Dienstag, 26. Oktober 2021

Grenzkontrollen und sanitätspolizeiliche Massnahmen

Am 21. Oktober 1721, einem Dienstag, hat die Zürcher Regierung getagt und wieder einmal Seuchenmassnahmen in Sachen Marsilianische Pest erlassen (vgl. die Quellenangaben in WeiachBlog Nr. 1660 für bisher erschienene Beiträge).

Am darauffolgenden Sonntag, d.h. dem heutigen Datum vor genau 300 Jahren, wurde dieser Erlass auf allen Kanzeln im Zürcher Herrschaftsgebiet verlesen. Auch der Weiacher Pfarrer Hans Rudolf Wolf (der 1720/21 die Aufsicht über die an der Grenze platzierte Quarantänebaracke, das sog. Erlufftungshaus inne hatte) dürfte die nachstehend zitierten Zeilen an diesem Tag mündlich ans Volk gebracht haben.


Das Exemplar der Zentralbibliothek Zürich, Signatur: M&P 3:4; auf e-rara.ch

Grussformel

Am Anfang steht, wie in solchen Mandaten der Neuzeit üblich, die Grussformel an die zuhörenden Untertanen:

«Wir Burgermeister und Rath der Stadt Zürich, Entbiethen allen und jeden Unseren Angehörigen zu Stadt und Land / Unseren gönstigen gnädigen Willen / und darbey zuvernemmen;»

Was immer die menschliche Sorgfalt sich ausdenken kann...

Es folgen die Erwägungen, die Bürgermeister und Kleinen Rat zu diesem Mandat veranlasst haben. Sozusagen die Hintergrund-Informationen über den Stand der Bedrohung:

«Demnach durch des Höchsten allweisiste und gerechte Regierung / die in Franckreich nunmehr bey anderhalb Jahr grassierende leidige Pest-Seuche / nach denen von allen versicherten Ohrten von Zeit zu Zeit einlaufenden Berichten / annoch immerhin auf eine sehr ernsthafte Weis wüthet / und je länger je weiter sich ausbreithen thut / so daß so wol inn- als ausserthalb der Eydgenoßschaft (wie man dessen benachrichtet ist) alle ersinnliche Mittel / was immer die menschliche Sorgfalt erdencken kan / diserem so schwehren Land und Leuth außmachenden Uebel zusteuren und solche von sich entfehrnet zuhalten angewendet und vorgekehret werden;»

Dem Übel gesteuert, also etwas dagegen getan, wurde an vielen Orten. Davon bekamen die Schweizer Kaufleute, die sich in den Gebieten westlich und südlich des Zürcher Herrschaftsbereichs bewegten, einiges mit und hatten dort auch ihre Kontakte zu Regierungsstellen.

Auffrischung bisheriger Mandate

Die Zürcher setzten wie von Beginn weg auch weiterhin auf Präventivmassnahmen, um die Seuche von ihrem Gebiet fernzuhalten:

«Wir deßwegen auch / damit vermittlest Göttlich kräftiger Mitwürckung Unser liebes Vatterland hiervor bewahret / und in ohnverrucktem Gesundheits-Stand fehrner erhalten werden möge / für höchst-nothwendig angesehen / Unsere in abgeloffnem 1720ten Jahr / underm 19. Augusti [WeiachBlog Nr. 1510], 9ten Septembr. [WeiachBlog Nr. 1599und 31sten Octobr. [WeiachBlog Nr. 1606errichtet und im Truck publicierten Sanität-Mandat widerum zuerfrischen / etwelcher massen zuerläuteren und zuvermehren /»

Art. 1: Einreise- und Einfuhrsperren gegen Pestgebiete bleiben

«Wollen derowegen  I. Daß so wol in Ansehung der Paß-spehrung / mit denen in Unseren Mandaten und Erkantnussen außgesezten Provinzien und Länderen / als allen anderen in selbigen enthaltenen Puncten und Articlen (welche Wir hiermit kräftigster massen bestäthigen) fleissigest obgehalten / und denselben nachgelebt werde;»

Unter einem Pass wird hier also ein Durchgangstor verstanden, d.h. der Punkt, wo die Strasse die Grenze zum Zürcher Herrschaftsbereich überquert. Als Artikel 2 bis 4 folgen Massnahmen gegen auch sonst prinzipiell unerwünschte Ausländer, insbesondere die Anordnung einer eigentlichen Bettler-Jagd (vgl. Art. 3), wobei diese immerhin nicht gleich erschossen oder totgeschlagen, sondern nur abgeschoben wurden:

