Vorbemerkung des Verlags: Beim nachstehend abgedruckten Text handelt es sich um die Ansprache zur letztjährigen Bundesfeier, nicht um einen Vorabdruck der diesjährigen. Frau Lothe hat mir ihre Ansprache am 14. Februar zugesandt. Die fünf Monate Zusatzverzögerung gehen also auf die Kappe des WeiachBlog-Schreiberlings. N.B.: Am 1. August 2023 wird die Grünen-Kantonsrätin Wilma Willi aus Windlach zu den Weycherinnen und Weychern sprechen.
Camille Lothe, Jahrgang 1994, ist die – meines Wissens – mit Abstand jüngste Person, die je an einer Weiacher Bundesfeier die grosse Ansprache gehalten hat.
Die Jungpolitikerin aus der Stadt Zürich fungiert mittlerweile seit bald einem Jahr als Präsidentin der Stadtzürcher SVP. Sie hat ein Studium in Politikwissenschaften an der Universität Zürich abgeschlossen. Als Wirtschaftsredaktorin des «Nebelspalters», Podcasterin (z.B. beim Format Bern einfach ihres Arbeitgebers) und Youtuberin (u.a. mit ihrem eigenen Format Uf dä Punkt.) ist sie medial auf vielen Kanälen präsent. Sie hat Migrationshintergrund und sie ist das, was man neudeutsch «outspoken» nennt. Getreu dem Titel ihres Youtube-Kanals.
Es ist wohl unausweichlich, dass eine solche Person in woke-links-grünen Kreisen zu einer Art Hassfigur und Projektionsfläche avanciert. Das NZZ-Magazin bezeichnet sie jedenfalls als «Frau der Extreme» und titelte vor bald einem Jahr: «An Fällen wie ihrem entscheidet sich die Zukunft der SVP: Wie tickt Camille Lothe?». Die Illustration von Michelle Rohn allein ist schon Provokation pur: im rechten Arm trägt die porträtierte Protagonistin eine Regenbogenflagge, im linken Arm ein rosarotes Sturmgewehr! (Artikel von Rafaela Roth, NZZ Magazin, 23.07.2022)
Für die ausnahmsweise bereits am 31. Juli durchgeführte traditionelle Bundesfeier auf dem Schulhausplatz brauchte es jedenfalls keinen Personenschutz. Ob die Ansprache Lothes zum Nationalfeiertag in irgendeiner Form extrem sei, diese Beurteilung sei nun der geneigten Leserschaft überlassen.
Der Abdruck erfolgt in dem Format, in dem die Rednerin den Text zur Verfügung gestellt hat. Einzig die Zwischentitel sowie die Verlinkungen auf externe Inhalte sind redaktionelles Beiwerk:
Festansprache zur Bundesfeier 2022
«731 Jahr… 731 Jahr.. Das isch die wunderschöni Jahreszahl, wo ich hüt dörf mit ihne fire.
731 Jahr sind eh langi Zit. Ih däre Zit hettet chöne über 19.8 Millione Tonne Emmentaler produziert werde, mer het sich 127 Millione mal de Song Chihuhua vom DJ Bobo chöne ahlose [Anm. WeiachBlog: dauert 3 Minuten] oder binere durchschnittliche Verzehrzit vo 75 Minute het mer allei chöne 5 Millione Fondue esse.
… Oder mini Lebenszit vo 28 Jahr macht 3.8% vo de Lebeszit vo de Schwiz us.
Mini Dame und Herre, min Name isch Camille Lothe, ich bin d’Präsidentin vo de Junge SVP Kanton Züri und ich han d’Ehr hüt ihri Festrednerin z’si. Es isch mir nöd nur eh grossi Freud, dörfe mit ihne de Vorabig zum 1. Auguscht z’verbringe, sondern die Red het au für mich en ganz bsunderige Stellewert: Ab morn tritt ich mis neue Amt als Präsidentin vo de SVP Stadt Züri ah. Ihri Gmeind het sich also ganz bewusst dazu entschide eh jungi Frau us de Stadt Züri zu sich ihzlade.
