Wer sucht, der findet. Allerdings nicht immer das Gesuchte. Eigentlich ging es mir um die frühe Weiacher Siedlungsgeschichte (vor weit über tausend Jahren). Unverhofft beantwortet wurde dabei eine offene Frage zum Zweiten Weltkrieg. Ein aktueller Werkstattbericht.
Gräberfund beim Stellungsbau?
1979 hat man beim Kiesabbau im Raum Leeberen (in der Nähe eines damals aufgrund des Bewässerungssystems noch bestehenden Arms des Dorfbachs) mehrere Steinplattengräber angebaggert. Zugeschrieben werden sie aufgrund einer Grabbeigabe (einem als «Scramasax» bezeichneten Kurzschwert) dem Frühmittelalter.
Dazu schrieb die Kantonsarchäologie im Weiacher Mitteilungsblatt: «Ob die beim Stellungsbau im Jahre 1939 zum Vorschein gekommenen Gräber zum gleichen Gräberfeld gehörten, ist ungeklärt». (Nagy, P.: Neues zu den Anfängen von Weiach. In: Mitteilg. f. d. Gde. Weiach (MGW), Juni 2001 – S. 11.)
Die auf Weiacher Gebiet im genannten Zeitraum mit ebendiesem Stellungsbau beauftragte Grenzfüsilierkompanie I/269 hat (wie von den vorgesetzten Stellen befohlen) über ihre gesamte Aktivdienstzeit Tagebuch geführt und die entstandenen Bände vorschriftsgemäss abgeliefert, sodass sie heute noch im Bundesarchiv eingesehen werden können. Begebenheiten aus diesen Tagebüchern sind im Beitrag «E luschtigi Söili-Jagd», Weiacher Geschichte(n) Nr. 96 (MGW, November 2007) festgehalten.
An einen Tagebuch-Eintrag, in dem der Fund von Gräbern thematisiert wurde, kann ich mich nicht erinnern. Habe ich bei der Durchsicht des Originals etwas übersehen? Normalerweise müsste ich nun den Gang nach Bern antreten. In diesem Fall aber nicht.
«Auf Bestellung digitalisieren wir analoge Dossiers»
Dank dem grossangelegten Digitalisierungsprojekt des Bundesarchivs werden Aktenbestände sukzessive elektronisch erfasst und im Format PDF, verpackt in ZIP-Ordnern, zum Download bereitgestellt. Welche Akten das sind, erfährt man aber nur, wenn man sich beim Schweizerischen Bundesarchiv einschreibt. Das nötige Login läuft über den eGovernment-Zugang des Bundes (Bundesangestellte können mit ihrer sog. PKI-Karte zugreifen, ohne die im Bundesumfeld kein PC oder Laptop läuft).
Dass sämtliche Tagebücher der Grenzfüsilierkompanie I/269 bereits digital vorliegen, verdanken wir auch der freien Journalistin und Niederweninger Ortschronistin Katrin Brunner, die bereits vor mehr als zehn Jahren einen Beitrag über die Normalität im Wahnsinn des Krieges im Zürcher Unterländer platziert hat (vgl. WeiachBlog Nr. 939 v. 24. Oktober 2010).
Am 22. Januar 2021 erschien ihr Artikel über den Alltag an der Grenze auf dem Blog des Nationalmuseums – und dafür brauchte sie ein hochaufgelöstes Bild der eingefangenen Kompaniesau Jda, die vor 13 Jahren den Titel von Weiacher Geschichte(n) Nr. 96 inspiriert hat.
Wie bestellt, so digitalisiert. Das Resultat (alle 11 Tagebücher) ist rund 180 MB «schwer». Es kann bequem heruntergeladen und auf dem heimischen PC in aller Ruhe gesichtet werden. In Zeiten, wo es dem Bundesrat oder einem Regierungsrat alle paar Tage einfallen kann, wieder sämtliche Bibliotheken und Archive für unbestimmte Zeit schliessen zu lassen (vgl. WeiachBlog Nr. 1500), ist das sehr praktisch.
