Mittwoch, 3. August 2022

Strübis Rächnigsbüechli

«Nach Strübis Rächnigsbüechli». So hört man es – zuweilen verschrieben als «Stübis Rächnigsbüechli» – von Personen mit Wurzeln im bernischen Macht- und Einflussbereich. Die volkstümliche geflügelte Redewendung bedeutet dasselbe, wie wenn ein Deutscher sagt, er rechne «nach Adam Ries(e)». Damit erhebt man Anspruch auf die Richtigkeit eines Rechnungsergebnisses.

Was steckt dahinter? Eine reale Person? Und wie sieht dieses ominöse Rächnigsbüechli aus, von dem da immer wieder die Rede ist?

Lang ist's her...

Ja, Strübi hat wirklich gelebt. Im 16. Jahrhundert. Also in einer Zeit des grossen Umbruchs. Die Folgen der Entdeckung und Kolonisation der neuen Welt westlich des Atlantik, die Umwälzungen im wirtschaftlichen Bereich durch den überhand nehmenden Finanzkapitalismus, Reformbewegungen im religiösen Bereich und vieles mehr erschütterte das damalige Europa in seinen Grundfesten. 

Am 1. August war in WeiachBlog Nr. 1848 die Rede vom schönen Schweizer Stier. In just diesen Jahren als besagtes patriotische Flugblatt gedruckt wurde, da erschien 1588 in Zürich bei Froschauer auch ein 260-seitiges Werk unter dem Titel «Arithmetica. Ein neüw kunstlich Rechenbüchlin mit der Zipher», verfasst durch einen Heinrich Strübi, Rechenmeister (wie er sich in der Vorrede selber bezeichnete):

Wie damals üblich war der Titel auch eine Werbebotschaft und erfüllte den Zweck den heutzutage Klappentexte und dergleichen erfüllen: «Arithmetica. Ein neüw kunstlich Rechenbüchlin mit der Zipher, in wellichem die Anfeng unnd Gründ dess Rechnens in gantzen und gebrochnen so klar unnd verstendtlich begriffen und an Tag geben werden, dergleich vor nie in Truck kommen, dass auch ein yeder so zimlichs verstands, das Rechnen von sich selbst daruss wol ergreiffen mag / mit Fleiss zuosammen getragen durch Heinrich Strübi, der neüwen Teütschen Schuol zuo Zürych Ordinarium Schuol und Rechenmeister».

Wer nicht ganz auf den Kopf gefallen sei, der könne sich mit diesem Werk autodidaktisch das Rechnen beibringen, so das Verkaufsargument von Verleger und Autor.

Mathematik-Lehrbuch für Autodidakten. Deutsch und deutlich.

Erschienen ist das Werk im Oktavformat. Und im Jahre 1599 wurde ein Nachdruck herausgegeben (Graf 1889, S. II 12). Das Besondere war, wie bei Adam Ries (1492/93-1559), der seine Büchlein zum Rechnen auf dem Rechenbrett 1518 («Rechnung auff der linihen») und 1522 veröffentlicht hatte, dass sie in deutscher Sprache verfasst sind.

Mit diesen Werken konnte auch jemand, der nicht eine Lateinschule besucht hatte, also kein Gelehrter war, auf einfache Weise kaufmännisches Rechnen lernen. Rieses Werk von 1518 wurde in der zweiten Auflage ausdrücklich als für Kinder geeignet bezeichnet. Und sein bekanntestes Werk von 1522 erfuhr über die Zeit hinweg mindestens 120 Auflagen (Raubkopien sind da noch nicht eingerechnet).

Dass diese Fähigkeit bei ständig zunehmender Bedeutung des Geldwesens von ganz besonderer Bedeutung ist, bedarf keiner Erläuterung. Diese Rechenlehrwerke waren sozusagen finanzielle Selbstverteidigung. Und wie gesagt: Dazu musste man nur Deutsch lesen können. Die Bibel wurde von Luther und Zwingli in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in ebendiese Volkssprache übersetzt und war dank Buchdruck für breitere Kreise erschwinglich, namentlich für das Bürgertum der Städte. Wer die Bibel lesen konnte, der konnte jetzt auch rechnen lernen. 

