Montag, 1. August 2022

Die Freiheit anderer verteidigen. Der «schöne Schweitzer Stier»

Patriotische Botschaften sind an einem 1. August wohlfeil. Zumal in Festansprachen von Politikern aller Couleur. Wichtige Probleme, die dabei angesprochen werden können, gibt es zuhauf. Massiver Bevölkerungszuwachs, geopolitische Umwälzungen, Klimakrise, drohender Blackout im nächsten Winter, der Ukrainekrieg, etc.

Auch schon vor bald viereinhalb Jahrhunderten, einer Zeit des explodierenden Grosskapitalismus und der Rivalität um die Vormacht in Europa wurden Aufrufe zum Zusammenstehen gegen Bedrohungen verfasst, gedruckt und in Flugblattform verbreitet. Das zeigt die Burgerbibliothek Bern mit einem Hinweis auf eine Trouvaille aus ihren Beständen. Die BBB schreibt dazu auf ihrer Facebook-Seite:

«Wahrscheinlich stammt dieses Flugblatt aus den 1580er Jahren, als das Gedicht in verschiedenen Formaten verbreitet wurde. Diese Version haben wir aber nirgendwo sonst nachweisen können.

Die damalige Dreizehnörtige Eidgenossenschaft, der «schöne Schweitzer Stier», wird darin zur Einigkeit aufgerufen, zu Widerstand gegen Tyrannen und zur Verteidigung der Freiheit anderer – im eigenen Interesse.»


Die von Wappenfiguren gehaltenen Schilde der 13-örtigen Eidgenossenschaft umrahmen dabei den Text. Sie stehen für die Stände: 

1 Zurich, 2 Bern, 3 Lucern, 4 Ury, 5 Schwytz, 6 Underwalden, 7 Zug, 8 Glaris, 9 Basel, 10 Fryburg, 11 Solothurn, 12 Schaffhusen, 13 Appenzell. 

Schildhalter der Basler ist ein Basilisk, der Unterwaldner dürfte Niklaus von Flüe sein.

Zentral ist aber vor allem der Text, den WeiachBlog hier zum Nationalfeiertag 2022 im vollen Wortlaut wiedergibt (und soweit möglich kommentiert):

Der Schweitzer Stier.

«Es tregt der schöne Schweitzer Stier
Dreyzehen ort, seins Kranztes zier,
Inn hörnern eingeflochten;

Lößst auff den Krantz, brichst ab die horn,
Allgmach wirt die Freyheit verlorn,
Drum wir lang hand gefochten.

GOtt hat der Eydgnoschafft inn gemeyn,
Natürlich Muren geben,
Die Alpen, den Roddan, den Rein,
Dorff, Schlösser, Stett darneben:

Inn Grentzen sie zwo forstett hat,
zwey hörnern ichs vergleiche,
Gegen Teutschland Costanz die Statt,
Genff gegen Franckenreiche:

Die erst im Teütschen krieg durch list
Der Spanniern war abtrungen,
Doch durch den Teütschentreuwe, ist
Jnen nicht weitters glungen:

Kompt aber Genff inn frömbde hand,
Wirt dieser Schlüssel gnommen,
Werden so bald ins Schweitzer Land
Viel schwartzer geste kommen.

O küner Stier sich auff dein schantz,
Die Walen mit geferden
Buolen umb deiner freyheit Krantz:
Zum Pfarren wirst du werden.

Gemeint ist mit einem Farren od. Pfarren wohl ein Zuchtstier, vgl. Idiotikon I, 903. Die Walen sind Welsche (romanische Sprache Sprechende); in diesem Zusammenhang die Savoyer, vgl. unten.

Wo du dein stercke nicht erhebst,
Andrer freyheit z'erhalten,
Nicht denn Tyrannen widerstrebst,
Wie gthan hand deine Alten.

Daß feür ist angezündet schon
Inn der Nachbawren hause:
Löschst nicht bey zeit, wirt auff dich konn
Daß joch durch Krieges grause.

