Dienstag, 17. September 2024

Ab in fremde Kriegsdienste – der Zwangsehe entflohen

Conrad Bersinger, Schmieds, Küfer von Weiach, geboren 1829. So wurde ein junger Mann im Dezember 1855 durch einen Beamten der Militärdirektion des Kantons Zürich identifiziert. Sein Fehler: Er hatte sich – ohne auf dem ordentlichen Weg Auslandurlaub eingegeben zu haben – für den Dienst bei einem Schweizerregiment im Königreich beider Sizilien anwerben lassen und war bereits auf dem Weg nach Neapel (für die Details: Weiacher Geschichte(n) Nr. 29). 

Sich als Schweizer Bürger für fremde Kriegsdienste anwerben zu lassen, das war damals noch nicht strafbar (erst seit 1927, vgl. Art. 94 MStG). Zu diesem Zeitpunkt war lediglich die Anwerbung auf Schweizer Gebiet verboten, weshalb es gleich ennet der Grenze in Hohentengen ein sogenanntes Werbdepot gab.

Bersinger flüchtete aus einer komplett gescheiterten Beziehung. Eine Fluchtursache, die man auch bei anderen Unterländer Männern in früheren Jahrhunderten feststellen kann.

Ein Eglisauer wird zum Heiraten gezwungen

Zeitgenössische Aufzeichnungen aus dem 17. Jahrhundert sind uns von Rudolf Wirz (1624-1682) überliefert, der von 1671 bis zu seinem Tod Pfarrer in Eglisau war. Er führte das sogenannte Stillstandsprotokoll, also die Amtsbücher der Sittenaufsicht und Kirchenpflege im reformierten Rheinstädtchen am Tor zum Rafzerfeld, das seit 1651 vollständig zu Zürich gehört:

«[Donnerstags] den 5. tag junii 1673 erschine vor einem ehrsammen stillstand aufm rahthauß Regula Gering von Rüdlingen, damahls bei eegaumer Hartmann dienend, fürgeben: Hanß Ulrich Hartmann, eegaumers sohn, habe ihro nit allein die ee versprochen, sonder sei auch geschwängeret, weliches gedachter Hartmann wider alles zusprëchen hartnäkig, auch zu Zürich vor eegricht verlaugnet, biß man im mit dem Wellenberg gethröüwt, da er bekendt, daß er sei geschwängeret habe. Darauff er sei eelichen müßen. Die copulation ist gschehen zu Weyach. NB. Wie es wyter gangen, vide in ao 1675 den 9. febr[uarii].»

Da war also eine Frau aus dem Schaffhausischen, die sich mit einem Sohn ihres Dienstherrn (und Funktionär der lokalen Sittenaufsicht!!) eingelassen hatte. Die daraus entstehende Schwangerschaft liess sich nach einigen Monaten nicht mehr leugnen. 

Geständnis unter Androhung der Folter

Regula Gehring gab, wie es die Vorschriften verlangten, gegenüber dem Pfarrer den Kindsvater bekannt, eine Eigenschaft, die Hans Ulrich Hartmann jedoch abstritt. Er knickte erst vor dem höchsten Zürcher Familiengericht ein, als man ihm schliesslich die Inhaftierung im Gefängnisturm mitten in der Limmat androhte (samt der dann dort folgenden Befragung unter Folter). Und er legte ein Geständnis ab: Ja, ich habe sie geschwängert.

Ob er nun der Vater war oder nicht: Rechtlich gesehen musste er die Gehring nun ehelichen, da führte kein Weg daran vorbei, denn das Kind musste einen Vater haben, der für seinen Unterhalt zahlt. Im Übrigen war diese Zwangsheirat auch erforderlich, um den Ruf seines Vaters nicht noch weiter zu beschädigen.

Kein Aufsehen erregen, deshalb Heirat in Weiach!

Unter dem Datum 9. September 1673 ist im Weiacher Kirchenbuch eingetragen, es sei (transkribiert in heutige Schreibweise) Hartmann, Hans Ulrich, Eglisau, getraut worden mit Gehring, Regula, Buchberg SH. Und zwar «absque sertis», wie der Weiacher Pfarrer Hans Rudolf Seeholzer ausdrücklich vermerkte, also «ohne Brautkranz». Dass Gehring diesen nicht tragen durfte, war eine Ehrenstrafe wegen des vorehelichen Beischlafs. 

Und der Transkribent, ein im Privatauftrag tätiger Genealoge, notierte auf der Karteikarte, die er zu dieser Hochzeit anlegte: «Sie sind auf Befehl der Herren Eherichter in Weiach, doch der Gemeinde ohne Schaden, eingesegnet worden.» (Quelle: StAZH E III 136.1, EDB 318)  Dieser Zusatz war wichtig, er bedeutete nämlich, dass der Gemeinde Weiach dadurch in keiner Art und Weise Kosten aufgebürdet werden konnten.

Im Eglisauer Kirchenbuch gibt es natürlich auch einen entsprechenden Eintrag von Pfarrer Wirz – unter demselben Datum wie oben: Hartmann, Hans Ulrich, Burg, getraut mit Gehring, Regula, Buchberg SH. Dazu die Notiz: «Diße Hochzeyt ist mit consens Unser Gn. Hrn. zsammen geben worden zu Weyach, weyl er sei haben müsßen, weyl er sei geschwächt und sich allhie zu copulieren asßen gschämbt.» (Quelle: StAZH E III 32.3, EDB 30)

Deutlicher kann man es kaum formulieren. Und es war das Ehegericht in Zürich selber, das die auswärtige Heirat angeordnet hatte.

