Dienstag, 31. Januar 2023

Vom Höbrig kamen prämierte Schweine (Heute vor 125 Jahren)

Die NZZ, das steht für Hochfinanz, globalisierte freisinnige Abgehobenheit aus der Weltstadt an den Gestaden des Zürichsees. Landwirtschaftlich-kleinteilige Notizen würde man in diesem Blatt kaum erwarten. Heute vor 125 Jahren hingegen fand man in die dritte Ausgabe des Tages eingerückt die Rubrik «Landwirtschaft».

Dieser konnte die geneigte Leserschaft das Nachstehende entnehmen:

«Die Zürcher kantonale landwirtschaftliche Kommission hat für das Jahr 1897 an die Zuchtstierhaltung im Kanton 870 Fr. und an örtliche Viehprämierungen 800 Fr. Beitrag beschlossen. In der ersten Kategorie erhielt den höchsten Preis die Viehbesitzerkorporation Regensberg (100 Fr.), in der zweiten Kategorie figurieren mit diesem Preisansatze die landwirtsch. Vereine Schönenberg und Wädensweil sowie die Viehbesitzerkorporation Hombrechtikon. 

Das Preisgericht für die Prämierung der Schweinezucht, Schweinehaltung und Schweinestallungen im Kanton Zürich sprach für das Jahr 1897 20 Prämien im Gesamtbetrag von 750 Fr. Die ersten fünf Prämien (je 60 Fr.) erhielten Ulrich Goll, Jungholz-Goßau, Jakob Ott, Eidberg-Seen, Hrch. Hofstetter, Knonau, Gebr. Schenkel im Berg Weiach und Heinrich Schmid i. d. Gusch Oetweil a. S.»

Ministädtchen mit Spitzenrang

Man notiere den Umstand, dass ausgerechnet eine Kleinstadt (!) wie Regensberg die Zürcher Nummer 1 in Sachen Viehhaltung war. Verwunderlich ist das dennoch nicht. Denn es war in unserer Gegend seit der Gründung dieser Städtchen im Hochmittelalter so, dass sich auch die Kleinstädter für ihren Lebensunterhalt auf Subsistenzlandwirtschaft stützten. Die Kaiserstuhler waren den Regensbergern in diesem Punkt vergleichbar. Auch sie hielten Vieh und durften dieses auf dem Gebiet der Hohentengener, Fisibacher und Weiacher weiden lassen.

Die prämierten Schweinezüchter hingegen stammen laut NZZ durchwegs aus Dörfern und Weilern nichtstädtischen Charakters. Die Prämie der fünf Bestplatzierten von 60 Franken hätte, gemessen am Historischen Lohnindex (HLI) von Swistoval.ch, in etwa dem Gegenwert von 2700 Franken entsprochen (Stand 2009; spätere Jahre sind nicht verfügbar).

Welcher Berg ist gemeint?

Schenkel im Berg zu Weiach, also. Aber welcher Berg? Immerhin gab es zu dieser Zeit (vgl. auch die Wild-Karte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts) gleich mehrere höhergelegene Einzelgehöfte, denen man den Namen «Höhberg» zuwies: 

  • den noch 1834 als «Homberg» bezeichneten «Höhberg beim Stocki» am Sanzenberg, heute «Höbrig» genannt, und
  • die Häuser an der heutigen Bergstrasse, angefangen mit der Nr. 13 (Liegenschaft Bryner) über die Nr. 31 (Liegenschaft Graf), wo die geschlossene Siedlungszone endet, bis auf die gewellte, höhergelegene Landschaft mit den Höfen Vorder Berg (Bergstr. 36, ehem. Liegenschaft Buckley) und Hinter Berg (Bergstr. 40).

Für die Einheimischen war das keine Frage. Sie wussten auch so, dass mit den Gebrüdern Schenkel im Berg, nur der Hof am Sanzenberg gemeint sein konnte. Denn die südöstlicher gelegenen Höfe gehörten den Schmid, etc. Aber keinem Schenkel.

Wir Heutigen können das nachvollziehen, indem wir die alten Gebäudeversicherungs-Lagerbücher und dort die Einträge aus der Zeit zwischen 1890 und 1900 konsultieren. Denn da sind auch die Eigentümer aufgeführt. Womit man für 1895 auf ein Wohnhaus mit Scheune, Stall, Schopf und Schweinställen sowie Wagenschopfanbau stösst, das die Nummer 166 trug: den Höbrig-Hof.

Die letzten landwirtschaftlich aktiven Bewirtschafter auf dem Höbrig waren Max (1938-2018) und Dorli Schenkel-Gabathuler (1944-2022). Seither wird der Hof im Pachtverhältnis von einem anderen Weiacher Landwirt weitergeführt.