Art. 2: Fremde Strolche und Bettler draussen halten

«Und weilen dann  II. Die abhaltung des frömden Strolchen und Betel-Volcks / und anderen verdächtigen liederlichen Gesinds / in vorbesagt Unseren publicirten Sanität-Mandaten / einer der vornehmsten Puncten ist; Als ist deßwegen Unser widerhohlte ernstliche Befehl / und gänzlicher Will und Meynung / daß solchem mit allem Fleiß nachgekommen werde;»

Art. 3: Organisierte Jagd auf Bettler und Strolche

«Wie Wir dann angesehen und geordnet; III. Daß aller Ohrten Unserer Bottmässigkeit eine allgemeine Bettel-Jägi dergestalten gehalten / daß alles und jedes Betel- und Strolchen-Gesind an jedwederem Orth und Bezirck zusamen getriben / und von Wachten zu Wachten / bey Vermeydung hoher Straff und Ungnad / nicht allein gegen den fehlbahren Wächteren / sondern den Vorgesezten der Dörfferen selbst / wofehrn sie die fehlbahre Wächter nicht angeben wurden / aussert Unsere Bottmässigkeit / den nächsten- und Haubt-Strassen nach / sollen außhingeführt werden;»

Art. 4: Prügelstrafe gegen sich einschleichendes Gesindel obendrauf

«In der Meynung / IV. Daß dafehrn eint ald anders Strolchen und Betel-Gesind / auf disere Wahrnung fehrners in Unseren Gerichten und Gebiethen betretten wurde / sie zwaren widerum aus dem Land den nächsten Weg / jedoch mit wolverdienter Züchtigung und versezenden Streichen / weggefertiget / und so dann darunter mehrers verdächtige Leuth sich befinden thäten / dieselbigen alsobald abgesönderet / und verwahrt behalten / und darvon dem unter der Bottmässigkeit des Ohrts gehörigen Ober- oder Land-Vogt Nachricht erstatten werden / deme dann obgelegen seyn solle / je nach befindenden Dingen / die Beschaffenheit der Sach an Uns zuberichten / damit dergleichen gefahrliches Gesind mit gebührender Abstraffung / zum abscheuhen anderer / der Weg verspehret werden möge;»

Art. 5: Erwünschte Reisende, Waren und Vieh brauchen einen Gesundheitspass

«Damit und aber V. Ehrliche reisende Personen und Handwercks-Gesellen / so von unverdächtigen Ohrten harkommen / an ihrem Handel und Wandel nicht gehinderet werden ; so ist Unsere fehrnere Meynung; daß sie nach Anweisung Unserer vorigen Mandaten / mit erforderlichen Sanitäts-Pässen von ihres Ohrts Obrigkeit / allwo sie herkommen / und wo sie fehrners passirt / sollen versehen seyn;»

Bis dahin war das nichts Neues. Auch der Umstand, dass nur bestimmte Routen erlaubt waren, ist keine Neuigkeit: 

«Welche Päß von Unseren verordneten Commissarien / insonderheit von Seithen der Grafschaft Baden zu Otelfingen und Altstätten fleissigest examinirt; und dafehrn solche nicht nach mehrbemelten Unseren vorigen Mandaten eingerichtet / weder gegen Persohnen / Waaren noch Vieh der Durch-Paß gestattet / sonderen Gradenwegs widerum zuruck gewiesen ; ja dafehrn etwas mehrers Verdachts darbey walthete / von ander Leuthen abgesönderet angehalten / und der Casus an Unseren Sanität-Rath expressè benachrichtet werden : Den ohnverdächtigen und recht eingerichtet befindenden Paß- und Sanität-Scheinen aber von Otelfingen aus / sie seyen für Leuth / Vieh oder Waaren / so nacher Schaffhausen gehen wollen / solle die Route über Eglisau ; und nacher St. Gallen / über Winterthur angewiesen / und in die Paß-Schein selbsten verzeichnet werden : Welche aber / namlich Frömde / bedeuter massen mit genugsamen Sanitäts-Zeugnussen versehene Personen durch die Grafschaft anhero zuverreisen gesinnet wären / denenjenigen soll man die Route bey Wettingen über das Fahr auf Altstätten anweisen / daselbsten dann der Commissarius die Päß ordenlich examinieren / dieselben unterschreiben / oder so etwas ohnrichtiges und verdächtiges sich zeigen / fürdersamst anhero berichten.»