Wie Strübis Werk eingebernert wurde

Aus protestantischer Sicht war Rieses einziger Mangel, dass er aus dem katholischen gebliebenen Fürstbistum Bamberg stammte. Da kam in Zürich natürlich ein Werk wie das von Strübi wie gerufen.

Heinrich Strübi war Lehrer an der Teütschen Schuol zuo Zürych, derjenigen Lehrinstitution, in der man sich abseits akademischer Gelehrsamkeit praktische Kompetenzen aneignen konnte. Und gemäss Leu's Lexicon (Bd. XVII, S. 689) aus dem Jahre 1762 stammt er auch aus einer Zürcher Familie:

«Ein ausgestorbenes Geschlecht der Stadt Zürich, aus welchen einige Pfarr-Dienst bekommen, und Heinrich A. 1588. Arithmeticam oder Rechenbuch in Druck gegeben, welches An. 1685 in 8vo zu Bern wieder gedruckt worden.»

Hier haben wir einen Hinweis darauf, warum Strübi in bernischen Landen noch heute ein Begriff ist, sich hingegen in Zürich ausser ein paar Fachspezialisten kein Mensch an ihn erinnert.

In Bern hatte man Strübis Rechenlehrbuch bereits 1619 nachgedruckt. Und 1685 eine erweiterte Fassung auf den Markt gebracht, wie Graf 1889 festhielt:

«Heinrich Strübi, deutscher Schul- und Rechenmeister in Zürich, hat für die Schweiz dieselbe Bedeutung wie Adam Riese für Deutschland und starb am 12. XII 1594, indem er «ab einem pferdtstall» fiel. Sein Büchlein wurde 1619 bei Abraham Weerli in Bern neu aufgelegt und erlebte sogar noch 1685 in Bern eine neue Auflage.»

«Arithmetica; das ist, Ein Rechenbuch mit der Ziffer: Darinn die Anfäng und Gründ der Rechenkunst, im gantzen und gebrochnen aufs klarlichste dargethan sind / Durch H. Heinrich Struebi, Bey leben Ordinari-Schul- und Rechen-Meister in Zürich. Aufs neue übersehen, und an vielen Orten verbessert. Sampt einer kurtzen Anweisung, wie underschiedliche Müntz-Sorten der benachbarten Orten, in Schweitzer- oder Bärner-Währung, und diese in obangezogene geschwind können umgesetzt werden. Getruckt zu BERN, In Hoch-Oberkeitlicher Truckerey, durch Andreas Hügenet. 1685»

Für die durch die Staatsdruckerei (!) produzierte Ausgabe von 1685 (Universitätsbibliothek Bern, MUE Rar alt 9976; Nationalbibliothek L Nat 1543) wurde das Vorwort Strübis stark gekürzt und dafür im Anhang mit Umrechnungs-Anweisungen versehen, die für einen Berner von Belang waren:

«Kurtzer Bericht von underschiedlichen Müntz-Sorten, wie solche in benachbarten Orten geführt, und gegen Schweitzer- oder Bärn-Währung geschwind und leicht können umgesetzt werden. Folget ein Bericht, in was Valor allerhand aussländische Müntzen in hiesiger Statt Bärn und andern benachbarten Orten seyen.»

Vom abrupten Ableben des Heinrich Strübi

Oben ist bereits Graf 1889 zitiert mit dem Hinweis, Strübi sei am 12. Dezember 1594 gestorben, weil er vom Dach eines Pferdestalls hinuntergefallen sei. Ältere Sekundärliteratur (Originalquellen über Strübi sind rar) hingegen sieht die Todesursache völlig anders. So schreibt Johann Rudolf Wolf in seinen Biographien zur Kulturgeschichte der Schweiz:, zu Strübi müsse nachgetragen werden, «daß er nach Meiß "ab einem pferdtfal" 1594 XII. 12 starb, und daß von seiner Arithmetik noch 1685 zu Bern eine neue Auflage veranstaltet wurde.» (Wolf 1862, S. 63, Fn-20). Nach Meiss ist Strübi also vom Pferd gefallen und an den direkten oder mittelbaren Folgen dieses Sturzes gestorben.