Quellen

  • Lagerbuch Weiach Nr. 2 (1895-1954) der Gebäudeversicherung des Kantons Zürich, Exemplar Gemeinde. Signatur: PGA Weiach IV.B.06.02.
  • Neue Zürcher Zeitung, Nummer 31, Zweites Abendblatt v. 31. Januar 1898, S. 2
  • Todesanzeigen Schenkel-Gabathuler.
[Veröffentlicht am 1. Februar 2023 um 00:51 MEZ]

Sonntag, 29. Januar 2023

Zur Ersten Zürcher Disputation heute vor 500 Jahren

Der wohl schillerndste Walliser aller Zeiten, Kardinal Matthäus Schiner, wäre Anfang 1522 der erste und einzige Papst aus dem Gebiet der heutigen Eidgenossenschaft geworden. Wenn er denn nicht einen mächtigen Gegner gehabt hätte, dem er in den Jahren zuvor (vor Marignano) im Kampf um die Vorherrschaft in Norditalien ins Gehege gekommen war: der König von Frankreich. Der setzte gegen Schiners Wahl alle Hebel in Bewegung.

So gelangte am 9. Januar 1522 der bislang einzige Niederländer auf den Papstthron: Hadrian VI., mit bürgerlichem Namen Adriaen Floriszoon Boeiens. Dieser Papst hatte es in seiner kurzen Amtszeit (er starb bereits Mitte September 1523) wahrlich nicht einfach.

Luther und die Folgen

Denn in der katholischen Kirche gab es einen gefährlichen Schwelbrand, der seine Ursache in einer Multikrise hatte, die zu schweren Legitimationsproblemen führte. Seit spätestens 1517 war Feuer im Dach. Der Reformator Martin Luther und seine 95 Thesen mischten das Heilige Römische Reich Deutscher Nation auf. Luther wirkte zu allem Übel hin auch noch höchst ansteckend. 

So in Zürich, wo ab Anfang 1519 der Leutpriester Huldrych Zwingli seine Wirkung entfaltete. Er war von allem Anfang an anders als die damals üblichen Geistlichen. Denn er verlagerte die Predigt in den Mittelpunkt des Gottesdienstes, legte darin das Evangelium nach dem Wortlaut der Bibel aus und stellte dadurch sukzessive massgebliche Stützen des bisherigen Systems fundamental infrage.

Zu viele Missstände in der römisch-katholischen Praxis

Hadrian, der aus einfachen Verhältnisse stammte (sein Vater war Schiffszimmermann in Utrecht) war das nur allzu bewusst. Er war eigentlich ein Gelehrter, einer, der wider Willen ins Amt gehievt wurde und sich dort gleichsam von Wölfen umgeben sah (vergleichbar mit Benedikt XVI.).

Mit dem Mut der Verzweiflung versuchte er, die drohende Kirchenspaltung noch abzuwenden. Dazu leitete er eine tiefgreifende Reform der Kirche ein. Insbesondere schränkte er den überbordenden Luxus der klerikalen Hofhaltung ein. Weiter stellte er Regeln für die Erteilung von Ablässen und die Zuteilung von Pfründen (d.h. letztlich gegen Simonie) auf. Alles Punkte, wo die gelebte Praxis besonders in deutschen Landen weitherum heftigster Kritik ausgesetzt waren.

Er ging sogar so weit, am 3. Januar 1523 durch seinen Legaten auf dem Reichstag in Nürnberg ein Schuldbekenntnis verlesen zu lassen, in dem es hiess, Gott lasse diese heftigen Turbulenzen geschehen «wegen der Menschen und sonderlich der Priester und Prälaten Sünden» (zit. n. Wikipedia-Artikel Hadrian VI). Ein bemerkenswerter Akt der Demut.  

Fast zur selben Zeit versuchte er auch Zwingli zu besänftigen, indem er ihm am 23. Januar 1523 einen Brief schrieb. Er dürfte aber auch via den Fürstbischof von Konstanz, Hugo von Hohenlandenberg, bereits 1522 massiv Druck aufgesetzt haben, um diese ganzen Ketzereien zu unterbinden, die da unter anderem von Zwingli verbreitet wurden. -- Alles letztlich vergeblich, weil viel zu spät.

Zwinglis 67 Artikel

Der Vorwurf, der Kirche gehe es primär ums Abkassieren und das eigene Wohlergehen, der war aus vielen Köpfen auch in Zürich nicht mehr herauszubringen, weil die Missstände jedermann in die Augen springen, der sie sehen wollte.

Auch Zwingli hat ein Thesenpapier verfasst, worin er in 67 Punkten unter anderem den Zölibat frontal angriff, indem er die Bigotterie anprangerte, die Hadrian mit dem Hinweis auf die Sünden der Priester und Prälaten sicher auch gemeint hat:

49. Grösser verergernus weiß ich nit, denn das man den pfaffen ewyber haben nit nachlaßt, aber huoren haben umb geltz willen vergündt.

Eine sehr berechtigte Frage, die bis heute zu Irritationen führt. Es gebe kein grösseres Ärgernis, so Zwingli, als dass ein Priester keine Ehefrau haben dürfe. Lieber toleriere die Kirche den Besuch von Prostitutierten (oder gar heimliche Beziehungen samt Nachwuchs).

