Mittwoch, 7. April 2021

Die Alamannen siedelten sich erst zwei Jahrhunderte später an

Im blauen Büchlein (der sog. «Chronik») des 1986 verstorbenen Ortshistorikers Walter Zollinger findet man die folgende Passage zum Übergang der Herrschaft von den Römern auf die Alamannen, die später durch die Franken (ebenfalls ein Germanenstamm) abgelöst worden seien:

«Im Verlauf des 5. Jahrhunderts nach Christus wurde die Römerherrschaft durch die von Norden her vordringenden Germanenstämme abgelöst. Schon um 260 bis 300 verbreiteten diese sporadischen Alemanneneinfälle Angst und Schrecken unter der römisch-helvetischen Bevölkerung südlich des Rheines. Und als dann das Römische Reich durch innere Zwistigkeiten geschwächt und deshalb gezwungen war, die bei uns stationierten römischen Söldner zurückzuziehen, drangen die Alemannen endgültig bei uns ein und nahmen das Land in Besitz; dies geschah etwa 450 nach Christus. Bereits 496 schlug aber der aus dem Geschlechte der Merovinger stammende Frankenkönig Chlodwig (466 bis 511) die Alemannen und nun beherrschten er und seine Nachkommen unser Land.» (Zollinger, W.: Aus der Vergangenheit des Dorfes Weiach, 1. Auflage. Weiach 1972 – S. 15)

An dieser Darstellung stimmt nach heutigen Erkenntnissen gleich einiges nicht, was hiermit richtiggestellt werden soll.

Eins muss man Zollinger zugutehalten. Er erweckt wenigstens nicht direkt (wie andere Autoren seiner Zeit) den Eindruck, dass anfangs des 5. Jahrhunderts ein «Alemannensturm» in Form eines Dammbruchs auf heute zürcherisches Gebiet erfolgt sei. Ein plötzliches, katastrophenartiges Einströmen mit anschliessender Besiedlung der eroberten Gebiete ist nämlich weder in den spärlichen schriftlichen Quellen noch in archäologischen Befunden festzustellen. Und zwar für keine Zeitperiode.

Helvetien ist nur zum Plündern gut

Was man nach heutigem Stand des Wissens sagen kann: 

1. In den Jahren ab 259 (Schlacht von Mediolanum, dem heutigen Mailand) gab es tatsächlich etliche grössere und kleinere Raubzüge von Alamannen, die teilweise weit ins Reichsgebiet vorgestossen sind. Helvetien war u.a. 277 betroffen. Diese Ereignisse haben die galloromanische Bevölkerung in unserer Gegend nachhaltig verunsichert und die bisher betriebene Latifundien-Landwirtschaft mit grossen Gutsbetrieben in etlichen Fällen zum Erliegen gebracht (vgl. dazu WeiachBlog Nr. 167). Dass der Schutz durch Grenztruppen wirklich effektiv war, darf für weite Zeiträume bezweifelt werden. 

2. Um das Jahr 300 (je nach Quelle: 298 oder 302) fand eine der grossen Schlachten der Römer gegen Alamannenheere in unserer unmittelbaren Nachbarschaft statt (vgl. Wikipedia-Artikel Schlacht von Vindonissa). Der siegreiche Kaiser Constantius I. konnte dadurch die Rheingrenze auf Jahrzehnte hinaus sichern.

3. Bis ins Jahr 378 gelang es den Römern, die Alamannen in ein Föderaten-Verhältnis zu manövrieren und sie damit teilweise zu neutralisieren. Den einen oder anderen Plünderungszug unternahmen sie dennoch.

