Das 17. und 18. Jahrhundert war in Zürich eine Zeit, in der Gedanken und Menschen in Korsette gezwängt wurden. Die Herrschaftsausübung beruhte auf einem theologischen Fundament, das die Epigonen Zwinglis in den Jahrzehnten nach seinem gewaltsamen Tod zusammengezimmert hatten.
Ein wichtiger Eckpfeiler dieser Herrschaft waren die Pfarrer, die auf der Landschaft nicht nur als Seelsorger, sondern auch als Sittenwächter, Sozialamtsvorsteher, etc. fungierten. Ihre Aufgabe war es, das gesellschaftliche Gefüge so zu stabilisieren, dass der Stadtstaat mit minimalem Aufwand am Laufen gehalten werden konnte. Das musste er insbesondere ohne ein stehendes Söldnerheer im Rücken, dessen brutale Gewalt andere Landesherren zur Niederschlagung von Aufständen ins Spiel bringen konnten. Die Zürcher Obrigkeit hatte dieses Mittel nicht zur Verfügung und musste daher auf das setzen, was man heute «soft power» nennt. Konkret: Fein verästelte soziale Kontrolle. Gewalt wird dabei nur im Notfall und fast ausschliesslich gegen Abweichler eingesetzt.
Weiacher Pfarrer trug die aktuellen Beschwerden vor
Gravamina (Plural von gravamen) sind Beschwerden, die an die Obrigkeit gerichtet werden. Es geht also ganz generell um Missstände. Um Vorkommnisse und Umstände, die als störend, schädlich, ärgerlich, was auch immer empfunden werden. Zustände also, die man so nicht stehen lassen kann und gegen die eine Regierung etwas zu unternehmen gezwungen ist.
Ab 1715 war der Weiacher Pfarrer Hans Rudolf Wolf gleichzeitig auch Dekan des Eglisauer Pfarrkapitels (wie unsere Gemeinde 1712 dorthin zugeteilt wurde, vgl. WeiachBlog Nr. 89; zu Pfr. Wolf selber, vgl. WeiachBlog Nr. 193). Und als solcher wurde er bei den grossen Synoden der Zürcher Kirche, also den in der Regel zweimal jährlich durchgeführten Generalversammlungen aller Zürcher Pfarrer, ab und zu damit beauftragt, im entsprechenden Teil der Veranstaltung die Beschwerden vorzutragen, die gerade anstanden.
Nachstehend sind die Themen aufgeführt, zu denen unser Pfarrer laut den Einträgen im Online-Katalog des Zürcher Staatsarchivs vor versammelter Truppe zu referieren hatte:
Frühlingssynode 1716 (StAZH E I 2.8, Nr. 20)
«Synodalverhandlungen betreffend a) die Klage über das Anwachsen dreier Welttorheiten: der Atheisten (es ist kein Gott), der Bekkeristen (es ist kein Teufel), der Pietisten (die keine Sünder, sondern vollkommen sein wollen); b) die Entheiligung des Sabbats, so durch das Kegeln; c) Leichtfertigkeiten selbst in Graden allzunaher Blutsverwandtschaft; d) die Hoffahrt als Quelle von Armut; e) das Tresterbrennen.» [Verzeichnet in Kanzleiregister StAZH KAT 37, S. 151.]
Wir sehen hier eine bunte Mischung aus theologischen und sozialen Themen (wie man sie heute voneinander abtrennen würde, aber damals als Einheit gesehen hat).
Unter einer «Leichtfertigkeit» ist das Eingehen einer intimen Beziehung zu verstehen, die dann natürlich auch biologische Folgen haben kann, in diesem Fall Erbschäden durch Inzucht.
Als «Hoffahrt» (heute eher «Hoffart» geschrieben) gilt eine Haltung, die den eigenen Wert und Rang oder persönliche Fähigkeiten (zu) hoch veranschlagt.
Das Tresterbrennen ist eine Folge des Weinanbaus (damals war Wein in verdünnter Form ein Alltagsgetränk). Dabei wird aus Traubentrester, dem Pressrückstand, Schnaps gebrannt (vgl. Tresterbrand).
Herbstsynode 1720 (StAZH E I 2.8, Nr. 29)
«Synodalverhandlungen betreffend a) das laodizeische Wesen und Leben; b) Trunkenheit; c) Fluchen und Schwören; d) Leichtfertigkeiten; e) Kegeln an Sonntagen.» [Verzeichnet in Kanzleiregister StAZH KAT 37, S. 152.]
Das laodizeische Leben ist eine Anspielung auf die antike Stadt Laodizea in Phrygien (heutige Westtürkei) und die Bewertung der dortigen christlichen Gemeinde in der Offenbarung des Johannes (sie ist die siebte Gemeinde der Sieben Sendschreiben). Diese Stadt war äusserst wohlhabend, was zu einer Art «Papierli-Christentum» führte. Laodizenisch wurde also als Chiffre verwendet für eine eher lauwarme Einstellung zum christlichen Glauben, denn es geht einem ja (zu) gut. Und auch hier (wie schon 1716) tauchen wieder Leichtfertigkeiten und das Ärgernis des Kegelns auf.
