Das kulturelle Leben einer Landgemeinde war Mitte des 19. Jahrhunderts noch stark durch den Pfarrer und (sofern vorhanden) seine Ehefrau geprägt. Das Verhältnis der jungen Luisa zur Respektsperson Herr Pfarrer war aufgrund der grossen Distanz im sozialen Status nicht so eng wie das zur jeweiligen Pfarrfrau.
Frau Pfarrer Schweizer (bis 1865 in Weiach) hat Luisa Griesser, die als Halbwaise ohne leibliche Mutter aufwuchs, schon früh unter ihre Fittiche genommen. Sie lernte dort das, was junge Mädchen bei ihrer Mutter lernen (beispielsweise Handarbeit). Auch zur Ehefrau des Nachfolgers des unerwartet im Amt verstorbenen Pfarrers Schweizer hatte sie ein enges Verhältnis.
Pfr. Stünzi war bei seinem Amtsantritt im Jahre 1866 noch ledig, muss aber relativ kurz danach geheiratet haben (ähnlich wie Pfr. Schweizer 1855). Die erste Begegnung mit der «new Frau Pfarrer» wird von Louise Griesser Patteson im Detail geschildert (S. 125-127).
Ihren Ausführungen zufolge hat diese Pfarrfrau danach vielfältige Impulse ins kulturelle Leben der Gemeinde eingebracht: «Soon after our new Frau Pfarrer came, some changes took place in our church and village life.» (Patteson, S. 127)
Nachstehend zwei der ihr zugeschriebenen Neuerungen, welche die Kirchenmusik betreffen:
Der letzte Vorsinger und seine Stimmgabel
«Up to the time our new Frau Pfarrer came, the grammar school teacher had led the church singing. He sat just in front of the baptismal font and faced the congregation. After a hymn was given out he took a tuning-fork from his pocket, gave it a shake, then from its vibrations he would catch the correct note and start the hymn, the congregation following.» (Patteson, S. 129)
Es war traditionell der Dorfschullehrer, der das Amt des Vorsingers innehatte. Der letzte, der dieses Amt ausübte, war der Lehrer der Mittelstufe (4.-6. Klasse); gemäss Maurer 1966 muss es sich beim erwähnten Vorsinger um Lehrer Schneider handeln (im Amt ab 1865), der sich für die Übernahme dieser Verpflichtung im Vergleich zu seinen Vorgängern fürstlich entlohnen liess.
Noch 1838 war für das Vorsingeramt gesetzlich eine Mindestbesoldung von 24 Franken pro Jahr vorgesehen. Bis 1864 hatte sich der Ansatz in Weiach bereits bis auf 60 Franken erhöht. Und offenbar war das Amt derart unbeliebt, dass Lehrer Schneider mit 100 Franken entschädigt werden musste (Maurer, S. 5)! Gut möglich, dass diese Entwicklung mit dazu beitrug sich nach Alternativen umzusehen.
Effektvolle Neuerung: ein Harmonium
«Es war am 3. Juni 1866, als der Stillstand nach vollendetem Gottesdienst zusammentrat. Der Präsident überraschte die Kirchenpfleger mit dem Vorschlag, für die Kirche Weiach ein Harmonium anzuschaffen.» (Maurer, S. 5)
Maurer erweckt hier den Eindruck, dass der Impuls für die Anschaffung eines Harmoniums von Kirchenpflegepräsidenten kam. Folgt man allerdings Patteson, dann scheint der Anstoss eher von Seiten der Pfarrfrau gekommen zu sein:
«The first of Frau Pfarrer’s innovations was a harmonium. It resembled a large flat-topped desk, but was really a church organ. Frau Pfarrer played it at both the church and Sunday School services to the great delight of us children. But we were not the only ones who delighted in that organ. Men who had not been inside of a church for years now became regular attendants.» (Patteson, S. 129-130)
Es sei nun dahingestellt, ob die höhere Bereitschaft der Männer zum Gottesdienstbesuch den musikalischen oder doch eher den optischen Qualitäten der Pfarrfrau geschuldet war.
Vom Kirchenschiff auf die Empore
Nach den Aufzeichnungen von Maurer bildete sich nach der Stillstandsversammlung vom 3. Juni eine Harmoniumkommission, welche Anfang September in der Kirche Dielsdorf ein dort neu aufgestelltes Instrument hörte und sich offenbar für ein solches Modell entschied. (Maurer S. 5)
Da die Ermächtigung der Kirchenpflege zur Kreditaufnahme von 1200 Franken für ein Trayser-Harmonium gemäss Maurer aber erst am 20. Dezember 1866 erteilt wurde, dürfte die Anschaffung und das erste Erklingen des neuen Instruments in die ersten Monate des Folgejahres (1867) gefallen sein.
Interessanterweise wird der von Patteson geschilderte Umstand, dass Frau Pfarrer Stünzi das Harmonium gespielt und damit den Gottesdienstbesuch wesentlich attraktiver gemacht habe, von Maurer überhaupt nicht erwähnt. Nach seinen Ausführungen übernahm der bisherige Vorsinger die Organistenstelle: «Lehrer Schneider spielte bis Mitte 1867 das Harmonium und wurde durch Lehrer Müller abgelöst, der bis 1878 den Dienst versah.» (Maurer, S. 6)
Quellen und Literatur
- Patteson, S. L.: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 127, 129-130.
- Maurer, E.: Eine neue Orgel für die Kirche Weiach. Kirchenpflege Weiach. Weiach, 1966. 11 S.
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