Donnerstag, 17. September 2020

Neues Geläute in weniger als hundert Tagen

Die ganz Aufmerksamen werden es schon bemerkt haben: Der Autor dieser Zeilen hat sich vor mittlerweile 14 Jahren ziemlich verhauen. In einer Datierungsangelegenheit, die sogar in der Jubiläumsbroschüre von 2006 auf S. 41 verewigt ist.

Nachstehend ein Lehrstück, warum Archive (und insbesondere die dort aufbewahrten Behördenprotokolle) die unverzichtbaren Anlaufstellen in solchen Zweifelsfragen sind. Eines, das überdies zeigt, wie rasch vor zwei Jahrhunderten auch grössere Vorhaben umgesetzt werden konnten.

Grosse Glocke am 22. Januar 1842 gesprungen?

Hätte der Autor dieser Zeilen 2006 mehr Zeit investieren können und nicht nur das älteste Stillstandsprotokollbuch, sondern auch das zweitälteste konsultiert gehabt, dann wäre klar gewesen: Das stimmt nicht. 1843 ist die richtige Antwort.

Massgebend ist immer die Primärquelle par excellence, d.h. die zeitnah erfolgte Aufzeichnung der Direktbetroffenen. Wie aus dem Protokollband der Kirchenpflege über die Jahre 1838-1884 (ERKGA Weiach IV.B.6.2 – pag. 51, Sitzung vom 23. Januar 1843) eindeutig hervorgeht, ist der irreparable Schaden an der grossen Glocke am 22. Januar 1843 «beym Läuten» entstanden. 

Deshalb kann man auch den Schadenszeitpunkt exakt bestimmen, denn die durch den Sprung entstehende klangliche Veränderung ist sicher sofort aufgefallen. Und da Glocken für den geordneten Ablauf des Lebens in der Gemeinde einst unverzichtbar waren, musste auch rasch Abhilfe geschaffen werden.

Die Mehrheit der Chronisten liegt richtig

Die überwiegende Mehrheit der chronikalischen Überlieferungen und anderer Sekundärquellen verweist auf die korrekte Jahrzahl.  

So handschriftlich das Glockenbuch von Kirchenrat Sal. Vögelin, mit dem Eintrag (mutmasslich von L. Stierlin): «Diese Glocke [gemeint ist die 1682 gegossene grosse Glocke] zersprang im Jänner 1843» (ZBZ Ms. P 6313).

In gedruckter Form u.a. Friedrich Vogel: «Im Jahr 1843 zersprang eine der größern Glocken im Kirchthurm, was Veranlassung zu Anschaffung eines neuen Geläutes gab.» (Memorabilia Tigurina 1853, S. 446). Er hat sich insofern geirrt, als er offensichtlich davon ausgegangen ist, dass auch das alte Geläute aus drei Glocken bestanden habe.

Emil Maurer: «Dieses Geläute ersetzt die zwei alten Glocken, von denen die grössere im Jahre 1843 defekt geworden war.» (Maurer 1965, S. 11)

Oder Walter Zollinger: «Am 7. Mai 1843 konnten die Weiacher Kirchgenossen ein neues Geläute einweihen. Am 22. Januar zuvor war beim Läuten die grösste Glocke plötzlich gesprungen.» (Zollinger 1972, S. 52). Auch daraus geht eigentlich klar hervor, dass 1843 gemeint ist. Und es lässt auch vermuten, dass Zollinger wohl die eingangs erwähnte Originalquelle konsultiert hat.

Wie es zur falschen Angabe gekommen ist

Auf die Jahrzahl 1842 für das Zerspringen der grösseren Glocke ist der Autor dieser Zeilen gekommen, weil er sich letztlich doch zu sehr auf die nachstehende Passage verlassen hat: «Von der Glockengiesserei Keller, Zürich-Unterstrass, wurde 1842 das Geläute gegossen in: as 690 kg, c’’ 340 kg und es’’ 195 kg.» (Sigristen-Kantonalverband Zürich, 1975 – S. 136).

In kritischer Beschäftigung mit diesem Zitat erging er sich dann in Mutmassungen: «Ob die Glocken wirklich schon 1842 gegossen wurden? Der Auftrag dazu ist wohl in diesem Jahr erteilt worden. Nach Zollinger 1972 war es nämlich am 22. Januar 1842, als «beim Läuten die grösste Glocke von 1682 plötzlich gesprungen» sei. Die Jahrzahl auf den Glocken ist – nach allem was ich bisher weiss – klar 1843. Das ist also entweder ein Fall von Vordatierung (im Wissen darum, dass die Glockenweihe 1843 stattfinden würde) oder der Guss war erst im Jahre 1843 vollendet.» (WeiachBlog Nr. 196)

Also Fehlinterpretation von Zollingers Aussage in Verbindung mit einer bei genauerem Hinsehen offensichtlich falschen Jahrzahl in der Transkription des Turmkugeldokuments Nr. 8 und der Angabe in der Sigristenbroschüre (s. oben). Und: mangelnde Vorstellungskraft, wie schnell Handwerksbetriebe damals arbeiten konnten. Das alles hat zum Fehler beigetragen.

Auftragslage bei Keller nicht von Belang

Es wäre somit auch später kein Werweissen darüber nötig gewesen, ob die damals noch vergleichsweise junge Glockengiesserei Keller (Opus 1 von 1828) den Auftrag 1842 überhaupt hätte ausführen können.  

