Montag, 31. Mai 2021

Vernichtender Hagelsturm 1838. Pfarrer startet Spendenaufruf

Am heutigen Datum vor fünfzehn Jahren ist auf WeiachBlog der Beitrag Nr. 208 mit dem Titel «Verderbliches Schlossengewitter» erschienen. Als Schlossen wurden im 19. Jahrhundert die grösseren Hagelkörner bezeichnet, manchmal auch Hagelkörner als solche.

In Zollingers Chronik (dem blauen Büchlein von 1972) ist auf Seite 38 von einem Schaden von 2300 Gulden die Rede. Wenn man nun aber in die zürcherischen Zeitungen des Juni 1838 schaut, dann stellt man fest, dass dieser Wert um den Faktor 10 zu tief angesetzt ist. Deshalb erfolgt heute ein ausführlicher Nachtrag, in dem zwei vom damaligen Weiacher Pfarrer Keller eingesandte Berichte im vollen Wortlaut (oder jedenfalls dem, wie damals abgedruckt) wiedergegeben werden.

Der Hagelsturm als Strafgericht Gottes

Der erste dieser Berichte erschien (wohl als Inserat) in der Werbeannoncen-Postille von J. J. Ulrich im Berichthaus Zürich (Zürcherisches Wochenblatt, Nummer 46, 7. Juni 1838 – S. 244):

«154. Gestern Abends zwischen 4 und 5 Uhr brach ein heftiges Hochgewitter über die Gegend von Weyach aus. Ein dasselbe begleitender Sturm brachte es mit solcher Schnelligkeit herbei und peitschte die Schlossen, welche an Größe Baumnüssen glichen, mit solcher Gewalt herab, daß man in den Häusern unmöglich die Fensterladen schließen konnte, sondern die Fenster Preis geben und sich in abgelegene Theile der Häuser flüchten mußte, ja viele mit Feldarbeiten Beschäftigte mit blutenden Köpfen und wundgeschlagenen Händen zurückkehrten. Starke Eichbäume wurden sammt den Wurzeln aus der Erde gerissen, und mehrere, welche unter einer Eiche schützendes Obdach suchten, durch ihren Umsturz in große Lebensgefahr gebracht. — Die Saat unserer Felder ist gänzlich zernichtet, der Ertrag der Wiesen und Kleeäcker ist in den Boden geschlagen und die wenige Hoffnung, welche uns der Winter- und Frühlingsfrost in den Weinbergen übrig gelassen, völlig zertrümmert. — An Futter für das Vieh gebricht es gänzlich, die Vorräthe an Lebensmitteln gehen zur Neige und nur Wenige wissen, woher sie nach der Erntezeit Speise nehmen wollen. — Der Schaden ist um so empfindlicher, da die sämmtlichen Bewohner unserer Gemeinde ausschliesslich vom Acker- und Weinbau leben; — doch wir vertrauen auf den, der uns gewiß nicht ohne väterliche Absicht heimgesucht hat und hoffen auf die liebreiche Theilnahme edler Menschenfreunde und christlicher Brüder.
Weyach, den 1. Juni 1838. 
Pfarrer Keller»

Eine Spur der Verwüstung vom Fricktal bis in den Thurgau

Das geschilderte Unwetter hat auch in redaktionell betreuten Blättern seinen Niederschlag gefunden, so u.a. in der Zürcherischen Freitagszeitung, Nummer 23 vom 8. Juni 1838 – S. 2:

«Zürich. Seit dem 30. Mai hatten wir täglich Gewitter, am schwersten wurde ein Theil unsers Kantons Donnerstags den 31., Nachmittags, heimgesucht. So weit wir hören, traf die Schädigung die Gegenden von Weiach, Glattfelden, Eglisau, Teuffen, Berg, Buch, am Irchel liegend; ob das Gewitter noch weiter gezogen, wissen wir nicht.» 

Es folgt eine ausführliche Beschreibung der Schäden am Nordabhang des Irchel. Auch über Weiach gibt es erste Informationen, wenn auch nicht ganz korrekte:

«In Weyach waren die Schlossen so heftig, daß an der Kirche kein Fenster ganz blieb; auch die Fenster vieler einzelner Privaten wurden zertrümmert. Man kann daraus schließen, wie es den Feldfrüchten erging.»

In der Ausgabe der darauffolgenden Woche (Zürcherische Freitagszeitung, Nummer 24, 15. Juni 1838 – S. 3) ging der Redaktor vertieft auf das beispiellose Gewittergeschehen ein:

«Neben den bereits angeführten Orten wurden durch das Gewitter vom 31. Mai auf [sic!] die Ortschaften Hünikon, Hettlingen, Seuzach, Benk, Rutschweil und Rickenbach und einige angrenzende Orte im Thurgau betroffen. — Am heftigsten scheint sich das Ungewitter über das Frickthal, Kanton Aargau, von Rheinfelden bis nach Kaiserstuhl hinauf, entleert zu haben. — In der Nacht auf den 9. Juni fiel Schnee, den man Morgens noch auf der Albiskette liegen sah. Leider scheint sich das Wetter nicht freundlicher anlassen zu wollen, und der Luzerner-Prophet dürfte nur mit seinen Strich- und Gewitterregen es errathen haben.»

