Freitag, 6. September 2024

Weiacher Stationsbeamter entging kaltblütigem Verbrecher

Heute vor 80 Jahren wurde das 1876 erbaute Stationsgebäude Weiach-Kaiserstuhl von einem Einschleichdieb heimgesucht. Der minderjährige Täter, der aus der Anstalt Bellechasse entwichen war, hatte in einem unbewachten Moment das Büro geplündert.

Und so wurde er zwölf Tage später im Schweizerischen Polizeianzeiger zur Verhaftung ausgeschrieben:

Serienverbrecher, spezialisiert auf SBB-Büros

Einen simplen Einschleichdieb hätte man nicht mit gleich drei Bildern gesucht. Hier ging es mittlerweile um wesentlich Gravierenderes, wie man der Neuen Zürcher Zeitung, Nummer 1564 vom 16. September 1944 auf Seite 6 entnehmen kann:

«Da wir die Fahndung nach dem flüchtigen Mörder des Dr. Waldemar Ullmann in Mammern unterstützen möchten, bringen wir das Bild des Täters. Es handelt sich um Thalmann Emil. geb. 30. Oktober 1925 in Luzern, von Tannegg (TG), Sohn des Emil und der Therese, geb. Göllers, ledig. Hilfsarbeiter. Signalement: 172 cm, Statur schlank, Haare dunkelblond rötlich, Stirne gewölbt. Augen hellblau, Nase leicht wellenförmig, Zähne vorn vollständig, Gesicht länglich, trägt hellbeigefarbenen Mantel, ohne Hut. Thalmann hat am 14. September um 20 Uhr 20 in Mammern Dr. med. Waldemar Ullmann mit einer automatischen Pistole, Kal. 6,85 mm, durch mehrere Schüsse getötet. Der Täter ist am 30. August 1944 aus der Anstalt Belle-Chasse entwichen. Seither hat er auf den Bahnstationen Sihlbrugg, Reckingen und Weiach Einbruch- und Einschleichediebstähle verübt. Thalmann ist ein gemeingefährlicher Bursche. Das Publikum wird von der Polizei um Mithilfe bei der Fahndung nach diesem Verbrecher ersucht. Mitteilungen sind zu richten an das Polizeikomando [sic!] Zürich oder Thurgau oder an den nächsten Polizeiposten.»

Ist mit Reckingen die Ortschaft im Goms gemeint? Die hat nämlich auch eine Bahnstation. Wahrscheinlicher ist, dass sich der Redaktor verschrieben und die Schreibweise der badischen Ortschaft sowie des Laufkraftwerks übernommen hat. Und so ist es auch, wie man dem Schweizerischen Polizeianzeiger entnehmen kann. 

Die Sortierkassette landete im Aborthäuschen

Der Text zu den erkennungsdienstlichen Lichtbildern des Polizeikommandos Schwyz, eingebracht durch die Kantonspolizei Zürich, lautet nämlich wie folgt (Absätze eingefügt durch WeiachBlog):

«14 363. Thalmann, Emil, des Johann Emil und der Theresia Göller, 30.10.25 Luzern, von Tannegg/TG, Handl., früher im Schloss Eugensberg, Salenstein, am 30.8.44 aus Strafanstalt Belle-Chasse entwichen (Art. 13 280, J. 1944), 172 cm, Sta. schlank, H. d'blond-rötl., Sti. gewölbt, zurückw., A. h'blau, N. leicht wellig, Z. vollst., Ges. längl, h'beigef. Mantel, kein Hut, 

Einschl.Diebst., beg. 6.9.44, 14.15-15.45 Uhr, im Stationsgebäude SBB in Weiach-Kaiserstuhl (während sich der Stationsbeamte im Güterschuppen befand), wobei entwendet wurden aus Billettkasse : Fr. 500-600 z. N. der SBB, samt rotem Blechschächtelchen, sowie 1 Schlüssel zum Billettschrank; eine mitentwendete Sortierkassette wurde nachher leer im nahen Aborthäuschen gefunden. 