Ablasshändler sind Abgesandte des Teufels

Selbstverständlich kommt auch der Ablass für Sünden (von Wanderpredigern wie Johann Tetzel nach dem Motto «Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt» quer durch die deutschen Lande einnahmenwirksam beworben) in den Thesen vor.

53. Uffgelegte buoßwerck kummend von menschlichem radtschlag - ußgenummen den bann -, nemend die sünd nitt hin, werdent uffgelegt andren zuo eim schrecken.

54. Christus hatt all unser schmertzen unnd arbeit getragen. Welcher nun den buoßwercken zuogibt, das allein Christi ist, der irt und schmächt gott.

55. Welcher einerley sünd den rüwenden menschen nachzelassen verhieltt, were nit an gottes, noch Petri, sunder an des tüfels statt.

56. Welcher etlich sünd allein umb gelts willen nachlaßt, ist Simons und Balaams gesell und des tüfels gentlicher bott.

Das sind die Thesen 53 bis 56, deren Inhalt sich so zusammenfassen lässt: Die Kirchenhierarchie regiere mit Angst und Schrecken. Ein Sündenerlass hingegen stehe einzig Gott und seinem Stellvertreter Jesus Christus zu und nicht einem Geistlichen. Schon gar nicht, wenn damit eine Geldzahlung verbunden sei. Wer solche Praktiken dennoch ausübe, der müsse als ein Bote des Teufels gesehen werden. Denn er begehe Gotteslästerung. 

Weil Ablässe vor allem mit kürzerer Leidenszeit der Verstorbenen verkauft wurden, haben die Reformatoren später dann auch noch die Lehre vom Fegefeuer beerdigt, ein Dogma, das übrigens auch die Orthodoxen Kirchen des Ostens nicht akzeptieren.

Aufruhrpotential unter Kontrolle behalten

Von diesen kirchlichen Fragen zu den weltlichen in unserer Umgebung. Die Regierung des Zürcher Stadtstaates hatte zu diesem Zeitpunkt neben diesen theologischen Streitfragen noch mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. 

Mit dem Debakel von Marignano war im September 1515 eine rund 40-jährige Phase zu Ende gegangen. Seit den glanzvollen Siegen in den Burgunderkriegen über Karl den Kühnen hatte die eidgenössische Führungsschicht in der obersten Liga der europäischen Machtpolitik mitgemischt und musste sich nun neu sortieren. 

Unter der Landbevölkerung war die Unzufriedenheit jedenfalls beträchtlich. Bereits 1513 erhoben die Zürcher Untertanen vielfältige Forderungen und in den Vorweihnachtstagen des Jahres 1515 stürmte ein durch Gerüchte aufgestachelter Mob gar die Stadt, plünderte dort Geschäfte und Marktstände, weshalb diese Unruhen auch als Lebkuchenkrieg bezeichnet werden.

Damit waren die Zürcher nicht allein, wie man dem Historischen Lexikon der Schweiz entnehmen kann. Dort werden auch die tieferen Ursachen der Unzufriedenheit der bäuerlichen Bevölkerung erläutert:

«Gegen Ende des 15. Jahrhunderts und zu Beginn des 16. Jahrhunderts erhöhten die Territorialisierung und Herrschaftsintensivierung, die Spezialisierung und Kapitalisierung der Landwirtschaft sowie die soziale Ausdifferenzierung das Konfliktpotential auf der Landschaft und verschärften den Kampf um die Ressourcen, der zum Beispiel in den Jahren 1513-1516 (Könizer Aufstand, Luzerner Zwiebelnkrieg, Zürcher Lebkuchenkrieg) verschiedenenorts ausbrach.»

Ein Papsttreuer und ein Ketzer im selben Bett?

Einer der Kriegsteilnehmer von Marignano war der Leutpriester Zwingli, der dort zum vehementen Gegner von jeder Art von kriegerischem Abenteuer wurde, insbesondere wenn es um Solddienst ging. Damit machte er sich die Militärunternehmer (die fremden Fürsten solche Truppenkontingente zur Verfügung stellten) zu Gegnern. 

Besonders pikant: in seinen 67 Thesen lehnte Zwingli auch das Papsttum ab (These 17). Gleichzeitig galt die Stadt Zürich als sehr papsttreu. Das hatte 1517 massgeblich zur Ernennung des Zürcher Bürgermeister Marx Röist (1454-1524) als zweitem Kommandanten der Päpstlichen Schweizergarde geführt. Aufgrund seines schon bei der Ernennung hohen Alters hat er die Position nie bekleidet, sondern sie seinem Sohn Caspar Röist übertragen, der 1527 beim Sacco di Roma ums Leben kam.

Wie die Verteidigung einer Doktorarbeit

Besonders die Dominikaner (denen das Predigerkloster gehörte) warfen Leutpriester Zwingli offen Ketzerei vor und handelten damit auch im Einverständnis sowohl des Fürstbischofs von Konstanz, des Papstes wie auch anderer geistlichen Gemeinschaften, denn die Thesen Zwinglis forderten letztlich, mit dem ganzen Klosterwesen radikal aufzuräumen. Von den theologischen Fragen abgesehen gingen seine Forderungen damit direkt ans Eingemachte, auch bezüglich des Besitzstandes.