Damals lag Zürich-Altstetten noch an der Grenze zur Grafschaft Baden. Oetwil a. d. L., Geroldswil, Weiningen und Dietikon gehörten zur Grafschaft. Das zu Einsiedeln gehörende Kloster Fahr war noch keine Aargauer Enklave mitten in zürcherischem Gebiet. 

Und es scheint fast so, wie wenn die Zürcher auch in Baden selber Kommissäre postiert haben, die den Verkehr vorsortierten. Das ging umso eher, als sie zusammen mit den Bernern ja seit 1712 (dem gewonnenen Zweiten Villmergerkrieg) dort das Sagen hatten.

Art. 6: Es dürfen für den Transit nur Hauptstrassen benutzt werden

«Was fehrners VI. Die übrige Gränz-Ohrt Unserer Bottmässigkeit / als von Seithen Unserer benachbahrten Eydgenössischen Ohrten gegen Cappel / Wedenschweyl / Herrschaft Grüningen und Grafschaft Kyburg ansihet / so erinneren Wir gleichmässig / daß bey Eintrettung diser Unserer Landen die Haubt-Strassen genommen / und von denen angränzenden Wachten / auf die Personen / Waaren und Vieh fleissig gewahret / selbige vorbedeuter massen visitiert / examiniert / die Route den Haubtstrassen nach angewisen / und niemand Verdächtiger hineingelassen werde; Dergestalten daß wofehrn jemand / für sich selbst / oder mit Waaren und Vieh / durch verbottne Weg hinein tringen / und in dem Land herinn / ohne obverdeute Anweisung und unterschribne Päß betretten wurde / ein solcher mit Leib und Gut angehalten / und mehr-vermeldter massen mit ihme verfahren werden solle ; Bey welchem Anlaas dann wol zugewahren sind die Päß zu Eglisau / Rheynau / Feurthalen / Langwisen / Diessenhofen / Stein / Ellg / etc. Auch von Seithen Fischingen gegen dem Hörndli / und Rapperschweil.»

Es fällt auf, dass der Grenzübergang Weyach mit keinem Wort erwähnt wurde. Offensichtlich wurde er nach dem Abbruch des Erlufftungshauses im Sommer 1721 faktisch geschlossen, wenn er im Rahmen des Pest-Regimes überhaupt je vollständig offen war (denn die Route Richtung Zurzach war aus Zürcher Sicht damals keine Hauptstrasse).

Dass es mit dem freien Warenverkehr unter den angeordneten scharfen Kontrollen nicht unbedingt weit her war (und am Kontrollpunkt auch länger gedauert hat als sonst) dürfte klar sein. Immerhin verfuhren die Zürcher mit Eindringlingen aber wenigstens nicht so rabiat wie die Stände des Schwäbischen Kreises (per Totschiessen, vgl. WeiachBlog Nr. 1652). Aber unsanft wurden solche Personen wohl auch von ihnen angefasst.

Art. 7: Was tun, wenn Grenzwächter die Gesundheitspässe nicht lesen können?

«VII. Zum Fahl auch / wie wol zuvermuthen / von den an denen Gränz-Ohrten oder sonsten in dem Land bestelten / oder dem Umgang nach betreffenden Dorf-Wächteren einiche wären / welche die durchreisende Personen / oder ihre Päß / nach erforderen selbsten nicht untersuchen könten / sollen sie selbige des Ohrts Pfarreren oder verständigen Vorgesezten zuführen / und dessen Unterricht erwarten.»

Art. 8: Duldung savoyardischer Kessler. Ausreisende dürfen nicht mehr hinein.