Th. ist zweifellos auch Täter eines Einbr.Vers. in das Stationsbureau SBB in Sihlbrugg, beg. 4.9.44, 12.30-17.40 Uhr (Art. 14 377, J. 1944); ferner Einst.Diebst. in das Stationsbureau SBB in Rekingen/AG, beg. 6.9.44, 12.30-13 Uhr (durch zertrümmertes Fenster eingestiegen), wobei Bargeld, 2 Bureauschlüssel und 470 Güteranweiskarten abhanden kamen und die Telephonleitungen des Dienst- und eidg. Telephons durchschnitten wurden.

Th. wird auch vom Pol.Kdo. Frauenfeld gesucht wegen Mordes durch Erschiessen, beg. 14.9.44, 20.20 Uhr, in Mammern, an Waldemar Ullmann (Art. 14 362, J. 1944). (Schusswaffe.) Cliché 6313. Pol.Kdo. Zürich.»

Lebhafte Mitwirkung der Bevölkerung an der Fahndung

Diese Gewalttat erschütterte die Ostschweiz, insbesondere den Thurgau, wo man das Opfer kannte und schätzte. Entsprechend beteiligte sich die Öffentlichkeit an der Suche nach dem gemeingefährlichen Gewaltverbrecher. In der Ausschreibung stand nicht von ungefähr der Hinweis Schusswaffe. Für die Polizisten bestand Lebensgefahr, denn Thalmann machte rücksichtslos von der Waffe Gebrauch. Gross war die Erleichterung als der Gesuchte nach sechs Tagen (und einem weiteren Mord an einem Polizisten) endlich verhaftet werden konnte.

Ausführliche Prozessberichterstattung

Als dem Verbrecher rund 13 Monate später der Prozess gemacht wurde, da war das Interesse der Öffentlichkeit gross. Und die Neue Zürcher Zeitung berichtete entsprechend ausführlich (Titel: Der Mordprozeß Thalmann. In: NZZ, Sonntagausgabe, Nummer 1617, 28. Oktober 1945, S. 6):

«Strömender Regen hinderte die Bevölkerung nicht, sich in den Mittagsstunden des Freitags vor dem Rathaus in Weinfelden einzufinden, wo die Kriminalkammer des Obergerichts unter dem Vorsitz von Obergerichtspräsident Dr. Plattner zur Verhandlung über den Doppelmörder Emil Thalmann zusammentrat.

Der Täter 

Emil Thalmann, geboren am 30. Oktober 1925 in Luzern, Bürger von Tannegg (Thurgau), ist nach Charakter trotz seiner Jugend der Typ des gemeingefährlichen, rücksichtslosen und gefühlskalten Schwerverbrechers. Seine äußere Erscheinung entspricht diesem Bild allerdings nicht. Er ist ziemlich groß und kräftig, seine regelmäßigen, eher weichen Gesichtszüge sind unauffällig. Trotzdem war die unter den Kleidern verborgene Fesselung und die ständige Bewachung durch einen Polizisten keine überflüssige Sicherheitsmaßnahme; denn Thalmann ist nicht nur ein zu allem entschlossener Verbrecher, sondern auch ein raffinierter Ausbrecher, der bisher noch aus jeder Anstalt entweichen konnte. Teilnahmslos folgte er den Verhandlungen, und selbst bei der Schilderung seiner Mordtaten zeigte er nicht die geringste Gefühlsbewegung. 