Wüssed Sie, woni vor es paar Mönet die Ihladig erhalte han, han ich mich gfröget: Git’s da echt eh versteckti Botschaft us dere wunderschöne Gmeind ad Stadt Züri? Ich bin nämlich devo überzügt, dass ihre Gmeindrat das ganz bewusst gmacht het.»
In Weiach ist die Welt noch in Ordnung
«Gaht’s darum, dass ich während dere längere Fahrt mit Tram, Zug und Bus ihri schöni Landschaft gsehn? Ich chan ihne sege: d’Zit hani gnueg gah, d’Fahrt isch nämlich fascht 50 Minute gange – das isch aber usnahmswis nöd a de viele Tempo 30 Zone glegge, wie ich das us de Stadt kenne. Oder wend sie mich vilicht mit ihrem tüfe Stüürfuess dazue verlocke ih ihri schöni Gmeind z’zieh – en Stürfuess 89% isch im Verglich zu de 119% idä Stadt Züri doch en guete Ahreiz.
Es zeigt aber au öpis: Ufm Land chamer no mit Geld umgah. Während de Bund jährlich 118.8 Millione Franke für diversi Öffentlichkeitsarbet usgit, macht mer das bi ihne eifacher: Mer ladet eifach d’Stadtzürcher ih, die merked denn scho vo alleige d’Vorteil und d’Schönheit vo Weiach.
In Weiach isch d’Welt no in Ordnig. Ih dä Facebookgruppe «Du bisch vo Weiach, wenn..» sind d’Problem uf jede Fall chli. Es findet sich ihträg, dass mer damals besser nöd as Eidgenössische Schützefescht vo 1872 mit de sogenannte Herdöpfelbahn nach Züri gfahre isch: Dä ÖV hegi damals scho nöd funktioniert. Ebefalls wird drüber d’diskutiert, ob d’Weyacher mal meh Holz usm Wald gstohle hend, als d’Ihwohner us de andere Gmeinde. Gross globet wird s’Kafi vo de Tina – dete git’s anschinend feini Weihä. Sie gsehnd: d’Problem sind chli. Weiach schint en Fleck vo de Glückseligkeit z’si.
Dass mir überhaupt hüt chönd vo dem Fleckli Glück uf de Welt rede, isch kei Selbstverständlichkeit. Ahfangs August 1291 hend sich die drü Waldstette, Uri, Schwyz und Unterwalden zemegschlosse und damit de Ursprung vo de Eidgnosseschaft markiert. Bereits ih dem Dokument isch d’Wert und s’Fundament vo eusere Schwiiz z’erchenne. D’Eidgnosse handlet eigeständig. Sie handlet unabhängig. Sie handlet frei. D’Eidgenosse wend über ihres Schicksaal und ihri Landslüüt selber bestimme.
Mitm Bundesbrief vo 1291 hend eus die drü Waldstette nöd nur s’Fundament vo de hütige Schwiiz gleit, sondern hend damit au es wertvolls Erbe für die kommende Generatione gschaffe. Unabhängig, Selbstbestimmt und Frei söll d’schwizer Eidgnosseschaft si und au blibe.»
Kleinstaat ohne weltgeschichtliche Mission
«D’Schwiiz isch en Chliistaat. Mir hend eus vom chline, vo Natur us arme Land in Europa, vom einstige Armehuus Europa zu eim vo de erfolgrichschte und wohlhabenste Länder vo de Welt entwicklet. Mir glaubed nöd ane weltgschichtlichi Mission, wie anderi Staate. Mir sind neutral und betribed kei weltwiti Machtpolitik. Doch das isch nöd immer eifach z’erträge. Mir sind mit de schreckliche Tatsach konfrontiert worde, dass Chrieg in Europa nöd nur möglich isch, sondern au stattfindet. Doch grad i schwirige Zite isches umso wichtiger, dass mer sich ah die Wert erinnered, wo euses Erfolgsmodell Schwiiz usmached, erinneret.