«Ab einem pferdtfal» (1862) vs. «ab einem pferdtstall fiel» (1889). Da hat sich Graf wohl verlesen, was vorkommen kann, den f und s sehen sich in Frakturschrift sehr ähnlich. Nicht die einzige Ungenauigkeit bei Graf, denn seine Formulierung «Heinrich Strübi, deutscher Schul- und Rechenmeister in Zürich» lässt für sich stehend die Interpretation zu, dass er aus Deutschland war. Gemeint sein sollte aber, dass er Lehrer an der teutschen Schule in Zürich war (einer Art Realschule), dies im Gegensatz zur Latein-Schule, dem Carolinum (einer Art Gymnasium). 

Auch aus einem späteren Werk von Wolf über Astronomie von 1890/91 geht deutlich hervor, dass Strübi in Zürich geboren und ebenda gestorben ist. Strübi war also Schweizer. Adam Ries (1492/93-1559) stammte aus dem Fürstbistum Bamberg (heute zu Bayern), war also eindeutig Deutscher. Auch schon nach damaliger Auffassung, denn die faktische Abspaltung der Eidgenossenschaft vom Reich hatte sich nach dem Schwabenkrieg 1499 vollzogen:

«Aus dem 16. Jahrhundert sind als Rechenmeister "par excellence" Adam Riese (Staffelstein zu Bamberg 1492 - Annaberg 1559; Lehrer der Arithmetik und Besitzer eines Vorwerks zu Annaberg) und Heinrich Strübi (Zürich 1540? - ebenda 1594; Lehrer in Zürich), sowie ihrer Rechenbücher "Rechenung nach der Lenge auf der Linihen und Feder. St. Annenberg 1550 in 4., - und: Arithmetica oder new-künstliches Rechenbüchlein mit der Ziffer. Zürich 1588 in 8." zu erwähnen.»

Hier ist also sogar noch eine (mit Fragezeichen versehene) Geburtsjahrangabe verfügbar. Dazu könnte ein Eintrag vom 18. Juli 1580 im Tauf- und Ehenbuch des Grossmünsters (StArZH VIII.C.1) passen: «Strübi, Heinrich, getraut mit Stimmer, Susanna» (StAZH TAI 1.735 (Teil 2); StadtAZH VIII.C. 1., EDB 1458).

Nachfolger gibt einen Strübi-Appendix heraus

«Nach Heinrichen Strübis sel., des eltern tütschen Schulmeisters, tödtlichen Abgang.» (Idiotikon 11, 1943) gelangte Philipp Geiger auf Strübis Stelle und nutzte gezielt auch den guten Ruf seines Lehrers und Vorgängers:

«Philipp Geigger = Gyger von Zürich (15691623) gab 1609 zu Zürich einen «newen und kunstreychen Rechentisch» heraus, IIte Ausgabe 1617 in Basel unter dem Titel «abaci Pythagoraei adornatio» ; ferner liess er erscheinen : «Appendix Arithmeticae Strubianae», ein Anhang zu Heinrich Strübi's Arithmetica ; ferner erschien: «Arithmetica compendiosissima» I. Theil Basel 1617 und 1622 in 4°, der II. Theil erschien nie; ferner für nicht so weit Vorgerückte: «eine arithmetische Stufenleiter» Zürich bei Georg Hornberger 1622 4°, ferner für das Haushaltungsrechnen : «Zwei künstliche aussgerechnete Rechenbüchlein» Zürich 1618, 2 Bde. in 8° und endlich «Newe arithmet. Kriegsordung [sic!] Basel 1617.»  (Graf 1889, II 12)

Mehr Geld für Import von Perücken als von fremden Büchern

Wo der Zürcher Heinrich Strübi bei den Bernern noch in Ehren gehalten wird, da ist er bei uns – wie erwähnt – längst vergessen. Entgegen den Ermahnungen Strübis in seiner Vorrede hat man auf der Zürcher Landschaft seitens der Obrigkeit noch fast zwei Dutzend Jahrzehnte nicht wirklich dafür gesorgt, dass die Mathematik den Stellenwert erhielt, der ihr angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung auch für den unbedeutendsten Einwohner zukommt. 