Und nun kommt der interessanteste Schachzug, dessen erster Akt am heutigen Datum vor 500 Jahren sozusagen über die Bühne gegangen ist. Vor, wie überliefert wird, nicht weniger als 600 Zuhörern. Wie die übrigens an einem Januartag alle in den Zürcher Ratssaal hineingepasst haben sollen, darüber darf spekuliert werden. 

Bildquelle (nach reformiert-zuerich.ch): ZB Zürich, Ms. B 316, fol. 75v (Die Handschrift ist 1605/06 entstanden, die Buchmalerei wohl zeitgleich od. später)

Zwingli machte mit dem Rat gemeinsame Sache, indem dieser seinen Vorschlag aufnahm, ihn seine Thesen - wie an Universitäten des Abendlandes seit dem Hochmittelalter üblich - in Form einer Disputation verteidigen zu lassen. Und zwar auf Deutsch. Nicht etwa in der unter Theologen damals üblichen Gelehrtensprache Latein.

Diese Art von öffentlicher Auseinandersetzung wurde zum Modell, das man in vielen anderen Städten kopiert hat und das beispielsweise im Berner Herrschaftsgebiet ebenfalls zur Reformation geführt hat (vgl. den HLS-Artikel Disputationen).

Sola scriptura. Die einzige Waffe im Duell

Die 67 Thesen sind der Einladung zur Disputation entsprechend auf deutsch und so verfasst, dass sie wie eine Herausforderung zum Duell daherkommen. Ihr Verfasser stellt sie in den Raum und fragt, ob jemand etwas dagegen einzuwenden habe. Zu dieser Disputation luden Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich alle Kleriker aus ihrem Herrschaftsbereich ein (vgl. Kopie des Mandats der Ausschreibung im Ratsmanual).

Der Haken an der Sache (aus Sicht der Kleriker): Tradition, päpstliche Erlasse und Konzilienbeschlüsse sind in dieser Übungsanlage auf dem Kampfplatz nicht zugelassen. Verlangt war sola scriptura. Heisst: Nur die Bibel als Widerlegungsinstrument. 

Die Frage an diesem Tag war also: Wer wagt bzw. schafft es, den Zwingli nur mit den Waffen des Evangeliums, d.h. der Bibel in der Hand, als Ketzer zu überführen?

Generalvikar Fabri kalt geduscht

Laut Prof. em. Peter Opitz, ehemaliger Leiter des Instituts für Reformationsgeschichte an der Universität Zürich (vgl. den ERF-Beitrag), hatten die Gegner Zwinglis kaum Zeit und Raum ihn zu widerlegen. Man sei nicht über die ersten beiden Thesen hinausgekommen und bereits nach der Mittagspause (also nach rund 4 bis maximal 5 Stunden) hätten Bürgermeister und Rat verlauten lassen, Zwingli sei nicht widerlegt worden und man werde ihn deshalb weiter predigen lassen.

Den Abgeordneten des Fürstbischofs von Konstanz, namentlich seinem Generalvikar Johann Faber, wurde damit sozusagen eine kalte Dusche verpasst. Ob der so Düpierte deswegen im selben Jahr seinen «Ketzerhammer» veröffentlicht hat? 

Für Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich (im Januar der Natalrat) war das eine reine Regierungsangelegenheit der Stadt, weshalb diese erste Manifestation der engen Verschränkung von Theologie und Stadtpolitik auch im Ratsmanual eingetragen wurde. Und zwar zuerst die strittigen Thesen Zwinglis, dann das Mandat mit der Ausschreibung der Disputation (StAZH B VI 249 (S. 5 a - 5 b)) und schliesslich der Ratsbeschluss, der das aus Sicht des Rates gültige Ergebnis festhielt (StAZH B VI 249 (S. 5 b - 6 b)).

Weil der Bischof nicht vorwärtsgemacht hat

In diesem Beschluss (vgl. nachstehend den vollen Wortlaut) rechtfertigen die Zürcher Machthaber auch, weshalb sie gezwungen gewesen seien, die Sache selber in die Hand zu nehmen. Weil nämlich - so der Vorwurf - die Bistumsleitung trotz bereits Monate zuvor getroffener Vereinbarung, dass seitens des Bistums Konstanz eine der heutigen vergleichbare bistumsweite Versammlung einberufen werden solle, nichts passiert sei. Da aber in der Stadt Zürich die Stimmung mittlerweile in derart untragbarem Ausmass vergiftet worden sei, habe man sich zu der heutigen Ersatzvornahme gezwungen gesehen.