Die Flugblatt-Verwirrung
Von einem Gräberfund ist in den Tagebüchern der Gz Füs Kp I/269 für das Jahr 1939 an keiner Stelle die Rede. Dafür aber von Flugblättern, was an eine Anmerkung in Walter Zollingers blauem Büchlein (Rückentitel «Chronik Weiach») erinnert:
«Eine Illustrierte mit Bildern dieser Zerstörungen im Kraftwerkgebiet und kleine Zeitungsabschnitte sowie ein Aufruf an die «soldats français», abgeworfen aus deutschen Flugzeugen, sind ebenfalls im Ortsmuseum Weiach.» (Zollinger, W.: Aus der Vergangenheit des Dorfes Weiach, 1. Auflage. Weiach 1972 – S. 93, Anmerkung 80)
Diese Anmerkung wurde auch in spätere Auflagen ab 2003 übernommen. Ich habe sie dort allerdings mit einem Fragezeichen versehen, weil diese Flugblattgeschichte keinen Sinn zu ergeben schien, denn Angriffsspitzen der französischen 1. Armee (Rhin et Danube) hatten ja erst kurz vor dem Kriegsende unseren Abschnitt des Hochrheins erreicht (vgl. WeiachBlog Nr. 1504). Was sollten da an französische Soldaten gerichtete Flugblätter? Und wie waren die abgeworfen worden, wenn die deutsche Wehrmacht schon im Jahre 1944 grösste Mühe hatte, der alliierten Luftüberlegenheit auch nur ansatzweise etwas entgegenzusetzen (vgl. WeiachBlog Nr. 1639)?
Deshalb habe ich sogar in Frage gestellt, ob diese «Propagandazettel wirklich aus der Luft abgeworfen und dann auf Weiacher Gebiet gefunden worden sind». (Fn-275 der 6. Auflage bis zur Version 6.35 v. März 2021, PDF 2.88 MB).
Soldatische Schützenhilfe für Zollinger
Der vorstehend angesprochene Tagebucheintrag findet sich in Bd. 3 unter dem 17. November 1939 und lautet wie folgt:
«Deutsche Flieger werfen auf Schweizergebiet Flugblätter mit französischem Text ab. Die franz. Soldaten werden darin gegen England aufgehetzt. Um 15.25 überfliegt eine deutsche Aufklärungsmaschine aus der Richtung Belchen kommend im Tiefflug ca 200 m Höhe unsere Stellungen. Da die ganze Kp. in diesem Momente mit Erdarbeiten und Abtransport [der Betonmaschine aus dem Kaibengraben nach Kaiserstuhl] beschäftigt war, konnte das Flugzeug von uns nicht beschossen werden. Die Maschine flog auf Schweizergebiet Rhein aufwärts, stieg dann plötzlich in die Höhe als der Pilot das grosse Schweizerkreuz auf dem Kraftwerk Rheinsfelden erblickte. Im Hinterland sollen am gleichen Tage auf [recte: auch] Flugblätter abgeworfen worden sein, sodass angenommen werden muss, die Flieger haben sich durch das sehr schlechte Flugwetter verflogen.»
Der dazugehörende Wettereintrag: «Leichte Niederschläge. Aufhellung gegen Abend. Starker Wind.»
Darauf muss man auch erstmal kommen: Flugblätter, die über Frankreich (konkret wohl: dem Elsass) hätten abgeworfen werden sollen, fielen also u.a. in Weiach zu Boden! Da hatte sich jemand wirklich ziemlich heftig verflogen, möglicherweise abgetrieben durch den starken Wind. Immerhin: die «feindliche» Seite des Rheins hatte der «Propagandabomber» erwischt.
Diese Flugblätter waren offenbar Teil der psychologischen Kriegführung, die letztlich zur Vorbereitung des Blitzkriegs nach Westen (sog. Sichelschnittplan) diente. Dieser wurde dann ab dem 10. Mai 1940 unter Umgehung der Maginot-Linie über die Benelux-Staaten vorgetragen.
In diesem Fall kann man Zollinger also vollumfänglich rehabilitieren. Das Flugblatt im Ortsmuseum wurde tatsächlich von einem deutschen Flugzeug abgeworfen. Nur eben schon 1939!
P.S.: Ab der Version 6.36 vom April 2021 wird die Ortsgeschichte auf S. 79 diesen Zufallsfund rezipieren.
Quelle
- Armeestab: Tagebücher der Stäbe und Einheiten (1939-1945). Gz Füs Kp I/269, Bd 1-11. Signatur: BAR E5790#1000/948#1871* (hier: Bd. 3, unpaginiert).
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