Dieser Beitrag ist ein kurzes Blitzlicht auf das lange Kapitel der Sozialdisziplinierung. Es ist nicht der erste und wohl auch nicht der letzte Bericht dieser Art auf WeiachBlog.
Denn wenn sich etwas durchzieht wie ein roter Faden bis hinein in unsere Gegenwart, dann das: die vielgestaltige Repression gegen Menschen, die zwar nicht explizit kriminell sind (z.B. im Sinne des Sechsten und des Achten Gebots, wie Mord und Diebstahl), aber sich dennoch deviant benehmen, weil sie anders sind, anders leben wollen, aus der Sicht der Etablierten zu viele Ressourcen verbrauchen (weil sie Kinder auf die Welt stellen, für die dann das Sozialamt aufkommen muss). Was auch immer.
Quellenkritisches Denken im Hinterkopf zu haben, ist gerade aus diesem Grund eine sehr wichtige Sache, wenn man Texte analysiert, die heute in staatlichen Archiven liegen. Quellenkritik hat immer etwas mit Motivationsforschung zu tun. In diesem Fall mit der Motivation der Herrschenden am nachhaltigen Machterhalt und deshalb an der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung. All denjenigen Massnahmen also, die man ab der frühen Neuzeit (d.h. den fünf Jahrhunderten, aus denen die meisten uns verfügbaren Schriftquellen stammen) als «gute policey» bezeichnete. Polizei wird dabei nicht nur als uniformierte Sicherheitspolizei mit Schusswaffe, Handschellen und Schlagstock verstanden, sondern auch als etliches anderes, wie Gewerbepolizei, etc.
Erkundigungen lauten nicht günstig
Heute vor 100 Jahren hat der Bezirksrat Dielsdorf eine solche Policey-Massnahme durchgezogen. Die Betroffenen kommen hier nicht zu Wort. Lediglich der ins Regierungsratsprotokoll (StAZH MM 3.35 RRB 1921/1339) eingegangene Verwaltungsakt präventiver, zeitlich begrenzter Problemeindämmung:
«A. Am 12. März 1921 stellt Gertrud Peter, geboren am 4. August 1903, von Luthern, Kanton Luzern, wohnhaft im Bühl 108, in Weiach, das Gesuch um Ehemündigerklärung. Die Gesuchstellerin sei seit August 1920 schwanger und sie wünsche ihren Bräutigam, Leo Hürlimann, vor der Niederkunft noch zu heiraten. Die Eltern der Braut haben am 12. März 1921 ihre Einwilligung zur Heirat und damit auch zur Ehemündigerklärung gegeben.
B. Der Gemeinderat Weiach enthielt sich in seiner Rückäußerung vom 21. März 1921 eines Antrages. Der Bezirksrat Dielsdorf beantragt in seinem Bericht vom 22. April 1921 Ablehnung des Gesuches der Gertrud Peter um Ehemündigerklärung. Die vom Bezirksrat Dielsdorf eingezogenen Erkundigungen lauten über beide Verlobte nicht günstig.
In Zustimmung zu dem Antrage des Bezirksrates Dielsdorf und nach Einsicht eines Antrages der Direktion des Innern beschließt der Regierungsrat:
I. Das Gesuch der Gertrud Peter, von Luthern, Kanton Luzern, in Weiach, um Ehemündigerklärung, wird abgewiesen.
II. Die Staatsgebühr beträgt Fr. 5. Sie ist mit den Ausfertigungs- und Stempelgebühren von der Gesuchstellerin zu beziehen.
III. Mitteilung an die Gesuchstellerin, unter Rückschluß von 2 Geburtsscheinen, den Gemeinderat Weiach, den Bezirksrat Dielsdorf, das Zivilstandsamt Weiach und die Direktion des Innern.»
[Im Bühl 108 (nach dem Nummerierungsplan 1895) ist heute Büelstr. 4 (Techn. Gebäudealter gemäss kantonaler Gebäudeversicherung: 1767)].
Interessant ist hier, dass sich der Gemeinderat (wohl nach Rücksprache mit dem Stillstand, der auch gleich die Armenpflegebehörde war und von Pfr. Kilchsperger präsidiert wurde) nur indirekt zu dieser Angelegenheit geäussert hat. Ob es dazu einen Gemeinderatsbeschluss gibt, wäre noch zu überprüfen.
Man kann die Enthaltung auch als implizite Aufforderung verstehen, aktiv zu werden. Vielleicht, weil man in Weiach wusste, dass da bereits eine Vorgeschichte war. Nämlich die ihrer Familie. Die findet sich in zwei Regierungsratsentscheiden aus dem Frühjahr 1910.
Bei einer Seiltänzergesellschaft mitgewirkt...
In der Rebbaugemeinde Höngg, die erst 1934 in die Stadt Zürich eingemeindet wurde, spürte man die städtischen Probleme schon Jahre zuvor, denn viele in der Stadt Tätige liessen sich dort nieder. Schon um 1900 zählte die Gemeinde mehr als 3000 Einwohner.
In Höngg wohnte 1910 ein gewisser Johannes Peter, der ins Visier der örtlichen Sozialbehörde geriet und gegen einen Entscheid des Bezirksrates beim Regierungsrat Einsprache erhob (StAZH MM 3.24 RRB 1910/0368):
«A. Mit Beschluß vom 27. Januar 1910 bestellte der Bezirksrat Zürich auf Antrag des Waisenamtes Höngg für die fünf Kinder des Johannes Peter, städtischen Arbeiters, von Luthern, Kanton Luzern, wohnhaft in Höngg, Frieda, geboren 1893, Marie, geboren 1899. Joseph Ernst, geboren 1901, Anna Veronika, geboren 1902, und Gertrud, geboren 1903, außerordentliche Vormundschaft.