Wie wäre es sonst zu erklären, dass der Weiacher Pfarrer noch bei der Zürcher Schulumfrage 1771/72 achselzuckend den Kommentar abgibt, im Rechnen werde in der Weiacher Schule nichts unternommen und das damit begründet, der (ihm unterstellte!) Schulmeister beherrsche diese «edle Kunst» nicht (vgl. WeiachBlog Nr. 1769). Nach dem Massstab der Werbetrommel Strübis auf dem Titelblatt von 1588 müsste man da ja annehmen, dass es diesem Lehrer an den geistigen Kapazitäten gemangelt hat.

Vielleicht war's so wie auf der katholischen Seite, wo der fürstbischöflich-konstanzische Obervogt Johann Franz Freiherr von Landsee 1778 in seinem Enchiridion Helveticum schrieb, Bücher würden bei den Landleuten eher Schaden als Nutzen stiften (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 15). Wo käme man da hin, wenn jeder Untertan rechnen könnte?

Oder es war ganz einfach so, dass man in der Führungsschicht eben auch für sich selbst andere Werte bevorzugt hat, wie man dem Protokoll der Bernerischen Naturforschenden Gesellschaft vom 21. März 1788 entnehmen kann (zit. n. Wolf 1858):

«Herr Manuel legte der Gesellschaft eine Ao. 1687 vom damaligen Commerzien-Rath verfertigte Verzeichniß und Anschlag der fremden alljährlich ins Land kommenden Waaren vor, darin die Importation der fremden Perruques auf Crn. 10000, und die Importation der fremden Bücher auf Crn. 9000 geschätzt wird, – woraus man schließen möchte, daß unsere lieben Ahn-Väter ihr Gehirn eher durch äußerliche Wärme als durch innerliche Mittel zur Reife zu bringen bedacht waren.»

Quellen und Literatur

  • Strübi, H.: Arithmetica. Ein neüw kunstlich Rechenbüchlin mit der Zipher. Zürich 1588 – VD 16 S 9749; Vischer C 1116. Bibliotheksnachweis: NB  A 17583 Res 
  • Wolf, J. R.: Biographien zur Kulturgeschichte der Schweiz, Band 1 [Erster Cyclus], Orell, Füßli & Comp., Zürich 1858 – S. 96. Band 4 [Vierter Cyclus], Orell, Füßli & Comp., Zürich 1862 – S. 63-64. [Links auf die Inhaltsverzeichnisse: Cyclus 1 ; Cyclus 2 ; Cyclus 3 ; Cyclus 4].
  • Graf, J. H.: Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften in bernischen Landen vom Wiederaufblühen der Wissenschaften bis in die neuere Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte der Mathematik u. der Naturwissenschaften in der Schweiz. Zweites Heft, S. 12 [Das XVII. Jahrhundert.]  Bern/Basel 1889. [URL nbdig-40897]
  • Wolf, [J.] R.: Handbuch der Astronomie, ihrer Geschichte und Literatur. Erster Halbband. [Kapitel III. Einige Vorkenntnisse aus der Arithmetik. 15. Einleitendes.] S. 54 – Zürich 1890/91.

Danksagung

Auf die richtige Spur gebracht zu den Hintergründen von Strübis Rechnungsbüchlein wurde WeiachBlog durch Andreas Berz vom Swissinfodesk der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern. Ihm verdanke ich insbesondere den Hinweis auf das Werk von Graf, das als nbdig-40897 auf e-helvetica.nb.admin.ch verfügbar ist.

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