Heutzutage ist alles exakt erfasst, genauestens ausgemessen und zweifelsfrei in Statistiken niedergelegt. Denn schliesslich sind wir ja besser als unsere Vorfahren. Oder etwa doch nicht?
Manchmal muss man auch erkennen, dass eine Gesellschaft sozusagen einem kollektiven Dunning-Kruger-Effekt unterliegt, sie in gewissen Teilbereichen vor lauter Selbstvertrauen blinde Flecken hat.
So war es nach dem Ende des Ancien Régime weitverbreitet, sich für fortschrittlicher zu halten als die Vorfahren. Dass das punkto Methodik und Sorgfalt keineswegs zutreffen muss, darauf hat Gerold Ludwig Meyer von Knonau (1804-1858) bereits in der ersten Auflage 1834 seines historisch-geographisch-statistischen Werks über den Kanton Zürich hingewiesen, wo er über Bevölkerungszahlen schreibt:
«Die genauesten Volkszählungen sind diejenigen von 1634, 1671 und 1771. Die erstere veranstaltete Antistes Breitinger auf obrigkeitlichen Befehl, zur Beförderung des neu eingerichteten Kinderunterrichtes. Sie liefert nicht nur dem Statistiker gründliche Materialien, sondern enthält überdieß sehr viel bemerkenswerthes über den Zustand der religiösen Bildung der Jugend, über die Familiennamen und noch andere Verhältnisse. Die Zählung von 1671, welche Antistes Waser leitete, umfaßt beinahe dieselben Gegenstände wie diejenigen von 1634. Die Zählung vom Jahr 1771 wurde von der naturforschenden Gesellschaft in Zürich mit größter Sorgfalt angeordnet. Die neuern Volkszählungen sind, wie beinahe aller Orten, lückenhaft, indem aus Mangel an Interesse oder Geschicklichkeit, manche von denjenigen, welche die Zählung aufnehmen sollten, die Sache mit einem "ungefähr" beseitigten, einzelne Klassen übersehen, oder sie so anführen, daß die nämliche Person an zwei Orten gezählt wird. Bisweilen werden, um es sich bequem zu machen, vermuthliche Zahlen angenommen, und in einzelnen Fällen hat sogar die Gewinnsucht Hirten verleitet, die Zahl ihrer Schafe möglichst zu erhöhen.»
Sorgfalt und Archivierung von Rohdaten helfen bei der Plausibilisierung
Vor 250 und mehr Jahren war man im Zürcher Stadtstaat also exakter unterwegs als zu Lebzeiten Gerold Ludwigs. Dass diese Einschätzung nicht aus der Luft gegriffen ist, kann man heute noch überprüfen. Und zwar dadurch, dass man die Rohdaten (vollständige Familienlisten mit Namen und Geburtsjahren) mit anderen Daten aus derselben Gemeinde (z.B. in den Kirchenbüchern über Taufen, Ehen und Todesfälle) vergleicht und plausibilisiert. Für die Zahlen aus dem frühen 19. Jahrhundert fehlen diese Rohdaten aber in den Archiven weitgehend. Die Nachvollziehbarkeit ist nicht gegeben.
Werden einfach nur Endresultate gemeldet und bei der empfangenden Stelle für bare Münze genommen, dann kann das ins Auge gehen. Man erkennt die Ungenauigkeiten und begrifflichen Unschärfen auch nicht so einfach. Werden jetzt alle Bürger und Hintersassen gezählt, auch diejenigen, die nur alle paar Jubeljahre in der Heimat auftauchen? Oder setzt man auf die Zahl der tatsächlich Anwesenden, die naturgemäss tiefer ist, den tatsächlichen Verhältnissen aber näher kommt.
Wer den Fehler macht, solche Datenerhebungen mit Anreizen zu kombinieren, der muss erst recht mit Verzerrungen rechnen. Sie es, weil die gezählten Untertanen misstrauisch argwöhnen, der Zweck der Erhebung können ja nur ein sinistrer sein, wie neue Steuern und dergleichen. Sei es wie weiland in Indochina. Da wurde eine Rattenplage in Hanoi von der französischen Kolonialverwaltung mit der Ausschreibung von Ablieferungsprämien richtiggehend befeuert. Denn die schlauen Vietnamesen fingen an, Ratten zu züchten, die brachten ja Geld.
Fazit: Bei den Bevölkerungszahlen für Weiach (vgl. Entwicklung im Wikipedia-Artikel Weiach) kann man nicht ausschliessen, dass – bildlich gesprochen – manchmal Äpfel und manchmal Birnen gezählt wurden. Wenn die Bemessungsgrundlagen schwer miteinander vergleichbar sind, dann sind es die erhobenen Zahlen natürlich genauso.
Quelle
- Meyer v. Knonau, G. L.: Der Kanton Zürich, historisch, geographisch, statistisch geschildert. Beschreibung aller in demselben befindlichen Berge, Seen, Flüsse, Heilquellen, Städte, Flecken, merkwürdige Dörfer, so wie der Schlösser, Burgen und Klöster; nebst Anweisung denselben auf die genussvollste und nützlichste Weise zu bereisen. Ein Hand- und Hausbuch für Kantonsbürger und Reisende. St. Gallen 1834 – S. 61 [Schweizerische Nationalbibliothek, e-Helvetica, nbdig-40925].
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