B. Gegen diesen Entscheid rekurriert Johannes Peter mit Eingabe vom 9. Februar 1910 an den Regierungsrat.
Es kommt in Betracht:
Den Akten ist zu entnehmen, daß die Eltern Peter getrennt leben und sich zwei Kinder bei der Mutter aufhalten, während die übrigen anderweitig versorgt sind. Laut Bericht des Waisenamtes Zürich soll die älteste Tochter schon bei den Produktionen einer Seiltänzergesellschaft mitgewirkt und ferner nach dem Ergebnis einer ärztlichen Untersuchung bereits geschlechtlichen Umgang gepflogen haben. Weiter wird mitgeteilt, daß auch den jüngeren Kindern eine mangelhafte Erziehung und Überwachung zu Teil werde; sie seien, während die Mutter auswärts arbeite, tagelang sich selbst überlassen.
Wenn nun der Rekurrent einwendet, «er glaube seine Kinder richtig zu erziehen», so kann hierauf kein Gewicht gelegt werden, um so weniger, als er die in dem Entscheid der Vorinstanz angeführten Tatsachen im einzelnen nicht bestreitet und sich aller weiteren Ausführungen enthält. Der Rekurs ist demnach schon mangels irgendwelcher Begründung abzuweisen.»
Sie sehen wie das funktioniert, oder? Hier werden die Mängel in der Beschwerde mit eiskalter juristischer Präzision ausgenützt. Bei dieser Ausgangslage ist ohne weiteres klar, wie der Beschluss vom 4. März 1910 aussah.
Interessant ist, dass es die Justiz- und Polizeidirektion war, die hier federführend war und dem Regierungsrat Antrag gestellt hatte! Ob die (hier nicht einmal namentlich genannte) Mutter damals mit ihren Kindern in Weiach gewohnt hat, ist nicht geklärt. Dass sie arbeiten gehen musste und ihre zwei jüngsten Mädchen (7 und 8-jährig) daher nicht so optimal betreut waren, hätte allein wohl nicht zu dieser Massnahme geführt.
Das Burghölzli ist viel zu teuer
Sie ahnen es sicher schon: der Stein des Anstosses war die älteste Tochter Frieda, wobei ihre beginnende Seiltänzer-Karriere nur die Begleitmusik darstellte. Des Rätsels Lösung steht in einem Regierungsbeschluss vom 28. April 1910 (StAZH MM 3.24 RRB 1910/0741):
«Auf Antrag der Direktion des Armenwesens
beschließt der Regierungsrat:
I. Peter, Frieda, geboren 1893, von Luthern, Kanton Luzern, zurzeit in der Irrenheilanstalt Burghölzli, wird gemäß Artikel 45, Absatz 3 der Bundesverfassung heimgeschafft.
Der Frieda Peter wird die Rückkehr in den Kanton Zürich ohne die ausdrückliche Erlaubnis der Direktion des Armenwesens unter Androhung der Überweisung an den Strafrichter im Falle des Ungehorsams (§ 80 des Strafgesetzbuches [des Kantons Zürich]) untersagt.
II. An den Regierungsrat des Kantons Luzern wird geschrieben:
Das Mädchen Frieda Peter, geboren 1893, von Luthern, Kanton Luzern, wohnhaft in Zürich, ist infolge krankhafter Anlage und verfehlter Erziehung versorgungsbedürftig. Wir verweisen diesbezüglich auf die Euerem Departement des Gemeindewesens von unserer Armendirektion bereits vorgelegten Akten.
Die Heimatgemeinde lehnt es ab, die Kosten einer vom Amtsvormund der Stadt Zürich bereits ausgewirkten Versorgung zu übernehmen und verlangt die Zuführung des Mädchens.
Wir haben deshalb gemäß Artikel 45, Absatz 3 der Bundesverfassung [vgl. WeiachBlog Nr. 1628] die Heimschaffung der Peter beschlossen und werden diese Maßnahme zum Vollzuge bringen lassen, sobald dies mit Rücksicht auf eine hier schwebende Strafuntersuchung, in welche das Mädchen als angebliche Damnifikatin [sic!] verwickelt ist, geschehen kann.»
[Damnifizieren bedeutet beschädigen. Eine Damnifikantin wird beschuldigt, etwas beschädigt zu haben. Da gab es also eine Strafanzeige, was auch die Involvierung der Justiz- und Polizeidirektion erklärt.]
Die Gemeinde Luthern war 1910 nicht gewillt, die Kosten zu tragen, die der Amtsvormund der Stadt Zürich u.a. mit der Einweisung ins Burghölzli generiert hatte. Dort war man wohl der Meinung, es ginge auch billiger.
So schliesst sich der Kreis. Das Schicksal ihrer ältesten Schwester dürfte 1921 nicht ganz unwichtig gewesen sein bei der Beurteilung von Gertrud Peters Ehemündigkeitsgesuch. Wehret den Anfängen. Mit exakt 11 Jahren Differenz.
Quellen
- Regierungsrat des Kantons Zürich (ed.): Vormundschaft. RRB vom 4. März 1910. Signatur: StAZH MM 3.24 RRB 1910/0368
- Regierungsrat des Kantons Zürich (ed.): Heimschaffung. RRB vom 28. April 1910. Signatur: StAZH MM 3.24 RRB 1910/0741
- Regierungsrat des Kantons Zürich (ed.): Ehemündigerklärung. RRB vom 28. April 1921. Signatur: StAZH MM 3.35 RRB 1921/1339
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