Abscheyd unnd beschlusß obgemelter artickel und disputation, von eim ersamen rath zuo Zürich jüngst ußgangen. [Text laut Corpus Reformatorum 88]

Als dann ietz verschinen jars [1522] unnd bißhar vil tzwittracht unnd tzweyung sich erhept tzwüschen denen, so an der kantzel das gotzwortt dem gmeinen menschen verkündt, ettlich vermeint das euangelium trüwlich gepredigett haben, andre habents geschulten, als ob sy nit geschickt oder formlich gehandlott unnd dargegen ouch die andern wydrumb die als ferfuerer unnd ettwann ketzer genempt, die aber allweg mit göttlicher geschrifft einem ieden des begerenden bescheid ze geben sich erbotten etc., so nun gar nach ein jar vergangen unsers gnädigen herren von Costantz [d.h. der Fürstbischof] erwirdig pottschafft söllicher sachen halb in der statt Zürich vor einem burgermeister, clein unnd großem radt gewesen unnd hiervon allerley geredt worden ist, dann ze mal verabscheidett, das unser gnädiger herr von Costentz darann sin wölte, in sim bisthuomb die gelerten - darzuo ann den andern anstossenden bisthuomen - unnd prelaten, predicanten zuo berueffen, radten, helffen unnd mit denselben handlen, darmit einhelliger beschluß beschehe unnd menglich sich wüßte ze halten; so aber bißhar von unserm gnedigen herren von Costantz, villicht uß merglichen ursachen, nützytt deßhalb besunders vollendett ist unnd die widerwertigkeitt sich für unnd für unnder geistlichen unnd weltlichen erhept, daruff habent ein burgermeister, radt und der groß radt, so man nempt die tzweyhundertt der statt Zürich, in dem namen gottes umb fryden unnd cristenlicher einhelligkeitt willen disen tag angesetzt unnd zuo dem unsers gnädigen herren von Costantz lobwirdig pottschafft vermögen, des sy iren gnaden hochen unnd flissigen danck sagend, hierzuo alle lütpriester, predicanten, seelsorger gmeinlich unnd ieden insonders durch ir offen brieffe uß aller iro lantschafft in ir statt für sy beschickt, beschriben unnd beruefft und die, so einandern schuldigen unnd ketzer scheltend, gegen einandern zuo verhören, welliche als die gehorsamen erschinen. 

Dwyl aber meister Ulrich Zwingly, zuo dem großen münster chorher und predicant, vorhar vil hinderredt unnd geschuldigett worden, so hat sich uff sin erbietten unnd offnen siner fürgehaltnen articklen niemans wider in erhept oder mit der gerechten göttlichen geschrifft in unnderstanden zuo überwinden, unnd als er die, so in ein ketzer geschuldigett, zuo merem mal herfür ze gan erfordertt, unnd in niemant einicherley ketzery bewyßt etc., habent sich daruff die obgenanten burgermeister, radt unnd der groß radt der statt Zürich groß unruow unnd tzwitracht abzestellen nach gehaptem radt erkent, entschlossen unnd ist ir ernstlich meinung, das meister Ulrich Tzwinly fürfaren unnd hinfür wie bißhar das heilig euangelion unnd die recht göttlich gschrifft verkünde so lang unnd vil, biß er eins besseren bericht werde. 

Es sollent ouch all andere ire lütpriester, seelsorger unnd predicanten in iro statt, lantschafften unnd herschafften anders nüt fürnemmen noch predigen, dann was sy mit dem heiligen euangelion unnd sust rechter göttlicher geschrifft beweren mögen. Deßglichen einanderen hinfür dheins wegs schmützen, ketzeren, noch andere schmachwortt zuoreden. Dann welliche hierin ungehorsam erschinent unnd dem nit gnuog thetten, dieselben würd man der massen halten, das sy sechen unnd befinden mueßten unrecht gethan haben.

Actum in der statt Zurich uff den 29 januarii, was der donstag nach keyser Karlus tag anno 1523.

Was nicht in der Bibel steht, das gilt nicht

Mit diesem Ratsbeschluss wurde es nun also in der Stadt zu einem Straftatbestand, den Zwingli einen Ketzer zu nennen, wenn man nicht gleichzeitig beweisen konnte, dass er laut der Bibel einem Irrtum unterliege. So versuchte hier die Zürcher Regierung (nach eigenem offiziellen Bekunden) wieder Ruhe in die Stadt zu bekommen.

Noch einschneidender aber war der Befehl an die Kleriker im eigenen Herrschaftsgebiet, künftig keine Handlungen mehr vorzunehmen, die nicht direkt mit dem Wortlaut der heiligen Schrift gerechtfertigt werden könnten. 

Das war eigentlich der offene Bruch mit Rom. Eine deutlichere Kampfansage der weltlichen Macht über den Zürcher Stadtstaat an Fürstbischof und Papst war kaum möglich. Man muss sich seiner Sache schon sehr sicher sein, wenn man einen solchen Entscheid heraushaut.

Wenn Reformierte für den Papst sterben [falsche Vermutung Vorsitz Natalrat korrigiert am 30.1.23]

Es würde für ein enormes Selbstbewusstsein und besondere Chuzpe sprechen, wenn bei dieser Veranstaltung auch noch Bürgermeister Röist den Vorsitz gehabt hätte, der formal zugleich Kommandant der Leibgarde des Papstes war. Denn gerade Marx Röist mit seiner enormen diplomatischen Erfahrung musste klar sein, was dieser Entscheid im Kontext der Zeit bedeutet hat. 