Unverkennbar kam die Persönlichkeit des Angeklagten zum Durchbruch, als ihm Gelegenheit zu einem Schlußwort gegeben wurde. Zuerst polemisierte er gegen den amtlichen Verteidiger, der ihm aufgezwungen worden sei, dann gegen den Gerichtspräsidenten, dem er schon bei einer früheren Gelegenheit gegenüberstand; und so machte er sich zum Ankläger gegen alle, die sich im Laufe der Jahre schon mit ihm zu beschäftigen hatten. Den Jugendanwalt in Luzern, der unermüdlich das Beste für Thalmann wollte, nannte er einen „Feigling, der ihn in die „schlechteste Anstalt nach Ober-Uzwil gesteckt habe. Auch über die Behandlung in der Irrenanstalt St. Urban beklagt er sich. Dr. Ullmann, der Leiter der Kuranstalt Mammern, bei dem sein Vater Arbeit gefunden hatte und der sich dafür einsetzte, daß Thalmann ins Elternhaus zurückkehren konnte, wird von ihm als „Wucherer“ bezeichnet, der die Familie auseinander gerissen habe und· in Schulden und damit ihn zu neuen Diebstählen getrieben habe. Thalmann übergeht seine zahlreichen in diese Zeit fallenden Einbrüche in Stationsgebäude, bei denen er teilweise Beamte mit der Schußwaffe bedrohte, und die Schüsse, durch die er bei einer solchen Gelegenheit am 22. April 1943 in Sisikon einen Bahnbeamten schwer verletzte [daher die Bilder der Kapo SZ! – Anm. WeiachBlog], er verweilt dafür umso ausführlicher bei der Behandlung im „Narrenhaus“ Münsterlingen (er war dort zu erneuter Begutachtung eingewiesen). Trotz seiner Gefährlichkeit ordnete die Kriminalkammer im Dezember 1943 seine Einweisung in eine geschlossene Erziehungsanstalt an. In der ganzen Schweiz war Bellechasse die einzige Anstalt, die sich nach monatelangen Verhandlungen bereit erklärte, Thalmann aufzunehmen. Man ist nicht erstaunt, daß er sich in endlosen Ausführungen über die schlechte Verpflegung äußert. Eine ernste Mahnung des Präsidenten, nun endlich zur Sache zu sprechen, bleibt erfolglos. Nachdem auch die zweite Mahnung nichts nützt, wird Thalmann abgeführt.

Anklagebegründung 

Staatsanwalt Dr. Gsell hob einleitend die für einen Minderjährigen außerordentliche Gefährlichkeit des Angeklagten hervor und betonte, daß die Bevölkerung dauernd vor einem solchen Menschen geschützt werden muß, auch wenn er nach dem Gesetz höchstens zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt werden kann. Es ist traurig, daß man bei einem so jungen Menschen, der eigentlich erst am Anfang seines Lebens steht, jede Hoffnung auf Besserung aufgeben und nur noch an die Sicherung denken muß. Eine gewisse Erklärung dieser Erscheinung kann in den Jugend- und Familieneinflüssen des Angeklagten erblickt werden, in der Hauptsache muß sie aber in ihm selbst gesucht werden. Als sein Vater von Dr. Ullmann als Gärtner in den Dienst der „Stiftung Eugensberg“ genommen wurde, fand auch der Angeklagte dort Beschäftigung, nachdem er wegen seiner als Jugendlicher begangenen Verfehlungen in verschiedenen Anstalten untergebracht worden war, immer versagt und immer wieder durchgebrannt war. Und als er wegen der neuen Delikte nach Bellechasse eingewiesen wurde, verstand er es, durch scheinbares Wohlverhalten eine Fluchtgelegenheit zu schaffen. Am 30. August 1944 entfloh Thalmann und am gleichen Tag beging er den ersten einer Reihe von Velodiebstählen. Auf gestohlenen Rädern schlug er sich durch die halbe Schweiz, unterwegs beging er Einbrüche in Stationsgebäuden und Diebstähle in Bauernhäusern. Am 6. September fielen ihm im Bahnhof Weiach bei einem Einbruch fast tausend Franken in die Hände [Die Differenz zur Ausschreibung im Polizeianzeiger ist bemerkenswert – Anm. WeiachBlog]. In einer Waffenhandlung in Olten kaufte er eine Pistole und zwölf Patronen. 

Am Abend des 14. September nach 20 Uhr erschlich er sich unter dem falschen Namen „Schenk“ den Zutritt zu Dr. Ullmann. Im Sprechzimmer überreichte er ihm einen Brief, in dem er auf erpresserische Weise eine angebliche Lohnforderung von 3700 Franken geltend machte. Der mit seinem richtigen Namen unterzeichnete Brief schloß mit den Worten „meinen Lohn oder Ihr Blut!“. Während Dr. Waldemar Ullmann diesen Brief las und dabei die wahre Person des späten Besuchers erkannte, verriegelte Thalmann die Zimmertüre und machte seine Pistole schußbereit. Es scheint dann zu einem Handgemenge gekommen zu sein, in dessen Verlauf Thalmann aus nächster Nähe fünf Schüsse gegen sein Opfer feuerte, die sofort tödlich wirkten. Er konnte unbemerkt entfliehen, doch bestand nach dem aufgefundenen Drohbrief kein Zweifel über die Täterschaft. 

