Mittwoch, 23. September 2020

Dem Kindsvater wird das Betreten der Gemeinde verboten!

Die Nutzung der natürlichen Ressourcen der Gemeinde (insbesondere des Holzertrags) war einst eng mit dem Gemeindebürgerrecht bzw. der Niederlassungsbewilligung verknüpft. Damit sollte die Überforderung der limitierten Mittel verhindert werden. Als Kontrollorgane dienten auch im 19. Jahrhundert noch der Stillstand (d.h. die Kirchenpflege) und mit ihm verbunden die Behörden der Armengemeinde.

Das Institut der Ehe wurde zur Aufrechterhaltung sowohl der sittlichen Ordnung wie auch zur Populationskontrolle eingesetzt (erst 1874 mit der Revision der Bundesverfassung nicht mehr zulässig). Im Bewilligungsprozess vor der Heirat war eine Kontrolle des verfügbaren und auch nach der Niederkunft fliessenden Einkommens sowie Vermögens enthalten. Wer zu arm war, dem konnte (und musste) der Pfarrer die Einsegnung verweigern. Die Verhinderung von wildem Zusammenleben diente der proaktiven Verminderung des Risikos unehelicher Kindern, die mangels Ressourcen bei der Kindsmutter dann der Allgemeinheit zur Last fielen.

Verräterische Bauchwölbung bei Ledigen führt zu Vorladung

Auch im Jahre 1844 wachte der Stillstand mit Argusaugen über der Gemeinde. Verräterische  Bauchwölbungen bei unverheirateten Weibspersonen fielen da natürlich rasch auf. Und führten zu einer Vorladung ins Pfarramt, wo Pfr. Hans Conrad Hirzel die Frau dann über den Verursacher zu befragen hatte. So war das auch am 23. Juli 1844, wie Hirzel im Stillstandsprotokoll (pag. 61/62) vermerkt.

An der vierten Sitzung vom 13. August 1844 wurde der Fall vor dem Stillstand wie folgt abgehandelt:

«Ein zweytes Geschäft war der Matrimonialfall der Anna Rüedlinger, welche unterm 23ten July auf vorhergeganger Citation vor Pfarramt die Anzeige machte, daß sie sich mit Felix Hag von Dettnang Königr. Würtemberg verlobt habe, u. von demselben seit dem Januar dieses Jahres schwanger befinde, daß Hag sich gegenwärtig auf seiner Schreinerprofession in Glarus befinde, jedoch auf den ersten Ruf bereit sey, ihre Angaben zu bekräftigen. Das Pfarramt berichtet, es habe hierauf durch Androhung öffentlicher Ausschreibung des Vaters die Rüedlinger aufgefordert, demselben zu berichten, daß er sich vor hiesiger Kirchenbehörde zu stellen habe, worauf den wirklich Hag erschienen sey u. folgende Erklärung ad Protokoll gegeben habe, "Er bekenne sich als Verlobter der Anna Rüedlinger u. als Vater des Kindes mit welchem sie gegenwärtig schwanger gehe, u. sey Willens, alles was in seinen Kräften stehe zu thun, dieselbe ehlichen zu können, auch werde er für sein Kind von dessen Geburtsstunde an als Vater sorgen, was er alles mit seiner eigenhändigen Nahmensunterschrift bekräftigen wolle." -  Es habe Haag den ehrerb. Wunsch ausgesprochen, es möchte ihm die Gemeindsvorsteherschaft durch Ausstellung der nöthigen Zeugnisse für seine Verlobte zu seiner Heirath mit derselben behülflich seyn, u. damit zugleich das Versprechen gegeben, noch diesen Herbst nach Hause zu reisen, um seine Papiere für Niederlassung in der Schweiz nachzusuchen u. alsdann sich in der Gemeinde zu setzen, um desto sicherer zu seinem Zwecke zu kommen.

Herr Präsident Willi fügt hinzu, daß die Ausstellung der gemeindräthlichen für die R. unmöglich sey bevor der Verlobte in hier sich niedergelassen habe, und zu diesem Ende mit den nöthigen Papieren von Hause versehen sey.

Es wird beschlossen, die Sache noch für einstweilen beruhen zu lassen, u. die Rüedlinger aufzufordern, dem Pfarramt von Zeit zu Zeit über den Aufenthaltsort des Verlobten Anzeige zu machen.
»

Die Vorsicht der Gemeindevorsteherschaft ist verständlich, denn schliesslich konnte sie ja nicht wissen, welche Verpflichtungen dieser Felix Haag aus Tettnang (nahe der bayerischen Grenze nördlich des Bodensees) zu Hause noch hatte. Es konnte ja durchaus sein, dass er dort Schulden hinterlassen hatte, gar verheiratet war oder sonstige Verpflichtungen auf ihn warteten. Deshalb wollte man zuerst das schriftliche Placet des zuständigen Oberamtes im Königreich Württemberg sehen. 

Der Fall wird dem Gericht übergeben

Welche Probleme der Schreiner Haag zu Hause auch immer gehabt haben mag: Er scheint es jedenfalls nicht zustande gebracht zu haben, die geforderten Unterlagen innert der gewährten Frist zusammenzubringen. Das muss man aus dem Protokolleintrag vom 16. Dezember 1844 schliessen:

«In Betreff des Paternitätsfalls der Anna Rüdlinger wird, nachdem sich ergeben, daß ihr Verlobter Felix Haag von Dettnang, nicht im Stande ist, das ihr gegebene Eheversprechen zu vollziehen, mit Einmuth beschlossen, den Fall dem Gerichte zu überweisen, & dem Haag das fernere Betreten der Gemeinde alles Ernstes zu untersagen. -- Die Weisung unterm 16ten ausgestellt u. an Hrn Statthalter abgeschickt.»

Das Bezirksgericht liess die Sache nicht lange liegen, denn bereits unter dem 5. Januar 1845 wird im Protokoll notiert:

«zum Schlusse der Sitzung vorgelegt: das Paternitäts-Urtheil betr. den Status des unehl. geb. Kindes der Anna Rüedlinger.»

Mutter und Kind mussten also ohne den Vater auskommen. Ob der an den Unterhalt wie versprochen auch etwas beitrug, oder selbst dazu nicht imstande war, bzw. sein wollte, diese Frage bleibt weiteren Recherchen vorbehalten.

Für die Gemeinde war klar, dass man diesen Haag hier nicht mehr sehen wollte. So versuchte man, weitere uneheliche Kinder der Anna Rüedlinger zu verhindern, die (wie man annehmen muss) dann ebenfalls dem Armengut zur Last gefallen wären.

Quellen und Literatur
  • Protocoll der Kirchenpflege Weÿach, 1838-1884, pag. 61-62. (Signatur: ERKGA Weiach, IV.B.6.2)

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