Doch d’Erinnerig allei langet nöd. D’Unabhängigkeit und d’Freihet sind fundamentali Wert, ja gar d’Raison d’être vo de Schwiz. Doch ich möcht Sie dra erinnere: Sie sind nöd geh. Sie sind nöd bedingigslos. Grad ah somene wunderbare Ahlass, wie hüt abig, bestaht d’Gfahr, dass mer die Errungeschafte viel z’schnell als Selbstverständlichkeit gseht. Doch d’Freiheit muess immer wieder uf s’neue erkämpft und verteidigt werde. D’Freiheit isch fragil und verletzlich.»
Falsche Frisuren und fragile Freiheit
«Ja, das sind mahnendi Wort. D’Schwiz isch es Land in Freiheit – doch nur solang mir als Schwizer Bürger und Bürgerinne für die Freiheit ihstönd. Ich spriche Sie bewusst direkt als Bürger und Bürgerinne vo eusere Eidgnosseschaft ah. D’Freiheit isch en ganz persönliche Wert. Sie definiered als Gsellschaft d’Freiheit vo de Schwiz. Mini Dame und Herre – das isch eh grossi Ufgab. Doch grad idä aktuelle Zit isch die Ufgab umso wichtiger.
Mir lebed inere Zit, wo Bands ufgrund vo de falsche Frisur am Uftritt ghinderet werded. Mir lebed inere Zit, wo Lieder ufgrund vo falsche Inhalte nüme gspilt werded. Mir lebed inere Zit, wo de eifachi Bürger söll im kommende Winter nöd über 20 Grad heize. Das isch eh besorgniseregendi Entwicklig. Mir hend zueglueget, wie sich immer meh gsellschaftlichi Felder zur neue Staatsufgab entwickled hend. Es schint fast nüt meh z’geh, was sich vo de Zueständigkeit vom Staat entzieh chan. Mini Dame und Herre, das isch genau die Ihschränkig vo ihrere persönliche Freiheit. Ohni dass d’Gsellschaft d’Freiheit aktiv definiert, riskiered mir, dass au de moderni Staat zu enere moralische Instanz wird. Eh moralischi Instanz, wo sich zur Ufgab gmacht het, die individuelle Freiheitsentscheid vo sine Bürger abzneh. Doch wer für sich selber als Mensch kei Entscheidige meh treffe chan, lebt nüme in Freiheit.
D’Freiheit definiere isch essentiell. De Schwizer Staat isch daruf ahgwise. De Schwizer Staat isch meh als d’Summe vo de Rechtsgrundsätz us eusere Verfassig. Er isch nöd nur eh Verwaltigsmaschine. De Schwizer Staat brucht die moralische Grundsätz vo eus als Gsellschaft, will er sie vo sich us nöd erzüge chan. Eusi freiheitlichi Schwiz chan sich nur als sötiges definiere, wenn d’Bürger selber die freiheitliche Grundsätz immer wieder uf s’neue definiered.»
Direkte Demokratie leben
«Doch, wie definiert mer d’Freiheit als Gsellschaft? Zum Schluss möchte ich Sie ah eh witeri Errungeschaft erinnere: die direkti Demokratie. Doch z’viel Mensche ich dem Land, segeds Jungi aber au viel Lüt i die Bergregione gönd nüme go abstimme und go wähle. Ih dem Moment, wo de eifachi Bürger nüme sini direktdemokratische Recht brucht, passiered Fehlentwicklige. Oft wird gseit: «die da obe» mached ja sowieso was sie wend. Dass in Bern eh ganz eigeni Dynamik herrscht, witweg vom eigentliche Volk. Doch lönd sie mich s’Wort genau ah die Mensche richte, wo das glaubet: Mit genau dere Haltig: «die da in Bern mached was s’wend», gebed Sie als Stimmbürger eusi Unabhängigkeit uf. Wer sini Meinig nöd a d Urne treit, git damit die volli Macht und Entscheidigshoheit allne andere.
