Donnerstag, 2. Juli 2020

Unfähige Lehrer zu Dutzenden in den Ruhestand versetzt

Am Dienstag, 30. Juni hat WeiachBlog ein Lob des aus dem Württembergischen stammenden Schulreformers Ignaz Thomas Scherr für die Stadler und Weiacher zitiert, das die beiden Gemeinden fünf Jahre nach den Unruhen des Stadlerhandels von 1834 rehabilitierte (vgl. WeiachBlog Nr. 1536).

Die Schulpflege Weiach hatte der Bezirksschulpflege im Anschluss an die tumultartig verlaufene Gemeindeversammlung vom 30. November 1833, bei der u.a. das im Vormonat aufgegleiste Schulhausprojekt bachab geschickt wurde, die Rückmeldung gegeben, dass «die Lehrer selbst nicht die gehörige Kenntniß besizen» würden, um die neuen Lehrmittel richtig einzusetzen und daher auch «nicht die erwünschte Frucht davon einzuerndten» sei. (Protokoll der Schulpflege zu Weÿach, 1831-1852 – S. 9)

Man muss das schon als eine Art Hilferuf werten. Der damalige Weiacher Schulmeister hatte es offensichtlich nicht so ganz drauf, um es einmal etwas plakativ zu formulieren und auch der ihn beaufsichtigende, 1833 schon relativ altersschwache Weiacher Pfarrer Johann Heinrich Burkhard (61), hatte – trotz seines Amtes als Bezirksschulinspektor (das er seit der Helvetik im Jahre 1802 im damaligen Grossbezirk Bülach (inkl. heutiger Bezirk Dielsdorf) bekleidete) – entweder nicht mehr genug Einfluss auf seine Gemeinde oder gar selber insgeheim Zweifel an den neuen Lehrmitteln.

Wie sich das Misstrauen gegen den neuen Lehrplan entwickelte

So sieht es zumindest Scherr, der in seinem «Handbuch der Pädagogik» ab S. 267 folgende Zeilen einrückte:

«Fast gleichzeitig mit den Schulbüchern für den Sprachunterricht wurde eine Sammlung biblischer Geschichten, ein biblisches Spruchbüchlein von Seminarlehrer Dändliker, ein religiöses Liederbüchlein von Kirchenrath Vögelin, das Gesangtabellenwerk und das Schulgesangbuch von Nägeli eingeführt. Diese neuen Lehrmittel, deren Inhalt und Zweck das Volk nicht verstehen konnte, die neue Methode, welche das Buchstabiren ausschloß und das Schreiben mit dem ersten Leseunterricht verband, erregte im Volk großes Aufsehen. Durch Jahrhunderte  waren ihnen der Lehrmeister, der Katechismus und das Testament als die besten Schulbücher geheiligt worden. Es schien ihnen ein Abbruch in der religiösen Bildung, wenn diese Bücher nicht mehr als Schulbücher gebraucht würden. Die Wörter und einfachen Sätze, welche in den elementarischen Sprachübungen vorkamen, und sich zunächst auf die gewöhnlichen Dinge im Leben beziehen, waren ihnen nicht nur höchst lächerlich, sondern ganz unwürdig für die Schule. Zuerst scherzten und spotteten sie über die Hausthiere, die auf den Sprachtabellen vorkommen. Als es aber mit der Sache ernst wurde, und die kleinen Kinder wirklich solche Sätze lesen und schreiben lernten, die kirchlichen Lehrsätze und anderer religiöser Stoff nicht mehr einzig als Gedächtnißübungen benutzt wurden: da verbreitete sich Besorgnis und Kummer in vielen Ortschaften und Familien. Wo der Lehrer, der Pfarrer, oder andere verständige Männer Einfluß hatten, und wo gute Fortschritte der Kinder die Zweckmäßigkeit der Methode bezeugten, da legte sich bald die Unruhe, und Eifer und Freude trat an die Stelle des Mißtrauens; wo aber der Lehrer selbst nur in der Schulverbesserung eine höhere Besoldung suchte, über die stärkern Forderungen unzufrieden war, von den Lehrmitteln eine verkehrte Anwendung machte; wo der Geistliche die ganz neue Ordnung der Dinge, und namentlich das neue Schulwesen mit schelem Blicke ansah, und durch zweideutige, besorgliche Aeußerungen die Unruhe unter dem Volk noch vergrößerte; wo überhaupt in einer Gemeinde verständige Männer keinen Einfluß hatten: da mußte endlich die Spannung in offene Widersetzlichkeit übergehen. Die geschah zunächst in dem Bezirke Regensberg, und zwar hauptsächlich in den Gemeinden Stadel, Bachs und Weiach.»

Stadler und Raater Mob randaliert

Es folgt eine Darstellung der Ereignisse des eigentlichen Stadlerhandels aus Sicht der Schulreformer um Scherr.

Zitiert wird ein Brief des Stadler Pfarrers vom 15. Mai 1834 an den Erziehungsrat. Darin schildert er die dramatischen Ereignisse zuerst in Raat (wo die neuen Schulbücher im Schulhaus herumgeworfen worden seien und man kein Kind mehr in die Schule geschickt habe) und kurz darauf in Stadel (wo ein Mob von 200 Leuten den Pfarrer dazu gezwungen habe, das Schulhaus zu öffnen, die neuen Lehrmittel daraus entfernte und sie dem Lehrer vor das Haus geworfen habe, dann die Schule abschloss und den Schlüssel mitnahm).