D'Religion hat dich bißhar
Mit gwalt nicht konnen spalten:
Hüt dich, daß nicht durch listig gfar
Dein Bündtnuß thue erkalten:

Gott wölle deinen walten.»

Politische Umwälzungen unter dem Einfluss der Reformation

Das Gedicht nimmt auf die machtpolitischen Umstände Bezug, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entwickelt haben. 

Den Konstanzer Bürgern gelang es zwar, am 6. August 1548 spanische Truppen (vom Habsburger-Kaiser Karl V. eingesetzt) vor dem nördlichen Rheintor erfolgreich abzuwehren. Nach der Belagerung durch die Österreicher einige Wochen später musste Konstanz aber am 13. September 1548 kapitulieren, fiel dadurch an Habsburg. Es verlor den Status als Freie Reichsstadt und wurde letztlich als vorderösterreichisches Bollwerk gegen die Expansion der Eidgenossen nach Norden genutzt. Konstanz war also für die Eidgenossen verloren.

Bei Genf sah das noch etwas anders aus. 1526 schloss Genf ein Bündnis mit Bern und Freiburg. Nach der Reformation 1536 lösten die Freiburger ihre Bündnisverpflichtung auf, worauf Genf mehrmals vergeblich versucht hat, als Zugewandter Ort in die Schweizerische Eidgenossenschaft aufgenommen zu werden. Die Berner wurden so etwas wie der Schutzpatron der Genfer.

Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass dieses Gedicht vom Schweizer Stier aus einer Berner (allenfalls einer Zürcher) Schreibstube stammt. Genf wird als Bollwerk gegen finstere Mächte verstanden. Wenn dort Feuer ausbricht, dann muss man im eigenen Interesse löschen helfen.

Jahrelanger Abwehrkampf gegen Savoyer-Herzog

Und wie kommt die Burgerbibliothek auf die 1580er-Jahre? Nun, der Regierungsantritt Karl Emmanuels von Savoyen im Jahr 1580 wendete das Blatt auf die kriegerische Seite. Der neue Machthaber war aus politischen wie aus religiösen Gründen fest entschlossen, Genf zurückzuerobern. 1582 schlug eine Belagerung fehl, und dieser Angriff verschaffte Genf 1584 einen neuen Verbündeten, nämlich das reformierte Zürich. Karl Emmanuel griff daraufhin zu einer Blockade.

Am 5. Oktober 1586 schlossen die sieben katholischen Stände Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern, Zug, Solothurn und Freiburg ein Separatbündnis, den sog. Goldenen Bund (benannt nach dem vergoldeten Anfangsbuchstaben der Vertragsurkunden; vgl. WeiachBlog Nr. 1465).

Aus dieser äusseren Bedrohung der Genfer und der inneren Bedrohung des Zusammenhalts in der Eidgenossenschaft heraus kann man dieses Gedicht verstehen.

Im Jahre 1589 eskalierte der Konflikt zu offenen Kriegshandlungen. Erst nach der berühmten Escalade von 1602, einer kläglich gescheiterten Geheimoperation zur handstreichartigen Eroberung der Stadt Genf durch savoyische Truppen, musste der savoyische Herrscher 1603 in einen Friedensvertrag einwilligen, welcher die Unabhängigkeit Genfs implizit anerkannte.

Andere Stierdarstellungen zeigen ihn lädiert

Der Stier auf dem Flugblatt in der BBB ist insofern anders als die anderen Darstellungen aus dieser Zeit, als er den Stier in voller Pracht und ohne jedes Zeichen der Lädiertheit zeigt.

Die Abbildungen aus 

sind nicht nur datiert (und zwar auf das Jahr 1584), sondern zeigen den Stier durchgehend mit einem im oberen Teil abgebrochenen rechten Horn, was wohl den Verlust von Konstanz symbolisieren soll.

Quelle und Literatur

  • Original der Burgerbibliothek Bern, Signatur: Mül var 4579
  • BBB (ed.): Archivtrouvaillen: Einzigartiger Stier? Facebook-Auftritt BBB, 6. Juli 2022.

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