Bei einem Einbruch in einem Bauernhof bei Mammern fiel Thalmann am 16. September neben einem Fahrrad und Kleidern auch das Stilett in die Hände, das er bei der Verhaftung unter dem Kopfkissen verborgen hatte. Unterdessen war die Fahndung unter lebhafter Mitwirkung der Bevölkerung auf breiter Basis aufgenommen worden. Starke Polizeikräfte verschiedener Kantone verfolgten jede mögliche Spur und überwachten den Verkehr. Im Rahmen dieser Aktion standen am Vormittag des 18. September Korporal Johann Altorfer und ein Begleiter von der Kantonspolizei Zürich auf der Frauenfelderstraße zwischen Attikon und Wiesendangen Wache. In einem Radfahrer glaubten sie Thalmann zu erkennen, und unverzüglich nahmen sie seine Verfolgung auf. Thalmann benützte seinen Vorsprung, um unbemerkt seine Waffe schußbereit zu machen. Sobald Korporal Altorfer ihn erreichte, tötete er ihn durch einen Kopfschuß. Thalmann konnte fliehen. Sobald er merkte, daß ihm der Polizist zu folgen versuchte, schoß er auf ihn. Der erste Schuß verfehlte das Ziel, der zweite prallte am Brillenfutteral des Polizisten ab, ohne eine Verletzung zu verursachen. 

Bei einem weitern Einbruch in der Nähe von Winterthur stahl Thalmann neben andern Gegenständen einen Militärkarabiner und Munition, denn für seine Pistole hatte er nur noch eine Patrone. Die am Abend des 20. September in einem Gasthof in Felben bei Frauenfeld erfolgte Verhaftung Thalmanns wurde von der Bevölkerung der ganzen Gegend zwischen Zürich- und Bodensee als Befreiung empfunden, denn es war jedermann klar, daß dieser Verbrecher jeden Widerstand mit Gewalt zu brechen gewillt war. 

Der Staatsanwalt schilderte das bewegte Leben des Angeklagten, dessen außerordentliche Gefährlichkeit schon früh erkannt wurde. Schon im Jahre 1943 hatte der Psychiater in Münsterlingen Thalmann eines Mordes für fähig erklärt. Tatsächlich hat er nach seinem eigenen Zugeständnis den Mordplan gegen Dr. Ullmann schon in Bellechasse erwogen. Vorbereitung und Ausführung zeigen, wie planmäßig und überlegt er vorging. Einen berechtigten Grund zu Haßgefühlen gegen Dr. Ullmann konnte er nicht haben. Der Getötete war ein allgemein beliebter, gütiger Mensch, der in andern Leuten immer nur das Gute und Anständige sehen wollte; diesem Idealismus ist er schließlich zum Opfer gefallen. 

Auch bei der Abgabe der Schüsse auf die Polizisten war Thalmann zum voraus entschlossen, nicht vor der Vernichtung von Menschenleben zurückzuschrecken, um sich die Fortsetzung der Flucht zu ermöglichen. In Einklang mit der ganzen Persönlichkeit des Angeklagten offenbaren diese Taten „seine besonders verwerfliche Gesinnung und seine Gefährlichkeit“; es handelt sich daher um wiederholten Mord und Mordversuch (Art. 112 StGB). Die dreizehn Diebstähle (mit einem Deliktsbetrag von annähernd 5000 Franken) und ein gleichartiger Diebstahlsversuch sind in doppelter Hinsicht qualifiziert, weil sie gewerbsmäßig begangen wurden und weil sie ebenfalls die besondere Gefährlichkeit des Täters offenbaren (Art. 137, Zif. 2 StGB). Bei der wiederholten Verletzung militärischer Geheimnisse (Art. 106 MStGB), begangen durch Photographieren eines im Reduit gelegenen Militärflugplatzes und militärischer Objekte an der Grenze, konnten die Motive nicht eindeutig abgeklärt werden. 