Daraufhin erfolgte die Konfrontation der Aufständischen mit einer Polizeieinheit, welche die Zürcher Regierung im Eilverfahren nach Stadel abkommandiert hatte, um den Aufruhr mit geeigneter Interventionsstrategie unter Kontrolle zu bringen. Dies gelang nach Darstellung Scherrs dadurch, dass der Kommandant dieser Landjäger-Truppe eine gute Mischung aus Verhandeln und Drohkulisse zustande brachte. Weil sich gleichzeitig die konservativen Drahtzieher des Aufruhrs, die aus dem Verborgenen die Fäden gezogen hatten, feige verdünnisierten, und damit die dörflichen Wortführer im Stich liessen, wurden diese zwar verhaftet und nach Zürich gebracht, letztlich aber selbst die Anführer nur milde bestraft.

Dieses Vorgehen trug dazu bei, dass sich auch die Stadler und Weiacher relativ rasch zu einer neuen Sicht der Dinge durchringen konnten (Kommentar WeiachBlog: zumindest nach aussen hin, wohl um der Staatsmacht nicht noch mehr Anlass zum Durchgreifen zu bieten).

Mit eisernem Besen den Lehrkörper ausgemistet

Die Regierung in Zürich liess dem polizeilichen Durchgreifen weitere Taten folgen und schrieb am 22. Mai 1834 an den Erziehungsrat:

«Nach Annahme eines vom Statthalteramte Regensberg unterm 17. Mai erstatteten Berichts über die in Stadel stattgehabten Vorfälle hat der Regierungsrath nebst andern Verfügungen beschlossen, den Erziehungsrath einzuladen, unter gegenwärtigen besonders dazu geeigneten Umständen dafür zu sorgen, daß die Schulgesetze in allen Gemeinden, welche befähigte Lehrer haben, vollständig ins Leben treten.»

Scherr zeigt auf, dass das angesprochene Gremium daraufhin nicht lange fackelte:

«Diese Zuschrift des Regierungsrathes war dem Erziehungsrathe eine sehr erwünschte Mahnung. Zunächst beschloß er, die Lehrer in Stadel, Bachs, Windlach, Weiach und Rath sollten unverzüglich vor einer Prüfungskommission erscheinen, insofern sie nicht ihre Entlassung einreichen wollten. Alle fünf Lehrer wurden in den Ruhestand versetzt und kräftige Seminarzöglinge auf diese Stellen abgeordnet.»

Leider wird hier nichts darüber gesagt, ob die Schulmeister aus dem Norden des Bezirks Regensberg in der Folge durch die Prüfung gerasselt waren, oder es vorgezogen haben, gleich ihren Rücktritt einzureichen.

Das war aber nur der Anfang, denn nach einem weiteren Beschluss des Erziehungsrates vom 17. Juni 1834 musste nun jeder Lehrer im Kanton zu einer Prüfung antraben, die auch eine Probelektion vor seinen Schülern umfasste. Tat er dies nicht, verlor er jeglichen Anspruch auf Pensionszahlungen. Von rund 400 Lehrkräften wurden 75 noch im Herbst desselben Jahres 1834 in den Ruhestand versetzt und damit aus dem Schuldienst entfernt. Diese Massnahme sei als «zu hart, zu rasch, sogar als despotisch» kritisiert worden. Das sei aber leider dennoch sehr nötig gewesen, meint Scherr und schildert die Missstände in drastischen Worten:

«Um aber richtig zu urtheilen, mußte man die Erfahrung haben, welche Leute im Jahr 1834 im Kanton Zürich noch als Schulmeister figurirten. Man wird es nicht glauben, und doch ist es wahr, daß einige derselben kein Geschriebenes lesen konnten, daß Einer förmlich erklärte, er wisse nicht, das auf der Wandtafel deutlich Geschriebene zu lesen, er habe noch nie so etwas gesehen; daß ein Andrer ganz offen gestand, er habe kein Buch im Hause, sein Vater habe ihm zwar noch eine Bibel hinterlassen, die jedoch seit vielen Jahren nicht mehr geöffnet worden sei, weil ihm vom Lesen die Augen wehe thun. Mehrere waren nicht im Stande, nur vierstellige Zahlen anzuschreiben. Am meisten aber mußte auffallen, daß in einer Zeit, die man wegen ihrer religiösen Gläubigkeit besonders rühmt, sehr viele Schulmeister angestellt waren, die von der biblischen Geschichte, ja sogar von der Lebensgeschichte Jesu nur äußerst dürftige Kenntnisse hatten; die Namen Luther und Zwingli waren unbekannte Namen. Ueber Realkenntnisse durfte man kaum prüfen, weil die lächerlichsten Antworten selbst die Kommissionsmitglieder hätten aus der Fassung bringen können. So behauptete einer ganz bestimmt, die drei Eidsgenossen müssen sein: Kaspar, Melcher und Balthasar; ein Anderer: in der Schlacht bei Sempach sei Goliath ums Leben gekommen; ein Dritter: Basel liege am Meer; ein Vierter: die Thiere werden eingetheilt in Säugethiere, Vögel und anderes Vieh u.s.w.»

Man muss aber festhalten, dass es durchaus ältere Lehrer gab (nach Scherr mehr als 20), bei denen die Kommission die höchste Note «sehr fähig» beantragen konnte!

Seminaristen an die Front

Um die vielen Abgänge zu ersetzen und die entstandenen Lücken raschmöglichst zu schliessen, liess der Erziehungsrat kurzerhand die Seminaristen in die Hosen steigen: «Aeltere, an Bildung vorgerücktere Zöglinge mußten in der Regel nach einjährigem Kurse als Schulverweser Dienste leisten

Einer dieser blutjungen Seminaristen, der in diesem denkwürdigen Jahr 1834 in Weiach Schuldienst leistete, tat sich im späteren Verlauf seines Lebens als Kolonist und Naturforscher in Südostasien hervor. Doch davon in einem späteren Beitrag.

Quelle

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