«VIII. Hierbey wollen Wir der Savoyischen Keßleren halben weliche dermahlen würcklich in der Eydgenoßschaft sich befinden / disere Erläuterung gegeben haben; Daß / wofehrn selbige mit ordenlichen Paß-Scheinen / auf beschribene personen gerichtet / versehen sind / sie wol mögen im Land geduldet werden / jedoch daß solche Keßler / so lang ihr Paß gültig und eingerichtet / nicht wider zuruk / weder in Savoyen noch ein ander Orth aussert die Eydgnoßschaft reisen / sondern darinnen verbleiben / widrigen Fals sie gäntzlichen und allencklichen bey schwehrer Leibes-Straff aus unserem Land und Botmessigkeit sollen verbannisirt und außgeschlossen seyn;»

Als Savoyer bezeichnete man damals sog. Landfahrer, d.h. reisende Händler, wobei der Begriff häufig abwertend gebraucht wurde und in die Nähe von Landstreichern rückte. Umso erstaunlicher ist die Duldung des Berufszweigs der Kessler, also von Handwerkern, die selbstgefertigte Geräte aus Kupfer, Messing oder Eisen verkauften und auch Reparaturen ausführten. Sie wurden offensichtlich als vertrauenswürdiger eingeschätzt als andere Fahrende (vgl. Deutsches Rechtswörterbuch).

Art. 9: Vergatterung aller staatlichen Funktionsträger

«Bey allem disem ist  IX. Unser fehrner Befehl an Unsere Untervögt / Richter / Weibel und andere Vorgesezte jedes Orths / daß sie die Rund so Tags so Nachts / (darum sie dann im übrigen wachtfrey sind /) unter sich umgehen lassen und fleissig gewahren sollen / ob die Wächter ihre Pflicht erstatten / da sie dann die Saumseligen gebührend zuleiden erinneret werden / widrigen fals und da von dem einten als anderen Klag einkommen solte / sie die Vorgesezte selbsten hierum zur verantwortung gezogen / und so dann der gebührenden Straff nicht entgehen wurden.»

Dieser Ermahnungs-Artikel unterscheidet sich von demjenigen vom 9. September 1720 (s. WeiachBlog Nr. 1599, nach Art. 9) durch die Präzisierungen zu den Wachtverpflichtungen von Amtsträgern auf lokaler Ebene.

Offensichtlich hatten bewaffnete Patrouillen nicht ausgereicht (vgl. WeiachBlog Nr. 1599, Art. 9 zur bewaffneten Regionalpolizei). Ausserdem führte man nun ja zusätzlich Bettlerjagden durch. Die dabei Einkassierten mussten im Stafettensystem an die Grenzen spediert werden. Dadurch war es ohnehin nötig, die Dorfwachen dauernd im Dienst zu halten. Da die Gemeindeoberen diese im Milizsystem Verpflichteten häufig kontrollieren (bei Tag und bei Nacht) und bei Wachtvergehen eingreifen mussten, waren sie persönlich vom eigentlichen Wachtdienst freigestellt.

Schlussformel und Datierung

«Wir sind der zuversichtlichen Hoffnung / es werde gegenwerthiges Unser neuerrichtetes und erläutertes Mandat / welches die Wolfahrt des Vaterlands so sehr ansihet / in steiffer Beobachtung gehalten / und selbigem gebühr- und pflichtmässig nachgelebt werden / darzu Wir dann jedermänniglich / um sich selbsten vor Schaden und Ungnad zuseyn / bestgemeynt vermahnen thun.

Gegeben den 21. Weinmonat / von der Gnadenreichen Geburt Jesu Christi gezehlt Eintausent / Sibenhundert / Zwanzig und Ein Jahr.

Canzley der Stadt Zürich»

Akzeptanz dank Bettlerjagden?

Die Pestgefahr war weit weg. Es starb im eigenen Umfeld auch niemand daran. Interessant ist daher, wie die Zürcher Regierung das Dauerthema Bettler, Vaganten und Strolche mit den von ihr dekretierten Massnahmen zur Gesundheitsvorsorge verbunden hat. Damit konnte man wohl noch am ehesten auf Akzeptanz für die doch ziemlich aufwändigen Vorkehren hoffen. Denn im Normalfall ist Wachtdienst etwas vom Langweiligsten, was es gibt. Und die Versuchung ist gross, dieser Pflicht nicht nachzukommen. Produktiveres zu tun, als Wache zu schieben, gab es für die meist nicht auf Rosen gebetteten Landbewohner immer.

Quelle

  • Mandat der Stadt Zürich betreffend Grenzkontrollen und sanitätspolizeiliche Massnahmen wegen der Pest in Marseille vom 21. Oktober 1721. Einblattdruck der Stadtschreiberkanzlei. Signatur: StAZH III AAb 1.9, Nr. 5.  Vgl. Schott-Volm, Repertorium, S. 969, Nr. 1481.

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