Dem war aber nicht so, wie man der (von der Website des Staatsarchivs des Kantons Zürich herunterladbaren) Excel-Datei Zürcher Rat 1225 bis 1798 entnehmen kann: 

Marx Röist (Personen-Id 39906; *1454, gest. 15. Juni 1524) wurde 1493 als Ratsherr von freier Wahl in den Baptistalrat und 1505 als Bürgermeister des Baptistalrats gewählt. Er war somit an diesem 29. Januar 1523 nicht amtierender Bürgermeister, denn in der ersten Jahreshälfte war der Natalrat am Ruder (vgl. WeiachBlog Nr. 1880). Diesem sass folglich Marx' Amtskollege als Bürgermeister vor, nämlich Felix Schmid (Personen-Id 43909; * ebenfalls 1454, gest. 13. Juni 1524), der 1508 als Zunftmeister in den Baptistalrat und 1511 als Bürgermeister des Natalrats gewählt worden war.

Deshalb (und aufgrund seiner späteren Haltung) blieb Marx bis zu seinem Tod im Jahre 1524 Titularkommandant der Päpstlichen Schweizergarde. Weder Hadrian VI. noch sein Nachfolger Clemens VII. (aus dem Hause der Medici) änderten daran etwas. Die unter dem Befehl des Röist-Sohnes Caspar stehende, zu einem guten Teil aus Zürchern rekrutierte Garde rettete Clemens dafür am Sacco di Roma das Leben.

Zürcher Bildersturm. Ist das nur katholische Propaganda? [Abschnitt eingefügt am 30.1.23]

Röist war also bei der Ersten Disputation am 29. Januar 1523 nicht federführend. Und auch wenn er sich mit Zwingli darin einig war, dass das Gotteswort richtig zu interpretieren und zu befolgen sei, so war er doch gegen die Entfernung der Heiligenbilder aus den Gotteshäusern. 

Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass die Ausführungsbestimmungen zum Mandat der Stadt Zürich betreffend Entfernung der Heiligenbilder (Signatur: StAZH B VI 249 (fol. 111 v)) exakt am Todestag von Marx Röist verabschiedet wurden. Darin wurden Aufsichtspersonen bestimmt, die zu überwachen hatten, dass nichts mutwillig zerstört würde. Und wer ein Heiligenbild gestiftet hatte, der durfte es im Rahmen dieses geordneten Rückbaus auch wieder an sich nehmen.

Ob unter diesen Umtänden für Zürich von einem eigentlichen Bildersturm die Rede sein kann? Der (katholische) Propagandabegriff impliziert ja rohe Gewalt und Vandalismus, wäre aber bei konsequenter Befolgung der Ausführungsbestimmungen eher als kontrollierte Räumungsaktion zu bezeichnen.

Quellen und Literatur

  • Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich (Ratsmanual): Abschied der Disputation in Zürich, 29. Januar 1523. Signatur: StAZH B VI 249 (S. 5 b - 6 b).
  • Abbildung in ZB Zürich, Ms. B 316, fol. 75v [nach Gagliardi/Forrer, Katalog Handschriften Zentralbibliothek Zürich Bd. II, Sp. 351: Kopienband zur zürcherischen Kirchen- und Reformationsgeschichte. 1605/06 von der Hand Hch. Thomanns. Hch. Bullinger: Reformationsgeschichte (erster Teil), 1519-29. -- Vgl. auch ZBZ Ms A 16 & 17]
  • Huldreich Zwinglis sämtliche Werke, Vol. 1 (Schwetschke, Berlin 1905) (Corpus Reformatorum 88). Aktenstücke zur ersten Zürcher Disputation; Zwingli, Werke, Bd. 1, Nr. 17: I. Die 67 Artikel Zwinglis (S. 458-465); II. Das Ausschreiben der Disputation (S. 466-468); III. Der Abschied der Disputation (S. 469-471).
  • Hildbrand, Th.; Weishaupt, M.: Artikel Bauern, Kap. 2 Mittelalter. In: Historisches Lexikon der Schweiz, Internet-Ausgabe, Stand 28. Juli 2015.
  • ERF. Radio Life Channel (ed.): 500 Jahre Zürcher Disputation. 1523 musste der Reformator Zwingli seine Thesen verteidigen. 27. Januar 2023.