Frühlingssynode vom 24. April 1725 (StAZH E I 2.9, Nr. 9)
«Synodalverhandlungen betreffend a) die mangelhafte Exekution und Bestrafung von Vergehen gegen die obrigkeitlichen Mandate; b) Reflexionen über die Mittel zur Verminderung der Gravamina und Besserung des Volks: Ermahnung und Abstrafung durch die Seelsorger; gute Vorbilder; Verbesserung der Schulen; Schutz der Verzeiger von Vergehen vor bösen Buben und Schaden; Predigten über die Wichtigkeit der Kommunion und die christliche Beobachtung der Nachfeiertage.» [Verzeichnet in Kanzleiregister StAZH KAT 37, S. 85.]
Ach diese Schäfchen... Sie wollen einfach nicht, wie sie sollen. Bedrohen gar diejenigen, die durch ihre Meldungen doch nur ihre gesetzliche Pflicht tun. Und bedürfen daher allesamt der intensiven Betreuung durch ihre Pfarrer und Stillstände (d.h. Kirchenpflegen), denn sonst würde alles aus dem Ruder laufen. Der dagegen in Stellung gebrachte Massnahmenkatalog scheint in obigen Zeilen deutlich durch.
Herbstsynode vom 1. November 1729 (StAZH E I 2.10, Nr. 1)
«Synodalverhandlungen betreffend a) die Entheiligung des Tages des Herrn, obgleich Dankbarkeit gefordert wäre für die fruchtbare und wohlfeile gegenwärtige Zeit; b) die überhandnehmende Unkeuschheit in den nächtlichen Liechtstubeten, Winkelwirtschaften und an anderen Orten; c) die Kleiderhoffart bei Mannspersonen und Weibspersonen.» [Verzeichnet in Kanzleiregister StAZH KAT 37, S. 86.]
Das Jahr 1729 war also offenbar betreffend Ernten so erfolgreich, dass die Preise nicht in unerschwingliche Höhen stiegen (und daher der Staat nicht mit Lebensmittelhilfen eingreifen musste).
Unter einer «Liechtstubete» ist laut dem Schweizerdeutschen Wörterbuch Idiotikon (Id. X,1183) aus dem Jahre 1936 folgendes zu verstehen: «a) 'nächtlicher Besuch oder nächtliche Zusammenkunft beiderlei Geschlechtes, Visite, Besuch nach dem Nachtessen, ohne Rücksicht auf Geschlecht und Zweck', auch bei besondern Gelegenheiten. b) (nächtlicher) Besuch eines ledigen Burschen (gelegentlich in Begleitung) bei einem Mädchen (in dessen Kammer), bes. von seiten eines ernsthaften Bewerbers, Freiersbesuch bei der Zukünftigen, 'Beisammensein zweier Liebender'». Wo hier das Problem liegt, bedarf keiner weiteren Erläuterung.
Und eine Winkelwirtschaft ist eine Beiz ohne obrigkeitliche Konzession (also die illegale oder halblegale Konkurrenz zu den sog. ehaften Gasthöfen, wie dem Weiacher «Sternen»).
Frühlingssynode und Herbstsynode 1738 (StAZH E I 2.8, Nr. 35)
«Synodalverhandlungen betreffend a) die allgemeine Sündhaftigkeit und Unbussfertigkeit, die vor allem in der Unkenntnis über den Willen von Gott gründet; b) den einreissenden Luxus und die Üppigkeit, die in die Armut führen; c) die mangelnde Kirchenzucht; d) die Überfüllung des Landes mit Diebesgesindel und die Notwendigkeit von ordentlichen Wachen an den Grenzen; e) die Entheiligung des Sabbats auch durch die Gemeindevorgesetzten; f) die Kilbenen.» [Verzeichnet in Kanzleiregister StAZH KAT 37, S. 152.]
Da haben wir den Salat. Wenn sogar Gemeinderäte und Gemeindepräsidenten sich nicht an die Regeln halten (z.B. am Sonntag Aktivitäten entfalten, die dort nach sittenstrenger Auffassung nicht hingehören), dann ist natürlich Feuer im Dach. Da sind wir dann wieder beim Thema «gute Vorbilder» (vgl. Frühlingssynode 1725 oben).
Auch das Wort «Kilbenen» kann neben der ursprünglichen Bedeutung (dem Kirchweih-Fest) auch übertragene Bedeutungen haben, die obrigkeitliche Gegenmassnahmen rechtfertigen können (vgl. Id. XV, 1070ff):
«a) ausgelassene Lustbarkeit, Wohlleben (mit Essen und Trinken), auch Vergnügen, Unterhaltung, Spass
b) lärmiges Durcheinander, Volksauflauf, Aufregung
c) unerfreuliche, lästige Sache, Ungelegenheit, Schererei (darunter: α) [..] häuslicher Streit, Zwist, β) [..] Monatsblutung der Frau)
d) Geschmacklosigkeit, bes. in Kleidung und Aufmachung, farbenreicher Kitsch»
So. Und das waren jetzt nur diejenigen fünf Synoden, in denen Pfr. Wolf die Gravamina vortragen musste. Man kann sich leicht ausrechnen, welche Missstände an den anderen Synoden beklagt wurden. Wie muss man sich da als Pfarrer wohl gefühlt haben? Wie Sisyphus mit seiner endlosen Aufgabe?
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