Thalmann ist bisher dreimal psychiatrisch begutachtet worden. Eine Geisteskrankheit konnte nicht festgestellt werden, wenn auch die Möglichkeit eines spätern Ausbruches von Schizophrenie nicht ausgeschlossen ist. Er ist hochgradig verschlossen, trotzig, bindungsunfähig, ein asozialer Psychopath. Nach den Gutachten muß Thalmann zweifellos als vermindert zurechnungsfähig gelten. Zugleich wird aber seine dauernde Gemeingefährlichkeit hervorgehoben. Als Minderjähriger kann Thalmann aber nicht lebenslänglich, sondern höchstens auf die Dauer von zwanzig Jahren ins Zuchthaus geschickt werden (Art. 100 StGB). Diese Bestimmung ist für den Richter zwingend, wenn sie auch in einem solchen Fall unbefriedigend ist. Die Verminderung der Zurechnungsfähigkeit zwingt den Richter zudem zu einer weitern Reduktion der Strafe. Der Antrag des Staatsanwaltes lautet auf neunzehn Jahre Zuchthaus. Aber gegenüber einem so gefährlichen Schwerverbrecher muß ein dauernder Schutz gesucht und gefunden werden. Deshalb ist im Sinne von Art. 14 StGB seine dauernde Verwahrung anzuordnen. 

Rechtsanwalt Dr. Meyer (Arbon) ist die undankbare Aufgabe der amtlichen Verteidigung des Angeklagten übertragen worden. Unter höhnischem Lächeln Thalmanns führt er aus, daß sich aus dem Inhalt der Gutachten im Gegensatz zu deren Schlußfolgerungen die vollständige Unzurechnungsfähigkeit des Angeklagten ergebe, weshalb von einer Bestrafung Umgang zu nehmen sei, was allerdings nicht ausschließen könne, daß Thalmann wegen seiner unbestreitbaren Gemeingefährlichkeit in eine Heil- oder Pflegeanstalt eingewiesen werden müsse. Falls jedoch das Gericht nur eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit annehmen sollte, so müsse der Anschlag auf Dr. Ullmann als Totschlag betrachtet werden, denn der Angeklagte habe in erster Linie Geld erhalten wollen und erst im Verlauf des Handgemenges geschossen und sich daher in einer heftigen und entschuldbaren Gemütsbewegung befunden. Bei den Schüssen auf die Polizisten handle es sich um einfache vorsätzliche Tötung (Art. 111 StGB), oder um Totschlag (bzw. Versuch hierzu), denn die Qualifikationsgründe des Mordtatbestandes seien nicht gegeben.

Das Urteil

Nach einer geheimen Beratung von weniger als einer Stunde Dauer eröffnete Obergerichtspräsident Dr. Plattner das Urteil (das Dispositiv, das mit den Anträgen des Staatsanwaltes übereinstimmt, wurde in Nr. 1612 der „N.Z.Z. veröffentlicht). 

Der kurzen Urteilsbegründung ist zu entnehmen, daß das Gericht in den Ausführungen der Verteidigung keinen Widerruf des Geständnisses erblickt und der Ansicht ist, es entspreche den Tatsachen und sei von der Anklage rechtlich richtig gewürdigt worden. Insbesondere mit Bezug auf die Delikte gegen Leib und Leben ist der Tatbestand des Mordes (bzw. Mordversuches) erfüllt, denn in allen diesen Fällen tritt die besondere Gefährlichkeit des Täters deutlich in Erscheinung. Die Art, wie sich Thalmann zur Nachtzeit unter falschem Namen bei Dr. Ullmann einschlich, die Türe abschloß und die Waffe bereit machte, die Art, wie er sofort die Pistole gegen die Polizisten zog, der Diebstahl eines Karabiners mit Munition, als die eigenen Patronen auszugehen begannen, und schließlich die Bereithaltung der drei Waffen im Gasthof in Felben zeigen deutlich, daß bei Thalmann die Tötung absichtlich gegenüber jedermann vorhanden war, der ihn an seiner Flucht hindern wollte; darin liegt seine Gefährlichkeit. 