Montag, 23. Januar 2023

Landwert zur Zeit der Nordostbahn-Enteignungen

Im letzten WeiachBlog-Beitrag Nr. 1891 wurde der Enteignungskataster der Nordostbahn erwähnt. Bereits ein Jahr zuvor, also vor 150 Jahren, reichte die Bahndirektion beim Zürcher Regierungsrat ein Verzeichnis über die auf Weiacher Gemeindegebiet vorgesehenen Enteignungen ein:

«Ein von der Direktion der Nordostbahn mit Zuschrift vom 17. dieß eingesandtes Verzeichniß von an die Notariatskanzlei Neuamt abgelieferten Entschädigungen für Expropriationen in der Gemeinde Weiach im Betrag von Fr. 638 95 Rp. behufs Erstellung der Winterthur–Koblenzer-Bahn, wird der Direktion der öffentlichen Arbeiten zur Erledigung überwiesen.» (RRB vom 18. Januar 1873)

Es ist schon bemerkenswert, dass es zu diesem Verwaltungsakt damals noch eigens einen Regierungsbeschluss geben musste. Aber es ging immerhin um so etwas Hochemotionales wie die Enteignung von Bauernland. Das hat man als Regierung besser genau im Auge.

Ein Franken pro Are

Stellt sich die Frage, wie hoch die überwiesene Gesamtentschädigung umgelegt auf die beanspruchte Fläche war. Die gesamte Strecke auf Gemeindegebiet misst 3.8 Kilometer, wobei der Bahndamm laut Katasterplan rund 10 Meter Breite einnahm. Dazu kamen noch die Kreuzungsbauwerke für die Niveauübergänge und insbesondere die Bahnhofanlage, welche auf rund einem Drittelkilometer immerhin die zehnfache Breite der einspurigen Trasse einnahm. Alles in allem kommt man damit auf rund 65000 Quadratmeter oder 650 Aren. Nach Strübis Rächnigsbüechli (vgl. WeiachBlog Nr. 1850) ergibt das knapp einen Franken pro enteigneter Are.

Umgerechnet nach dem Konsumentenpreisindex, der für Landwertumrechnung von Swistoval indirekt vorgeschlagen wird (anhand der «Glungge» in Jeremias Gotthelfs Roman «Ueli der Pächter», 1849), wären das heutzutage etwa 9.50 Franken pro Are oder 950 Franken pro Hektare.

Nimmt man die Durchschnittspreise für Landwirtschaftsland der letzten Jahre (im benachbarten Kanton Aargau), dann kostet heutzutage bereits der Quadratmeter zwischen 3 und 9 Franken, je nach Qualität, also das 30- bis 100-fache.

Quelle

Nachtrag Twitter/Facebook vom 24. Januar 2023

Wenn man den untersten Wert für Landwirtschaftsland im Kanton Aargau von 2018 zugrundelegt (CHF 3/m2, vgl. Quelle im Beitrag oben), dann wäre eher der BIP-Index anzuwenden (anstatt des KPI, wie im Beitrag zugrunde gelegt). Bei 6.5 ha ergäbe das dann fast eine Punktlandung.

Quelle: Swistoval, Einzelwertberechnung 1873

Freitag, 20. Januar 2023

Bedmen revisited. Katasterplan 1874 der Nordostbahn

Im Juni letzten Jahres ist auf WeiachBlog eine Übersicht zum Flurnamen Bedmen erschienen (Nr. 1832; vgl. Literatur ganz unten). Darin wird die alternative Namensform Bebnen besprochen, die auch in lokalen Quellen zu finden ist.

Im Frühjahr 1874 erstellte die Nordostbahn Katasterpläne. Sie dienten als Grundlage für die Entschädigung der zwecks Errichtung der Linie Winterthur-Koblenz zu enteignenden Grundeigentümer. Auf einem solchen Plan ist noch eine weitere Namensform überliefert: Im Begmen. Diese Variante ist in den namenkundlichen Recherchen bisher sonst nirgends anzutreffen gewesen. 

CH-BAR E53#1000/893#11716* -- Grün aquarelliert eingetragen sind die in der sonst flachen Ebene vorgesehenen Aufschüttungen für den Bahndamm und die Querungsbauwerke (Niveauübergänge)

Spannend ist, dass der Bedmen sich früher weiter in den Norden erstreckt haben muss. Auf dem Plan der NOB-Vermessungsingenieure ist der heute südlich der Bahnlinie verortete Flurname nämlich zwischen Sädel und Tiefacker auf der Nordseite der künftigen Bahntrasse eingetragen! 

Auf der Südseite findet man auf dem Katasterplan in diesem Abschnitt nur den Namen Weiach. Ausserhalb des Bildausschnittes im Westen: Im Winkel sowie Im See. Im Osten: Zabeläcker und Auf der Höh.

Künstlich gezogene neue Linien lassen Flurnamen wandern

Ein erneuter Beleg dafür, wie künstlich gezogene Linien (i.d. R. Strassen; in diesem Fall eine Bahnlinie) in den Köpfen zu neuen Abgrenzungen führen. Hier zur Begrenzung der Bedmen auf das Gebiet südlich der Bahnlinie. 

Eine solche Entwicklung ergibt sich fast automatisch, wenn eine althergebrachte Flur entzweigeschnitten wird. Auf einer der beiden Seite muss man ja dann den Namen eintragen. 

Es sei denn, die Gebiete seien gross und der Name hafte auch bei einer Durchtrennung an beiden Teilstücken gleichermassen (so geschehen beim Gebiet See bzw. Im See, wenn auch nur in den ersten Jahren nach dem Bau der Bahnlinie).
 
