgriffe nötig.
In seinem Artikel befasst sich Dietz mit der Frage, wie die Verteidigung der Nordgrenze des römischen Reiches in der Spätantike wirklich ausgesehen hat.
Kampf ab Grenze? Oder nur Feststellung und Meldung eines Übergangs?
Wie sah das aus entlang des Rheins in unserer Gegend? Haben die Limitanei (Grenztruppen, vgl. WeiachBlog Nr. 1475) tagein, tagaus während Jahren auf den unter Valentinian I. gebauten Türmen Wache geschoben? War die Besatzung in ruhigeren Zeiten mehrheitlich mit Landwirtschaft beschäftigt? Gehörte sie zu einer Art Milizformation, die im WK-System die Grenzüberwachung übernahm?
Es ist durchaus möglich, dass die Wachttürme nicht dauernd besetzt waren, sondern nur bei erhöhter Gefahr, so wie man das auch in heutiger Zeit lagebezogen zu handhaben pflegt.
Man darf also nicht landläufigen Vorstellungen über die Grenzbesetzung im Zweiten Weltkrieg folgend eine Parallele ziehen, wie man das als Leser von Des Kaisers neue Grenze, dem jüngsten Beitrag von Katrin Brunner auf dem Blog des Nationalmuseums über die Aktivitäten Valentinians I. vielleicht zu tun geneigt ist.
Bei den Grenzbesetzungen während der Weltkriege des letzten Jahrhunderts war die Intensität selbst mitten im Krieg sehr unterschiedlich, je nach der Lageentwicklung auf den Kriegsschauplätzen rund um unser Land. Die nachrichtendienstliche Einschätzung der Lage dürfte auch in der Spätantike eine gewisse Rolle gespielt haben. So wurden Händler, die mit der Alamannia (in den Agri decumates, d.h. dem heutigen Baden-Württemberg) und in Helvetien Geschäfte machten, wohl auch über ihre Beobachtungen befragt. Und zwar von beiden Seiten.
Denn es war ja nicht so, dass nur die Alamannen in die römischen Gebiete eingefallen wären. Nein, auch die Römer selber versuchten von der Zeit Julius Cäsars bis in die Spätantike mit Offensivaktionen gezielt und proaktiv Gefahrenherde für das Reichsgebiet bereits in Feindesland zu identifizieren und auch dort zu bekämpfen (wie es Valentinian I. mit den Alamannen gemacht hat). So wurde das jedenfalls bis zum Ende des 4. Jahrhunderts gehandhabt. Dass die römischen Truppen dabei mit alamannischen Siedlungen pfleglicher umgegangen sind als ihre Kontrahenten mit den gallorömischen im Reichsgebiet, ist auch nicht sehr wahrscheinlich. Die beiden Seiten standen sich in Härte und Grausamkeit wohl in nichts nach.
Wie ging man bei Eindringen feindlicher Verbände römischerseits vor? Es ist wahrscheinlich, dass die Limitanei im Kampf ab Grenze nur für die Bekämpfung von mehr oder weniger grossen bewaffneten Räuberbanden geeignet waren und alles was darüber hinaus ging umgehend mittels Feuerzeichen zum nächsten Legionsstandort und von dort in die Kommandozentrale (für unser Gebiet in Vesontio, d.h. Besançon) gemeldet werden musste. Von dort aus wurden dann die Gegenmassnahmen auch unter Einsatz von comitatenses (Feldheer-Verbänden) geplant und umgesetzt.
Völlige Entblössung der Grenze nach 401?
Hat Stilicho Ende des Jahres 401 zur Bekämpfung der Goten unter Alarich die Limitanverbände vollständig abgezogen (und das erst noch in der Absicht, sie nicht zu ersetzen)? Diesen Schluss könnte man aus dem Punkt 4 (unter dem Titel Helvetien ist nur zum Plündern gut) des Beitrags WeiachBlog Nr. 1638 ziehen, wenn es da heisst: «Im Jahre 401 verlor unsere Gegend endgültig den Schutz durch die römischen Grenztruppen [...].»
Folgen wir Dietz, dann stimmt das nicht: «Tatsächlich ist es viel wahrscheinlicher, dass Stilicho Teile des Gallien schützenden Bewegungsheeres und nicht die Limitanverbände abgezogen hat. Nach Claudians blumigen Worten sei sogar eine Legion aus dem äußersten Britannien herbeigekommen und durch die rheinischen Truppen verstärkt worden, „die den blonden Sigambrern entgegengestellt waren, und diejenigen, die die Chatten und die wilden Cherusker im Zaum hielten“. Sie alle zogen nach Italien „und ließen den Rhein nach Abzug der Wachposten durch den bloßen Schrecken gesichert zurück“. Der Dichter aus Alexandria fragt an dieser Stelle, ob irgendeine spätere Zeit glauben werde, dass Stilicho den Limes all seines Schutzes beraubt und die Flussufer ungeschützt zurückgelassen habe und die Barbaren dennoch stillgehalten hätten. Nein, so billige Rhetorik glauben wir nicht!» (Dietz S. 72)
Korrekterweise müsste man es also so formulieren, dass grosse Teile der beweglichen Feldheere abkommandiert wurden. Dieses Vorgehen war seit Jahrhunderten Usus und dürfte von den Zeitgenossen zu diesem Zeitpunkt deshalb nicht als die Wende empfunden worden sein, die wir heute erkennen.
Neu war am Beginn des 5. Jahrhunderts in der Retrospektive dann aber, dass u.a. aus nicht mehr behebbarem Mangel an finanziellen Mitteln (Dietz spricht S. 69 von «immer drückender werdenden Auswirkungen von verlorenem, verwüstetem oder verlassenem Land auf das schwindende Steueraufkommen») die Rückkehr und erneute Stationierung der comitatenses in der bisherigen Stärke offenbar unterblieb. Sie erfolgte jedenfalls nicht so, wie das nötig gewesen wäre, um einerseits die Abschreckung aufrechtzuerhalten und andererseits trotz Dissuasion in Masse eindringenden Gegner wirkungsvoll und innert nützlicher Frist vernichtend schlagen zu können (wie es Stilicho noch 401 gegen Alarich gelungen war). So kam es dann, dass zum Jahreswechsel 406/407 über den Rhein ins Reichsgebiet vorgedrungene germanische Kampfgruppen zum Dauerproblem wurden.
Quelle und Literatur
- Dietz, K.: Zur Verteidigung der Nordgrenze des römischen Reiches in der Spätantike aus althistorischer Sicht. In: Römische Legionslager in den Rhein- und Donauprovinzen – Nuclei spätantik-frühmittelalterlichen Lebens? Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Abhandlungen. Neue Folge, Heft 138. München 2011 – S. 63-77.
- Brandenberger, U.: Zu Höhe und Besatzung der römischen Wachttürme am Hochrhein. WeiachBlog Nr. 1475 v. 16. Februar 2020.
- Brandenberger, U.: Die Alamannen siedelten sich erst zwei Jahrhunderte später an. WeiachBlog Nr. 1638 v. 7. April 2021.
- Brunner, K.: Des Kaisers neue Grenze. In: Blog Schweizerisches Nationalmuseum, 23. April 2021.
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