Der Sturmwind riss kleine Kinder mit sich

In kleinerer Schrift eingerückt, folgt dieser Einleitung eine Zuschrift des Weiacher Pfarrers Johann Heinrich Keller (1805-1878, in Weiach 1837-1843), der seinen ersten Bericht vom 1. Juni (vgl. oben) nach ein paar Tagen um etliche Details erweitert hat, insbesondere was die amgerichteten Schäden betrifft:

«Die Gemeinde Weyach wurde durch das letzten Donnerstag den 31. Mai Statt gehabte Hochgewitter sehr hart mitgenommen. Abends nach 4 Uhr ward dieses von einem heftigen Sturme dahergetrieben und verursachte allgemeine Zerstörung.  4 bis 5 Minuten hindurch stürzten Schlossen wie Baumnüsse in dichter Menge aus der Wolkenmasse herab und zernichteten die Saat des Feldes, den Ertrag der Wiesen und Kleeäcker und die Gewächse des Weinstocks und der Fruchtbäume gänzlich. Menschen und Vieh, welche nicht schnell genug ein schützendes Obdach finden konnten, kehrten wundgeschlagen und blutend nach Hause zurück; ein kleiner Knabe wurde vom Sturme aus der Hand des ihn führenden Vaters gerissen und etliche 20 Schritte weit fortgetragen; im nahen Walde wurden 17 der größten Eichen und eben so viele Forren sammt den Wurzeln aus der Erde gerissen und mit der Kirche, in welcher auf der dem Wetter zugewendeten Seite alle Fensterscheiben zerschmettert wurden, hatten noch gar viele Häuser ein gleiches Schicksal, so daß sich die Bewohner derselben in abgelegener liegende Zimmer flüchten mußten. 

Ungeachtet der unmittelbar nach dem Gewitter eingetretenen lauwarmen Abendluft und der darauf folgenden ziemlich warmen Nacht konnte man doch gegen Mittag des folgenden Tages bei einer Temperatur von 17° R. [21,25 °C] in schon von der Sonne beschienenen Wiesen ganze Hände voll Schlossen aufheben, deren viele noch 1 1/4'' und 1 1/2'' nach allen Richtungen hin maßen; sie waren meistens in abgeplatteter Kugelform, mit vielen scharfen Ecken versehen, glaslauter und hatten in der Mitte einen milchweißen strahlenförmigen Kern.» 

Hier macht der Herr Pfarrer also nebenbei noch Angaben für die Hagelforschung, indem er die Körner genau beschreibt. Mit 1.5 Zoll (4.5 cm) waren die Schlossen noch grösser als in WeiachBlog Nr. 208 erwähnt (dort: 5/4 Zoll).

Gigantische Schadenzahlen untermauern Spendenaufruf

Keller fährt weiter: «Nach gewissenhafter im Speziellen aufgenommener Schatzung beträgt der Schaden unserer Gemeinde: An Korn und Waizen 6751 fl., Roggen 6160 fl. 20 ß., Futterwachs 4561 fl., Wein 4292 fl. 35 ß., Oehlgewächsen 757 fl. 20 ß., Obst 653 fl., Fensterscheiben 219 fl., zusammen 23,394 fl. 35 ß. Hierbei ist jedoch der Schaden an Hanf und Sommergewächsen, sowie auch an Waldung, in welcher ein großer Theil des dießjährigen Nachwachses zerschlagen wurde, nicht mitgerechnet. 

Wie empfindlich dieser Schaden für die Bewohner unserer Gemeinde bereits ist und noch werden wird, ist leicht zu begreifen, wenn man bedenkt, daß der Feld- und Weinbau ihr einziger Reichthum und ihre einzige Nahrungsquelle ist. Die Meisten sind für die baldige Zukunft von allen Vorräthen an Lebensmitteln und Futter für das Vieh entblößt und wissen noch dazu bei allfällig eintretenden Terminen nicht, woraus sie die auf ihren Gütern haftenden jährlichen Lasten entrichten können. Darum wird hoffentlich eine dringende Fürbitte an alle nahen und fernen Menschenfreunde für seine schwer heimgesuchten Gemeindsgenossen nicht übel aufgenommen werden ihrem Seelsorger 

Weyach, den 6. Juni 1838. H. Keller, Pfarrer.»

Man kann sich die Verzweiflung der Weiacher vorstellen, die nach diesem Unwetter geherrscht hat. Viele weniger wohlhabende Familien dürften vor dem Ruin gestanden haben. Wenn wir den angegebenen Schaden von rund 23400 Gulden auf Swistoval.ch nach dem Modell Historischer Lohnindex umrechnen, dann ist in diesem kurzen Hagelsturm innert gerade einmal 4 bis 5 Minuten ein Schaden von über 4 Millionen Franken entstanden.

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