4. Im Jahre 401 verlor unsere Gegend endgültig den Schutz durch die römischen Grenztruppen, der seit dem Ausbau der Verteidigungslinie Donau-Iller-Rhein (darunter der Wachtturm im Weiacher Hard) unter Kaiser Valentinian I. um 370 verstärkt worden war. Diese Preisgabe befahl der berühmte Magister militum (d.h. Heerführer) Flavius Stilicho (um 362 – 408) um gegen die Goten vorgehen zu können: 

«Weshalb die westgotischen foederati unter Alarich 401 Illyrien verließen und nach Italien zogen, ist nicht ganz geklärt. [...] Stilicho sah sich jedenfalls gezwungen, in großem Umfang Truppen von den Grenzen in Gallien und Britannien abzuziehen, um Alarich in Italien entgegenzutreten.» (Wikipedia-Artikel Stilicho)

5. Eine Art Dammbruch gab es im Jahre 406 tatsächlich. Nur eben nicht am Hochrhein. Eine grosse militärische Offensivaktion von Germanengruppen wurde (sehr wahrscheinlich zwischen Mainz und Worms) über den Rhein hinweg vorgetragen (vgl. den Wikipedia-Artikel Rheinübergang von 406). Die damals ins Römische Reich gelangten Kriegerverbände liessen sich nicht mehr vertreiben und verursachten in den Folgejahren mannigfaltige Probleme. So drangen beispielsweise die Wandalen 409 auf die iberische Halbinsel vor und setzten sich 429 in Nordafrika fest.

6. Bis ca. 430 sollen die Burgunden den Schutz der Grenze am Hochrhein noch aufrechterhalten haben.

7. Die gemäss Zollinger ab 450 erfolgte Landnahme der Alamannen in unserem Gebiet ist offenbar eher in westlicher Richtung (gegen die Franken) bzw. östlicher Richtung (gegen Noricum) erfolgt. Das erklärt auch, weshalb die Alamannen mit den Franken über Kreuz kamen, vgl. das nachstehende auführlichere Zitat aus dem Abschnitt Expansion und Unterwerfung des Wikipedia-Artikels Alamannen

«Ein Konflikt mit den benachbarten Franken führte nach Gregor von Tours irgendwann zwischen 496 und 507 zu entscheidenden Niederlagen der Alamannen gegen den fränkischen König Chlodwig I. aus dem Geschlecht der Merowinger. Dieser soll in Zusammenhang mit dem Sieg nach einer entscheidenden Schlacht den christlichen (katholischen) Glauben angenommen haben. Die Entscheidungsschlachten waren möglicherweise die Schlacht von Zülpich sowie die Schlacht bei Straßburg (506). Die nördlichen alamannischen Gebiete kamen dadurch unter fränkische Herrschaft. Der Ostgotenkönig Theoderich gebot der fränkischen Expansion zunächst Einhalt, indem er die südlichen Teile Alamanniens unter ostgotisches Protektorat stellte und Flüchtlinge der besiegten Alamannen unter seinen Schutz nahm. Aber schon 536/537 überließ der von byzantinischen Truppen bedrängte Ostgotenkönig Witigis dem Frankenkönig Theudebert I. unter anderem Churrätien und das Protektorat über "die Alamannen und andere benachbarte Stämme", um sich die Unterstützung der Merowinger zu erkaufen. Damit befanden sich alle Alamannen unter fränkischer Herrschaft.»

Hinweis: Die Machtübernahme durch die Franken in unserem Gebiet sieht das Historische Lexikon der Schweiz (HLS) bereits im Jahre 531 (vgl. unten). [Gemäss dem Artikel über die Burgunder (Burgundiones) im HLS besiegelte eine neuerliche Niederlage bei Autun im Jahre 532 ihr Schicksal]

8. Die Alamannen hatten es trotz allem nicht so mit dem Wandern. Sie siedelten nach der Aufgabe des Obergermanischen Limes (nach 260) im ehemaligen Dekumatland (südwestlicher Teil des heutigen Baden-Württemberg) und interessierten sich für das Gebiet südlich des Rheins nur insofern, als sie dort Plünderungszüge durchführten.

Herrschaftsverhältnisse zwischen 400 und 700 n. Chr.

