Wie man an seinen Einträgen im Tauf-, Ehe- und Totenregister der Gemeinde Weiach ablesen kann, hatte er wohl auch höheren Blutdruck bei gewissen Ehewilligen, die ihm – aus seiner Sicht – nicht die Wahrheit sagten.
Jungfräulichkeitsschwindel...
Da waren in seinem zweiten Jahr in Weiach beispielsweise Hans Heinrich Meierhofer, «Lismers s. Sohn» und Maria Bersinger, «Kesslers Tochter». Die beiden traten am 6. November 1694 in den Stand der Ehe.
Wir wissen nicht sicher, ob Maria darauf bestand, bei der Hochzeit Kranz und Schäppeli zu tragen (und damit als Jungfrau zu gelten), jedenfalls notierte Brennwald bei diesem Hochzeitseintrag die empörte Bemerkung: «gravida sed audacter negavit», was so viel bedeutet wie: «war schwanger, hat das aber kühn verneint». (StAZH E III 136.1, EDB 472 S. 325)
Zwei Jahre später, am 17. November 1696, hat ebenfalls eine bereits Schwangere geheiratet. Regula Schmid aus Windlach ehelichte an diesem Datum den Weiacher Matthias Baumgartner. Und auch da hat Pfarrer Brennwald sich einen entsprechenden Eintrag nicht verkneifen können. Denn da steht: «cum sertis sed fuit gravida», übersetzt: «mit Kranz, war aber schwanger». Auch diese Braut hat also so getan, wie wenn sie noch Jungfrau gewesen wäre. (StAZH E III 136.1, EDB 485 S. 326)
Dass so etwas quasi toleriert wurde, hat vielleicht auch mit dem Bedürfnis zu tun, die Katze fruchtbarkeitstechnisch nicht im Sack kaufen zu wollen. Bauern stallen auch lieber eine trächtige Kuh ein, als ein Rind, von dem sie nicht wissen, ob es je tragen wird.
...oder ein Fall von Gravitas suppressalis?
Zur Ehrenrettung der Maria Bersinger kann man das heute in der Gynäkologie unumstrittene Phänomen der verdrängten Schwangerschaft anführen. Die Journalistin Melanie Wirz erklärt es in einem 2019 in der Zeitschrift «Beobachter» erschienenen Artikel wie folgt:
«Kaum jemand glaubt, dass eine Frau so etwas nicht merkt, dass sie alle Symptome komplett falsch deutet. Das kann so weit gehen, dass Frauen als Lügnerinnen abgestempelt werden. «Dabei sind wir Menschen Meister im Verdrängen», sagt Sibil Tschudin, leitende Ärztin für gynäkologische Sozialmedizin und Psychosomatik am Unispital Basel. «Und das ist bei der verdrängten Schwangerschaft der zentrale Punkt: Was nicht sein darf, das kann nicht sein.» [...] Die Psyche steuert den Körper. Wenn eine Frau nicht damit rechnet, schwanger zu sein, werden alle Anzeichen anders interpretiert und die Symptome von der Psyche schliesslich so stark unterdrückt, dass eben kein Babybauch wächst, die Periode weiterhin kommt.»
So etwas passiert zwar nicht so häufig, aber immerhin bei rund 2 von 1000 Geburten. Wirz weiter:
«Bei einem Drittel der Fälle wird die Diagnose sogar erst bei der Geburt gemacht», sagt Sibil Tschudin. «Es gibt wohl keine Gynäkologin, die nie diese Erfahrung gemacht hat.» [...]»
In einer Zeit vor über 300 Jahren, in der eine uneheliche Schwangerschaft noch viel stärker stigmatisiert war als heutzutage, da dürften solche Phänomene möglicherweise noch häufiger aufgetreten sein, wenn eine Frau nicht wahrhaben wollte, dass sie ungewollt (oder halt auch nur zu früh vor dem geplanten Hochzeitstermin) schon schwanger geworden war – und damit spätestens bei der Geburt mit etwas Mathematik klar wurde, dass sie Kranz und Schäppeli eigentlich nicht verdient gehabt hätte.
«Das medizinische Phänomen heisst Gravitas suppressalis, verdrängte Schwangerschaft. Davon spricht man, wenn eine Frau bis mindestens zur 20. Woche nicht merkt, dass sie schwanger ist – wenn es für einen Abbruch bereits zu spät ist.»
Für eine Heirat ist es dann allerdings noch nicht zu spät. Nicht ganz klar ist überdies, ob der empörte Eintrag des Herrn Pfarrer erst Wochen oder Monate später erfolgt ist, nämlich zeitgleich mit dem Eintrag des Geburtstermins des ersten Nachwuchses der jeweiligen Eheleute.
Quellen und Literatur
- Meierhofer, Hans Heinrich, getraut mit Bersinger, Maria. In: Tauf-, Ehe- und Totenregister der Gemeinde Weiach, 6. November 1694. Signatur: StAZH E III 136.1, EDB 472
- Baumgartner, Matthias, getraut mit Schmid, Regula, Windlach. In: Tauf-, Ehe- und Totenregister der Gemeinde Weiach, 17. November 1696. Signatur: StAZH E III 136.1, EDB 485
- Wirz, M.: Nach vier Wochen war das Kind da. In: Beobachter, 14. Oktober 2019.
- Brandenberger, U.: Pfarrer Brennwald beim Bau der Kirche zu Tode geärgert. WeiachBlog Nr. 1553 v. 25. Juli 2020.
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