Bei den militärischen Delikten hätte wohl auch Anklage wegen Landesverrats erhoben werden können. Thalmann hat zeitweise erklärt, er habe Beziehungen zu Agenten des deutschen Nachrichtendienstes aufgenommen gehabt; später machte er geltend, er habe die verbotenen Aufnahmen nur gemacht, um sich nach seiner beabsichtigten Flucht nach Deutschland gegen eine Auslieferung an die Schweiz zu sichern. 

Bei der Strafzumessung mußte das Gericht die Minderjährigkeit und die Verminderung der Zurechnungsfähigkeit berücksichtigen. Diesen Strafmilderungsgründen stehen aber die Häufung schwerer Verbrechen und die Gesinnung und außerordentliche Gefährlichkeit des Täters gegenüber, der keinerlei Reue und Einsicht zeigt. Unbegründet sind vor allem seine Vorwürfe gegen Dr. Ullmann. Die niedrige Entlöhnung hat Thalmann sich selbst und seinen unbefriedigenden Leistungen zuzuschreiben; seine Arbeit hat noch an keinem Ort befriedigt. Das Gericht glaubt, daß in Abwägung der Milderungs- und Schärfungsgründe nur eine geringe Reduktion der Maximalstrafe gerechtfertigt ist und hält die beantragte Strafe von neunzehn Jahren Zuchthaus und zehn Jahren Ehrverlust für angemessen. In Uebereinstimmung mit dem Gutachten muß aber wegen der außerordentlichen Gefährlichkeit des Angeklagten die Strafe allein als ungenügend angesehen werden. Für solche Fälle sieht das Strafgesetz Maßnahmen vor. Gegenüber Thalmann kommt nur die Verwahrung im Sinne von Art. 14 StGB in Betracht. Der Vollzug der Strafe ist daher vorläufig einzustellen. In einem spätern Zeitpunkt wird zu entscheiden sein, ob nach der Verwahrung die Strafe noch zu vollziehen ist.»

Ungewöhnliche Verworfenheit. Ein geborener Verbrecher?

Dieser Fall – wenige Jahre nach der definitiven Abschaffung der Todesstrafe durch die Einführung des Schweizerischen Strafgesetzbuches – hat selbst einem erfahrenen Gerichtsberichterstatter zu denken gegeben. Der Prozessbericht schliesst jedenfalls mit einem Kommentar der besonderen Art:

«Wer täglich großen und kleinen Verbrechern ins Gesicht blickt und sich bemüht, dabei etwas tiefer in ihre Seele zu sehen, wird eigentlich in jedem Fall noch irgendwo einen guten Kern versteckt finden. Ein Besserungs- und Erziehungsstrafrecht will diesen Kern entwickeln und fördern und stützt darauf seine Hoffnung auf eine Resozialisierung. Im Laufe der Jahre sieht man so Hunderte von Verbrechern kommen und gehen, aber es können Jahre vergehen, bis man darunter einem Menschen begegnet, bei dem jedes Suchen nach dem guten Kern vergeblich ist, wie bei Emil Thalmann. Trotz seiner Jugend ist bei ihm nicht das geringste Zeichen menschlichen Fühlens festzustellen, keine Spur von Reue und kein Bedauern mit den wertvollen Menschen, die ihm zum Opfer fielen. Es gehört eine ungewöhnliche Verworfenheit und ein erschreckendes Maß selbstsüchtiger Gefühlskälte dazu, daß ein Minderjähriger, der gefesselt und bewacht als doppelter Mörder vor dem Richter steht, sich über das Essen in einer Anstalt beklagt, in der er sich durch scheinheiliges Wohlverhalten planmäßig die Möglichkeit zur Flucht verschaffte, um die wiedergewonnene Freiheit sofort planmäßig zur Verübung neuer, schwerster Verbrechen zu benützen.

Man spricht heute nicht mehr leichthin von einem „geborenen Verbrecher“. Besonders wenn es sich um einen so jungen Menschen handelt, sträubt sich das Gefühl dagegen, endgültig den Stab über ihn zu brechen. Aber als Emil Thalmann am späten Abend von einem Polizisten gefesselt zur Bahn geführt wurde, um in die Strafanstalt gebracht zu werden, ließen sein zusammengekniffener Mund und die finsteren Blicke ahnen, daß er nicht an Reue und Sühne, sondern an Flucht und Rache dachte.»

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