Ja, sie hat wahrlich bessere Zeiten gesehen, die Fahne des «Gesangverein Weiach» mit dem alten sechszackigen Weiacher Stern und der Jahrzahl 1860 (für den Stern vgl. Weiacher Geschichten(n) Nr. 84). Aber auch wenn sie stellenweise arg vom Zahn der Zeit gezeichnet ist: der zur Sammlung des Ortsmuseums Weiach gehörende, in leuchtenden Farben bemalte Stoff ist gleich zweifach ein greifbares Stück Dorfgeschichte.
Material und Symbol
Da ist zum einen das Material der Fahne: reine Seide. Und es gibt Grund zur Annahme, dass es sich um Seide handelt, die zu grossen Teilen oder komplett in Weiach entstanden ist. Mitte des 19. Jahrhunderts wuchsen bei uns gemäss Ortsbeschreibung 1850/51 Maulbeerbäume, es wurden eine Seidenraupenzucht sowie etliche Webstühle betrieben, auf denen aus den feinen Fäden Stoff hergestellt wurde (vgl. Wiachiana Fontes Bd. 3). Auf der Wildkarte (ebenfalls in diesen Jahren entstanden) findet man für ein Gebäude in der Nähe des Schulareals die Bezeichnung «Seidnhf.» (Seidenhof; vgl. maps.zh.ch) und überdies existieren auch Familienzunamen wie «Seidenrudis» (vgl. WeiachBlog Nr. 941).
Zum andern haben wir den Symbolwert. Die Fahne ist eine Erinnerung an eine lebendige Dorfkultur, die sich auch über die Gemeindegrenzen hinaus Gehör verschaffte, denn gerade Gesangsvereine und die dazugehörenden Sängerfeste (auf Bezirks-. Kantons- und Bundesebene) waren ein wesentlicher Teil der gesellschaftlichen Identitätsbildung in der Eidgenossenschaft des 19. Jahrhunderts, auf einer Stufe mit den Schützen- und Turnertraditionen.
Aufnahme: Zivilschutz GlaStaWei, KGS vom 26.5.2004
Vom Gesangverein zum Männerchor?
In der ersten seiner Gemeindechroniken über die Jahre 1952 bis 1967, die (soweit bekannt) nur als Typoskripte in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich erhalten geblieben sind, schreibt Walter Zollinger:
«Von ganz besonderer Bedeutung war der Sommer 1952 für unseren Männerchor. Er hatte sich eine neue Fahne (die alte stammt aus dem Jahr 1860) vom bekannten Heraldiker Adrian Boller, Kilchberg schaffen lassen. Sie zeigt im blauweissen Zürcherschild den Weiacher Stern, ebenfalls blauweiss geteilt, dazu die Lyra, das Zeichen der Sänger.» (G-Ch Weiach 1952 - S. 12; Bild der Fahnenweihe vgl. WeiachTweet Nr. 1275)
Die Klammer verweist also auf eine Fahne von 1860, die Zollinger als alte Fahne des Männerchors bezeichnet. Was die Frage aufwirft: War der 1891 gegründete Männerchor Weiach (Zollinger 1972, S. 69) eine Nachfolgeorganisation des Gesangvereins Weiach und hat deshalb dessen Fahne geerbt?
Eine weitere Frage: Ist 1860 das Jahr der Fahnenanschaffung bzw. -weihe oder das Jahr der Vereinsgründung? (vgl. WeiachBlog Nr. 792 und 1432)
In der bayerischen Landeshauptstadt gibt es ja «1860 München». Dieser Kurzname des TSV 1860 München ist jedoch nur die Referenz an das zweite Gründungsdatum dieses Fussballklubs, denn offenbar gibt es den Verein bereits seit 1848.
Die Gemeinde zeigte sich sehr spendabel
Dank der kürzlich abgeschlossenen Digitalisierung der alten Ausgaben der NZZ von 1780 bis 1914 können wir nun eine dieser schon vor zehn Jahren gestellten Fragen beantworten. In der Ausgabe vom 30. Mai 1860 findet man nämlich diese Kurzmeldung:
«Zürich. Die Gemeinde Weiach hat dem Männerchor einen Beitrag von 150 Franken an eine Fahne zu verabreichen beschlossen.»
Im Jahre 1860 waren 150 Franken noch sehr viel Geld. Geht es nach dem Historischen Lohnindex (HLI) von Swistoval.ch, wären das heute über 13'000 Franken! Das Prestige, den Weiacher Stern auf einer eigenen Fahne präsentieren zu dürfen, war offensichtlich einen hohen Preis wert.
Starke Indizien: es ist das Anschaffungsjahr
Zollinger schreibt in der Anmerkung 76 seines blauen Büchleins (Weiach 1271-1971, S. 93) zum Gründungsjahr des Männerchors: «Im Ortsmuseum befindet sich zwar eine Fahne von 1860 mit der Aufschrift Gesangverein Weiach, was erkennen lässt, dass schon um die Mitte des letzten Jahrhunderts ein solcher bestanden haben muss.» – Man beachte die vorsichtige Formulierung. Denn hier zeigt sich, dass Zollinger offenbar annahm, der Männerchor habe seine alte Fahne nur geerbt.
Der Verein dürfte also bereits etliche Jahre vorher gegründet worden sein. Was sich zwischen 1860 und 1891 ereignet hat, liegt im Dunkeln, vielleicht ist der Gesangverein bzw. Männerchor damals ebenso eingeschlafen wie sein Nachfolger. Der absolvierte 1989 sein letztes Konzert, der letzte Präsident hat aber erst 2005 die Aktenbestände zur Archivierung vorbereitet (vgl. WeiachBlog Nr. 24).
Quellen und Literatur
- Neue Zürcher Zeitung, Nummer 151, 30. Mai 1860.
- Zollinger, W. (1952): Gemeinde Weiach. Chronik des Jahres 1952. Weiach, Sommer 1954 – S. 12. Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich, Signatur: G-Ch Weiach 1952.
- Zollinger, W. (1972): Weiach 1271-1971. Aus der Vergangenheit des Dorfes Weiach. Druckerei Akeret, Dielsdorf 1972 – S. 69 u. 93.
- Sicherheitszweckverband Glattfelden-Stadel-Weiach, Kulturgüterschutz-Gruppe (Bearb.): Inventaraufnahme im Ortsmuseum Weiach vom 26. Mai 2004. CD-ROM mit Fotos und Inventarblättern.
- Brandenberger, U.: Abgesang auf einen Männerchor. WeiachBlog Nr. 24 v. 24. November 2005.
- Brandenberger, U.: Dorfzeichen, Wappen und Logo. Wie unsere Gemeinde zu ihren Erkennungszeichen kam (Teil 1). Weiacher Geschichte(n) Nr. 84. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, November 2006 - Gesamtausgabe S. 306.
- Brandenberger, U.: Alter der Fahne oder Jahr der Vereinsgründung? WeiachBlog Nr. 792 v. 13. März 2010.
- Brandenberger, U.: Seidenspinnerei im Verlagssystem. WeiachBlog Nr. 861 v. 17. Juni 2010.
- Brandenberger, U.: Eine Lehranstalt für Seidenweberinnen. WeiachBlog Nr. 862 v. 18. Juni 2010.
- Brandenberger, U.: Weiacher Fahnen mit Turnerkreuz, Armbrust und Lyra. WeiachBlog Nr. 1432 v. 4. Dezember 2019.
- Brandenberger, U.: Seidenweberei als staatlich gefördertes Heimwerk. WeiachBlog Nr. 1491 v. 18. April 2020.
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