Wie Renata Windler, Ressortleiterin Archäologische Projekte bei der Kantonsarchäologie Zürich, im Historischen Lexikon der Schweiz (e-HLS) schreibt, sei «über die politische Ordnung vom 5. bis 7. Jahrhundert [..] wenig bekannt. Nominell gehörte das Gebiet bis 476 zum weströmischen Reich und dürfte in den folgenden Jahrzehnten in den Besitz des Burgunderreichs gelangt sein, bis es 531 an das Merowingerreich überging, als dessen Amtsträger für das 6.-7. Jahrhundert alemannische Herzöge belegt sind.» (Artikel Zürich (Kanton), Abschnitt 1.2 Frühmittelalter, 1.2.2. Formen der politischen Ordnung und Christianisierung)

Was hier nur zwischen den Zeilen steht: In den spätantiken und frühmittelalterlichen Schriftzeugnissen aus dieser Zeit nach dem Abzug von 401 findet sich wenig, was für die regionale Siedlungsgeschichte sachdienlich wäre. Damit bleibt zur Gewinnung von gesicherten Erkenntnissen nur die archäologische Herangehensweise (im wesentlichen die Auswertung von Grabbeigaben), womit Windler genau die richtige Fachfrau für diese Zeitperiode ist.

Für unsere Zwecke kann festgehalten werden, dass die Franken (mit den Merowinger-Königen an der Spitze) in unserer Gegend zuerst dauerhaft Fuss gefasst haben. Die Alamannen kamen erst später ab dem Ende des 6. Jahrhunderts als Siedler in unser Gebiet, wahrscheinlich veranlasst durch ihre Führungsschicht. Das macht auch durchaus Sinn, wenn man den Einfluss der Burgunden und die gallorömisch geprägte Kultur in Betracht zieht. Was will ein Alamanne da?

Ins gleiche Horn stösst auch Lucie Steiner in ihrem Artikel über die Völkerwanderung (ebenfalls im e-HLS):

«Die ersten Zeugnisse für die Anwesenheit von Germanen im Mittelland tauchen ab dem 6. Jh. auf und werden mit Vertretern der fränk. Herrschaft in Zusammenhang gebracht (Basel-Bernerring, Elgg). Daneben behauptete sich die rom. Bevölkerung weiterhin, und zwar nicht nur in den befestigten Orten Kaiseraugst und Arbon, sondern auch auf dem Land (Galloromanen). Erst ab dem 7. Jh. tauchten im Mittelland vermehrt Gegenstände und Bräuche aus dem germ. Kulturkreis auf, als eine eigentliche alemann. Einwanderung einsetzte, die sich namentlich anhand reicher Grabfunde in einigen Kirchen wie Bülach und Altdorf (UR) feststellen lässt. Es handelt sich dabei um den Anfang eines jahrhundertelangen Prozesses, der zur Herausbildung einer überwiegend germ. Sprach- und Kulturregion führte (Deutsch).» (e-HLS, Artikel Völkerwanderung)

Romanische Kultur war noch zwei Jahrhunderte vorherrschend

Nach dem Abzug der römischen Grenztruppen blieb die galloromanische Bevölkerung noch für rund 2 Jahrhunderte weitgehend unter sich. Sie musste zwar mit Überfällen von Norden her rechnen und sicherte sich daher mit befestigten Plätzen ab (sog. Kastelle), scheint aber weitgehend sich selbst überlassen worden zu sein. Verwaltungspraxis, Kultur und Sprache blieben somit stark provinzialrömisch geprägt.

Es gibt zwar einige Beispiele für germanische Siedler aus dem 5. Jahrhundert. Diese sind jedoch nach Ansicht Windlers den Grenztruppen zuzuschreiben (limitanei genannt; vgl. auch WeiachBlog Nr. 1475):

«Einzelne archäologische Überreste germanischer Prägung der Zeit um 400 und möglicherweise auch die Gräber bei Flaach (um 450 bis um 500) sind noch in Zusammenhang mit der spätantiken Grenzsicherung durch germanische Stammesgruppen zu sehen.» (e-HLS, Artikel Zürich (Kanton), 1.2.1 Bevölkerung und Besiedlung). Diese Germanen waren aber keine Alamannen, denn sie sollten ja die Galloromanen gegen alamannische Übergriffe schützen. Für das ablehnende Verhältnis der Alamannen zu den provinzialrömischen Nachbarn, vgl. WeiachBlog Nr. 169

Dass es auch im Zürcher Unterland mehrere Ansiedlungen von Gallorömern ausserhalb explizit befestigter Plätze gegeben haben muss, zeigen die Siedlungsbezeichnungen, die auf «-acum» (bzw. heute «-ach») enden: bspw. Bülach, Embrach, Weiach und Windlach. Da diese Endung eine Hofstelle anzeigt (auf Weiacher Gebiet soll das Landgut des Veius gestanden haben), kann man daraus ableiten, dass sie alle mehrheitlich landwirtschaftlich geprägt waren.