Wädenswil hatte nämlich bei der Giesserei Jakob Keller ein ganzes Geläute bestellt, ausgeliefert wurden 5 Glocken, darunter ein Riese von 8884 Pfund (fast viereinhalb Tonnen), die zweitgrösste Glocke wog 4487 Pfund, die mittlere 2635, die zweitkleinste 1065 und die kleinste immerhin noch 536 Pfund. Total also 8.8 Tonnen. Das war ein in der Firmengeschichte bis dahin beispielloser Grossauftrag. (Vgl. Verzeichniß 1881, S. 4)

Die sehr schnelle Ausführung des Weiacher Geläutes zeigt, dass Jakob Keller den Wädenswiler Grossauftrag bereits gut bewältigt hatte und in der Lage war, zwischen Ende Januar und Anfang Mai 1843, also in nur gut drei Monaten den gesamten Auftrag abzuwickeln. Von der Auftragserteilung über die Abholung der einzuschmelzenden Glocken in Weiach, den Guss bis zur Auslieferung der fertigen Glocken. Die Weiacher mussten also nicht mehr als ein Jahr auf ihr neues Geläute warten!

Fällige Korrekturangaben

In der gedruckten Ausgabe der Kirchenbroschüre von 2006 lässt sich der Fehler natürlich nicht mehr korrigieren, ebenso in den Ausgaben der Monographie über die Gemeinde Weiach (Geschichte eines Unterländer Dorfes ab 2006 bis 2018). 

Dafür wird in den einschlägigen Artikeln von WeiachBlog direkt im Text der Korrekturhinweis «[recte: 1843; vgl. WeiachBlog Nr. 1582 v. 17. September 2020]» angebracht, so in WeiachBlog Nr. 196 und in WeiachBlog Nr. 930 vom 14. Oktober 2010.

Ferner erhält die Anmerkung 22 im OCR-Reprint von Emil Maurers 1965 erschienener Schrift Die Kirche zu Weiach die nachstehende neue Form:

Korrekte Jahresangabe! Aufgrund der Formulierung bei Zollinger 1972 («Am 7. Mai 1843 konnten die Weiacher Kirchgenossen ein neues Geläute einweihen. Am 22. Januar zuvor war beim Läuten die grösste Glocke plötzlich gesprungen» – S. 52) sowie insbesondere der Jahresangabe im Verzeichnis der evangelisch-reformierten Kirchen des Kantons Zürich. (Sigristen-Kantonalverband Zürich, 1975 – S. 136) hat Brandenberger angenommen, die grössere Glocke von 1682 sei bereits am 22. Januar 1842 während des Läutens gesprungen. (Vgl. u.a. Brandenberger, U.: Kirchen im Dutzend. WeiachBlog Nr. 196 v. 19. Mai 2006 sowie ders.: Die Weiacher Kirche in Nüschelers «Gotteshäusern». WeiachBlog Nr. 930 v. 14. Oktober 2010).

Wie aber aus dem Protokollband der Kirchenpflege über die Jahre 1838-1884 (ERKGA Weiach IV.B.6.2 pag. 51, Sitzung vom 23. Januar 1843) eindeutig hervorgeht, ist das ein Irrtum. Der irreparable Schaden an der grossen Glocke ist am 22. Januar 1843 entstanden. Den «Jänner 1843» überliefert auch das Glockenbuch von Kirchenrat Sal. Vögelin (ZBZ Ms. P 6313), mit einem Eintrag von mutmasslich anderer Hand: «Diese Glocke zersprang im Jänner 1843 u. [...unleserlich...] mit N° 2 zu einem neuen Geläute umgegossen».

Quellen und Literatur 
  • Protocoll der Kirchenpflege Weÿach, 1838-1884, pag. 51. Signatur: ERKGA Weiach, IV.B.6.2
  • Vogel, F.: Memorabilia Tigurina oder Chronik der Denkwürdigkeiten des Kantons Zürich 1840 bis 1850. Zürich 1853. Verfügbar als e-rara 26754
  • Verzeichniß der Glocken aus der Gießerei von Jakob Keller in Unterstraß bei Zürich. Zürich [1881] – S. 4. Verfügbar als e-rara 62253
  • Maurer, E.: Die Kirche zu Weiach. Weiach 1965 – S. 11 [im Original unpaginiert]. OCR-Fassung. Stand August 2020 (PDF 1168 KB; unveröffentlicht).
  • Zollinger, W.: Aus der Vergangenheit des Dorfes Weiach. (Chronik Weiach. 1271-1971). 1. Aufl. 1972 – S. 52. (PDF 4639 KB)
  • Zürcher Kirchen. Verzeichnis der evangelisch-reformierten Kirchen des Kantons Zürich. Erschienen im Eigenverlag des Sigristen-Kantonalverbandes Zürich zum Jubiläum seines 50-jährigen Bestehens im September 1975 – S. 136.
  • Brandenberger, U.: «ein nöüer Kirchenbauw allhier zu Weyach». 300 Jahre Kirche Weiach, 1706 – 2006. Herausgegeben von der Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Weiach und der Ortsmuseumskommission Weiach. Weiach 2006 – S. 41. (Online-Ausgabe 2007, PDF 17156 KB)
  • Brandenberger, U.: Kirchen im Dutzend. WeiachBlog Nr. 196 vom 19. Mai 2006.
  • Brandenberger, U.: Die Weiacher Kirche in Nüschelers «Gotteshäusern». WeiachBlog Nr. 930 vom 14. Oktober 2010.

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