Montag, 17. Mai 2021

Mobilmachung im Januar 1871. Die Sicht eines 11-jährigen Knaben.

Jakob Meyerhofer (1860-1920) war seit 1868 Zögling der Zürcher Blinden- und Taubstummenanstalt. Die Lehrkräfte hielten die Kinder und Jugendlichen zur Führung von Tagebüchern an. 

In WeiachBlog Nr. 1651 (mit einem Bericht über den Eisenbahnbau bei Weyach an Ostern 1873) wurde erwähnt, es sei lediglich einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass einige von diesen Aufzeichnungen erhalten geblieben sind. Der sah in diesem Fall so aus:

«Die in den Jahren 1871, 73 und 75/76 verfassten Tagebücher blieben im elterlichen Hause und wurden von der Halbschwester Albertine bei ihrer Verheiratung mitgenommen und im Estrich ihres Hauses eingelagert. Über ihre Enkelin, Frau Elisabeth Hermann-Meierhofer, gelangten sie zu ihrer Tochter Christine Abla-Hermann, wohnhaft in Ägypten, und ihrer Nichte Ursula Jucker-Meierhofer in Neerach. Sie bemühten sich um eine definitive Sicherung dieser Dokumente und liessen durch die Herren Willi Dolderer, Zürich, und Albert Meier, Neerach, Transkriptionen erstellen. Die Originale wurden im Herbst 2004 dem Staatsarchiv Zürich übergeben.» (Gottfried Ringli in der Einführung zur Edition der Tagebücher Meyerhofers)

Dass es auch für die Jahre 1868 bis 1870 Tagebücher gegeben hat, kann angenommen werden. Für 1872 und 1874 dürfte dies mit Sicherheit zutreffen. Über den Verbleib dieser beiden Dokumente ist jedoch nichts bekannt.

Die ehemalige Zürcher Blinden- und Taubstummenanstalt an der Künstlergasse 10, am heutigen Platz des Hauptgebäudes der Universität Zürich (abgerissen 1909). Hier schrieb Jakob Baumgartner seine Tagebücher.

«Die Soldaten müssen tragen schwer.»

Unter dem Samstag, 21. Januar 1871 (d.h. kurz nach seinem 11. Geburtstag) schrieb Jakob u.a.:

«Am Mittwoch Abends [d.h. am 18. Januar] kamen zwei Soldaten in die Anstalt. Sie schliefen in der Anstalt. Sie assen und schliefen am Donnerstag u. Freitag in der Anstalt. Die Soldaten gingen heute fort. Sie fahren heute mit vielen anderen Soldaten nach Basel. Am Donnerstag Morgens sahen wir viele Soldaten auf dem Acker hinter der Anstalt. Die Soldaten versammelten sich auf dem Acker. Ein Offizier ritt auf dem Pferd. Einige Soldaten trommelten. Einige Soldaten bliesen die Trompete. Die Soldaten haben eine Uniform = Soldatenkleidung. Sie tragen einen Tornister, eine Flinte, eine Patrontasche, ein Bajonnet, einen Brodsack u. eine Suppenschüssel. Die Flinte u. der Tornister u. der Brodsack sind schwer. Die Soldaten müssen tragen schwer. In dieser Woche konnten wir nicht schlittenfahren. [Geschlittelt wurde wahrscheinlich auf dem steilen Teil der Künstlergasse bis zum Haus zum Rechberg am Hirschengraben.] Am Dienstag u. am Mittwoch ist der Schnee einwenig geschmolzen. Am Donnerstag schneite es wieder. Der Schnee ist nass, weil das Wetter nicht kalt ist.»

Gewehr, Brotsack und Tornister! Selbst der Redaktor des WeiachBlog hat in seinem ersten WK in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre noch einen Landsturmsoldaten mit «Haaraff» einrücken sehen. Einen Brotsack, wie ihn die Sattlerei Fruet beim Alten Bahnhof Weiach damals noch herstellte, hat er selber noch gefasst.


Auf der Siegfriedkarte von 1880 (Ausschnitt: https://maps.zh.ch/s/sox2j6jd) sieht man den «Acker», auf dem sich die von Jakob beschriebenen Soldaten versammelt haben. Die Anstalt war in dem südsüdöstlich des Politechnikums (heute Hauptgebäude der ETHZ) gelegenen Gebäude untergebracht.

Erneute Mobilmachung aufgrund des Kriegsverlaufs

Die Beschreibung im Tagebuch passt auf den Tag genau zur Lageentwicklung. Im Dezember 1870 näherten sich die Kampfhandlungen zwischen Deutschen und Franzosen wieder der Schweiz. Der Bundesrat beschloss daher, Truppen für den Grenzschutz im Jura aufzubieten. General Herzog übernahm am Dienstag, 17. Januar 1871 erneut den Oberbefehl. Weil sich abzeichnete, dass die französische Armée de l'Est, die sogenannte Bourbakiarmee, zur Schweizer Grenze abgedrängt werden würde, verschob Herzog in Eilmärschen Truppen in die Grenzregion (d.h. den heutigen Kanton Jura sowie Kanton Neuenburg). 

Dass es sich bei diesen beiden in der Anstalt einquartierten Soldaten um ein Vorausdetachement oder einen Kadervorkurs (KVK) gehandelt hat, ist daher sehr wahrscheinlich. Unbekannt ist, ob es Zürcher Truppen waren, die da mobilisiert wurden, was aber naheliegt, denn damals war die Schweizer Armee noch aus vielen kantonalen Kontingenten zusammengewürfelt. 

General Herzog deckte die Mängel punkto Ausrüstung, Ausbildung und Organisation in seinen beiden Berichten über die Grenzbesetzung von 1870 und 1871 schonungslos auf und scheute auch nicht vor deutlicher Kritik an den Herren Bundesräten zurück. Bis dahin blockierte Bestrebungen zur Zentralisierung und Reform der Armee erhielten starken Auftrieb und wurden nach Annahme der Bundesverfassung von 1874 umgesetzt.

Quelle

  • Tagebücher 1871, 1873 und 1875/76 von Jakob Meyerhofer von Weiach (ZH), 1868-1876 Schüler an der Blinden- und Taubstummenanstalt Zürich. Mit einer Einleitung von G. Ringli und G. Wyrsch-Ineichen. Hrsg.: Kantonale Gehörlosenschule, Zürich 2004. Fundstelle: 1871 – S. 3.
  • Senn, H.: Artikel Deutsch-Französischer Krieg. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 17.03.2010.

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