Eher nebeneinander als miteinander

Ab etwa dem Jahr 600 sind vermehrt alamannische Gruppen eingewandert (wie oben erwähnt wohl unter dem Einfluss ihrer Führungsschicht). Ihre Sprache und Kultur unterschied sich nicht nur deutlich von der galloromanischen, sondern grenzte sich auch gegen diese ab. Unter den Galloromanen im Gebiet der heutigen Schweiz gab es bereits früh christliche Gemeinden, nicht so bei den Alamannen. 

Da die Neuzuzüger in ihrer überwiegenden Zahl ebenfalls landwirtschaftlich tätig waren, ist es nachvollziehbar, dass sie offensichtlich in etlichen Fällen eigene Siedlungen gründeten, deren Namen konsequenterweise nach germanischen (alamannischen bzw. fränkischen) Benennungskonventionen gebildet wurden.

An der Flurnamenlandschaft etlicher Gebiete in der heutigen deutschsprachigen Schweiz lässt sich ablesen, dass die romanische Kultur sukzessive verdrängt bzw. die Romanen majorisiert und dadurch alemannisch akkulturiert wurden (wie das heute auch mit den Rätoromanen passiert, wo jede(r) auch Deutsch spricht). So ist zum Beispiel der Walensee eigentlich der «Walchensee», also der See der Welschen (d.h. Romanen), da hinter ihm Rätien begann. Selbst ennet dem Hochrhein, im mittleren Schwarzwald, soll sich bis ins 9./10. Jahrhundert noch eine romanische Sprachinsel gehalten haben, die sog. Schwarzwaldromania.

Den umgekehrten Prozess der Anpassung der eingewanderten germanischen Burgunden an die zahlreichere Stammbevölkerung kann man in der Westschweiz feststellen, wo die burgundische Führungsschicht bald einmal romanische Bräuche und Sprache annahm.

Aber selbst in der Alamannia, dem Einflussgebiet der Alamannen war es nicht so, dass christliche Elemente vollständig abgelehnt wurden, so gibt es schriftliche und archäologische Hinweise auf Synkretismus, d.h. der Vermischung von christlichen und germanischen Religionsvorstellungen und -gebräuchen. 

Auch technische Errungenschaften der Römer nahmen die Alamannen an, jedenfalls soweit sie in ihre Lebens- und Wirtschaftsweise passten. So wurde bereits im 5. Jahrhundert eine Weiterentwicklung des Pfluges vorgenommen, die demjenigen in den provinzialrömisch dominierten Gebieten deutlich überlegen war (doch davon mehr in einem späteren Beitrag).

Quellen und Literatur

  • Windler, R.: Besiedlung und Bevölkerung der Nordschweiz im 6. und 7. Jahrhundert. In: Fuchs, K. (Hrsg.): Die Alamannen. Theiss, Stuttgart 1997 – S. 261-268.
  • Brandenberger, U.: Römische Gutshöfe in Helvetien um 260 n. Chr. zerstört. WeiachBlog Nr. 167 v. 20. April 2006.
  • Brandenberger, U.: Die Alamannen – ein Fall verfehlter Integration. WeiachBlog Nr. 169 v. 22. April 2006.
  • Steiner, L.: Völkerwanderung. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 15. April 2015, übersetzt aus dem Französischen. Stand: 6. April 2021.
  • Windler, R. et al.: Zürich (Kanton). In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 24. August 2017. Stand: 7. April 2021.
  • Brandenberger, U.: Zu Höhe und Besatzung der römischen Wachttürme am Hochrhein. WeiachBlog Nr. 1475 v. 16. Februar 2020.

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