N.B.: In den Kirchenbüchern wird die aus Rüdlingen stammende Gehring Buchberg zugeordnet, weil die beiden Gemeinwesen seit Jahrhunderten eine gemeinsame Kirchgemeinde bilden. Die Kirche Buchberg befindet sich zwar auf exponierter Höhe über dem Rhein, das Gotteshaus steht jedoch auf Rüdlinger Boden. 

Gebrochenes Versprechen, mit der Ehefrau einen Hausstand zu gründen

Nicht einmal anderthalb Jahre nach dieser Zwangshochzeit musste sich der Eglisauer Stillstand erneut mit dem Fall Hartmann-Gehring befassen – ordentlicher Sitzungstag war offenbar der Donnerstag (s. oben):

«[Donnerstags] den 9. febr[uarii] 1675 ist stillstand aufm rahthauß ghalten worden und erkendt, das obgenanter under dato 5. junii 1673 Hanß Ulrich Hartman eegaumers sohn bei der Burg sein haußfr[auw] Regula Gering soll ins vatters hauß nemmen oder mit ihro außhin zeühen und selbsten hauß halten oder für ein ehrsamm eegricht gwisen werden, weliches ehe er wollen thun, hatt er versprochen, wölle auf s. Margrethen tag mit ihro auß des vatters hauß und eigen hauß halten. Alß aber die hrn. von Straaßburg an unser gnedig hrn. und Bern volk begert und erlangt zur bsatzung in ihr statt, hatt diser Ulrich, der bishar nit können vom vatter kommen, jetz könen dingen und gen Straßburg zeühen, damit er nit mit der Geringin haußen müße etc.»

Dem Ehemann wider Willen war also befohlen worden, seine Angetraute ins elterliche Haus zu nehmen oder einen eigenen Hausstand zu gründen. Widrigenfalls wurde ihm eine erneute Vorladung vor das Ehegericht angedroht. Worauf Hartmann junior versprach, auf den Gedenktag der Heiligen Margareta mit Gehring aus dem väterlichen Haus auszuziehen und einen eigenen Hausstand zu gründen.

Interessant ist, dass der Gedenktag für eine Heilige auch fast anderthalb Jahrhunderte nach der Reformation noch ganz selbstverständlich im alltäglichen Sprachgebrauch erscheint. Es dürfte sich daher um die Märtyrerin Margareta von Antiochia (gest. 305) handeln, deren Gedenktag Mitte Juli den Beginn der Ernte markierte, im bäuerlichen Jahreslauf einer auf Flurzwang und Dreifelderwirtschaft eingerichteten Landwirtschaft ein Datum von entscheidender Bedeutung.

Neues Glück in der Fremde?

Diese Zukunftsaussichten scheinen Hans Ulrich Hartmann aber derart widerstrebt zu haben, dass er die günstige Gelegenheit ergriff und sich als Söldner in Diensten der Stadt Strassburg anwerben liess. Die Stadtherren hatten nämlich von den befreundeten Stadtstaaten Zürich und Bern Truppen angefordert, um sich gegen einen möglichen Angriff zu wappnen. Diese wurden auch bewilligt und so gelang es Hartmann durch den Soldvertrag der Zwangsehe zu entfliehen. Wie es ihm dort ergangen ist und was sein Vater (und seine Ehefrau!) dazu gesagt haben, das wird hier nicht weiter nachverfolgt.

Das Verhältnis von Strassburg zu den Eidgenossen

Die Reichsstadt Strassburg hatte sich mit den eidgenössischen Orten in mehreren Bündnissen abgesichert und bekam, wenn nötig, Schweizer Militärhilfe in Form von Truppenkontingenten. Nach der Reformation, die in Strassburg Erfolg hatte, kühlten sich die Beziehungen zu den katholischen Orten der Eidgenossenschaft ab. Die Stadt blieb jedoch ein enger Verbündeter der reformierten Orte, die immer wieder Söldner in den Dienst der Stadt stellten. Das lag in ihrem ureigenen Interesse, denn die wirtschaftlichen Beziehungen der Strassburger Kaufleute ins Gebiet der Eidgenossenschaft waren rege und lukrativ. N.B.: Die Urkunde des Bündnisses von 1588 zwischen Bern, Zürich und Strassburg kann man sich heute auf der Website des Zürcher Staatsarchivs ansehen (vgl. StAZH C I, Nr. 389).

Nach der 1681 erfolgten Eroberung der Stadt durch den französischen Sonnenkönig Ludwig XIV. wurde Strassburg zwar rekatholisiert und alle Reformierten verloren ihre öffentlichen Ämter. Trotzdem blieb das Elsass wirtschaftlich ein zum Heiligen Römischen Deutscher Nation gehörendes Gebiet, was sich bis 1789 an einer Zollgrenze manifestierte, die über die Vogesen verlief. Deshalb bewahrte das Gebiet auch seine deutsche Sprache und Kultur.

Quellen

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