Es isch darum eusi Pflicht – au da in Weiach – die direktdemokratische Recht wieder wahrzneh, wieder konsequent ah Wahle und Abstimmige teilzneh und damit verantwortigsvoll eus für eh freiheitlichi Schwiz ihzsetze. Mir müend eus nämlich bewusst si, dass Freiheit, Sicherheit und Wohlstand kei Selbstverständlichkeit sind. Die freiheitlichi Gsellschaft idä de Schwiiz, chan nur bestah blibe, wenn mir gmeinsam eusi Pflicht wahrnehmed und selbstbestimmt seged, ih welli Richtig d’Schwiiz söll stüre.
731 Jahr, das langet au zum ungefähr 12 Millione mal mini Feschtred zum erste August ahzlose. Ich bin aber devo überzügt, dass kei 12 Millione mal nötig sind, sondern dass mini Botschaft hüt in Weiach ahcho isch.
Es isch mir eh Ehr gsi, dörfe ihri Feschtrednerin z’si. Ich wünsche ihne jetzt en wundervolle 1. August. Gnüssed Sie d’Zit mitenand, lueged Sie use uf eusi wunderschöni Schwiiz und hebed Sie Muet und Chraft, zu de Freiheit vo eusere Schwiiz z’stah.»
Kommentar WeiachBlog
Im Gegensatz zu anderen Festrednern, die sich schon kurz nach ihrer Ansprache verabschieden mussten, hat es Camille noch mehrere Stunden in Weiach ausgehalten. Dem Vernehmen nach sei sie bis 2 Uhr morgens geblieben. Ohne den Fluglärm, dessen 90-Sekunden-Takt im Verlauf des Abends den Redefluss schon ziemlich stört, kann man es bei uns zu späterer Stunde an einem lauen Sommerabend durchaus aushalten und sich gut miteinander unterhalten.
Das Zitat, das WeiachBlog der Rednerin für den Titel dieses Artikels in den Mund gelegt hat, soll durchaus programmatisch wirken. Denn in diesem Punkt ist in Weiach die Welt überhaupt nicht so, wie sie die Verfechter der direktdemokratischen Abstimmungskultur (inkl. Gemeindepräsident) gerne hätten. Die Weycher sind regelmässig unter den Top 10 der stimmabstinentesten Gemeinden im Kanton zu finden, Briefwahlmöglichkeit hin oder her. Ausreisser, wie der letzte Abstimmungssonntag (18. Juni 2023), haben meist mit besonderer persönlicher Betroffenheit zu tun. In diesem Fall ist die Rekordstimmbeteiligung (Verdoppelung der sonstigen Werte!) wohl primär der Vorlage zum Projekt «Zukunft 8187» geschuldet.
Gerade an diesem sogenannten Infrastruktur-Projekt lässt sich exemplarisch aufzeigen, wie die aus Stadtzürcher Sicht geäusserten Zuschreibungen (mit Geld umgehen können, Welt noch in Ordnung, etc.) bei genauerer Betrachtung keineswegs von allen in der Gemeinde Ansässigen geteilt werden. Und das hat sehr viel mit dem demographischen und baulichen Wandel der letzten paar Jahre zu tun, von dem Weiach sozusagen überrollt worden ist.
Man hat Bauentwicklung befürwortet. Und es kamen Menschen. Mit anderen Ansichten und Bedürfnissen als sie bei der bisherigen Bevölkerung noch vor wenigen Jahren mehrheitlich Konsens waren. Der aktuelle akute Kitaplätze-Notstand (u.a. als Folge der abrupten Schliessung der gemeindeeigenen Kita im Pfarrhaus) ist nur eines von vielen Symptomen dieser Wachstumsschmerzen.
Und wie bei einem Teenager, der zu schnell in die Höhe geschossen ist: es braucht Zeit, seine Gefühle zu sortieren, mit der Umgebung und sich selber die eigene Identität neu zu definieren und herauszufinden, was man nun künftig wie tun will im Leben. Insofern war die Wahl einer jungen SVP-Politikerin aus urbanem Umfeld als Festrednerin 2022 genau die richtige Entscheidung.
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