Vergrösserter Ausschnitt desselben Trassensegments

Die Auswirkungen von Erbteilungen

Hier sieht man auch sehr eindrücklich, wie schmal die betroffenen Flurstücke infolge wiederholter Erbteilungen sowie abwanderungsbedingten Handänderungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits geworden waren. Nachstehend die Eigentümer Im Begmen:

51. Heinrich Meierhofer Seidenrudis
52. Heinr
[ich] Meierhofer, a. Schulpfleger
53. Jacob Meierhofer Wegnknecht
54. Jac & Rud. Meierhofer, Wegknechts
55. Jacob Meierhofer, Präsident
56. Hs. Hch. Meierhofer Stägenheiris
58. Heinrich Baumgartner, a. Gmdrth.
59. Jac & Rud. Meierhofer, Wegknechts
62. Johannes Baumgartner, Friedlis

Weiter auf nicht betroffenen angrenzenden Parzellen:
Rudolf Meierhofer, Seckelmeister
Jacob Meierhofer, a. Kirchenpfleger

Quellen und Literatur

  • Schweizerische Nordostbahn. Winterthur-Coblenz. Katasterplan. Gemeinde Weiach. II. Theil;  Profil-N° 27.8 bis 29.8; Maasstab 1:1000 v. 27. April 1874. In: Katasterpläne der Gemeinden Töss, Weiach, Winterthur, Wülflingen, Zurzach. 1. Februar bis 30. April 1874.
    Schweizerisches Bundesarchiv. Signatur: CH-BAR E53#1000/893#11716* - Online-Dossier 3249601, Dokument_0000004 (637973796457465170.pdf)
  • Brandenberger, U.: Bedmen. Eine Namens- und Flurbeschreibung. WeiachBlog Nr. 1832 v. 20. Juni 2022.

Mittwoch, 18. Januar 2023

Bahnwärterhaus Knecht. Langes Leben nach Todesanzeige

Die Bahnstrecke der Schweizerischen Nordostbahn-Gesellschaft (NOB) von Winterthur nach Koblenz wurde bekanntlich anfangs August 1876 in Betrieb genommen (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 20). 

Auf dem Gemeindegebiet von Weiach liess die NOB im Hinblick darauf nicht weniger als vier Bahnwärterhäuschen errichten, welche nach dem Nummerierungsplan 1809 der kantonalen Gebäudeversicherung von Westen nach Osten die Nummern 148 bis 151 zugeteilt erhielten. Wo genau sie gestanden haben, ist bis auf eines nicht gesichert. Zuerst zu den drei «Unbekannten».

Abtransportiert. Umbenannt. Abgetragen.

Nr. 148 wurde bereits 1890 nach Frauenfeld «translociert», wie es 1891 im Lagerbuch der Gebäudeversicherung heisst. Damit enden die Einträge für dieses mit 700 Franken versicherte, zu 90 Prozent aus Holz bestehende Häuschen.

Nr. 149 muss nahe der Bahnstation gestanden haben, wie man aus dem Ortsvermerk im jüngeren der beiden im Gemeindearchiv Weiach verfügbaren Lagerbücher (PGA Weiach, IV.B.06.02) entnehmen kann. Dieses Häuschen war für 800 Franken assekuriert (ca. 41'000 Franken nach heutiger Kaufkraft, vgl. Historischer Lohnindex HLI von Swistoval.ch). Es bekam 1895 die Nummer 193 verpasst, wurde ab 1941 als «Wärterbude» bezeichnet und erhielt nach dem heute noch geltenden System 1955 die Nummer 692, was auf einen Standort am aufgehobenen Bahnübergang bei der heutigen Landi Weiach hinweist. Und auf der Siegfriedkarte von 1913 ist unmittelbar westlich davon tatsächlich ein kleines Gebäude eingezeichnet.

Nr. 151 war das östlichste Wärterhäuschen. Bei der Umnummerierung 1895 erhielt es die Nr. 195 und die Ortsbezeichnung «Hard». 1907 wird im Lagerbuch vermerkt, dass die neue Eigentümerin (seit 1902 die Schweizerischen Bundesbahnen) diese Baute «abgetragen» hat.

Nein, die US-Luftwaffe hat das Bahnwärterhäuschen nicht zerstört

Nr. 150 (1895: Nr. 194 und 1955: Nr. 151) hat am längsten ausgehalten, rund 115 Jahre. Wo doch im 2. Weltkrieg die Zeitungen landesweit bereits sein feuriges Ableben vermeldet hatten. Nahe diesem Bahnwärterhaus ist nämlich am 9. September 1944 ein Eisenbahnzug von amerikanischen Jagdflugzeugen angegriffen und in Brand geschossen worden. Besonders aus dem Bahnhofquartier sah es so aus, wie wenn auch das Bahnwärterhaus brennen würde, was dann selbst von offiziellen Armeestellen verbreitet wurde (vgl. WeiachBlog Nr. 1852). 

Laut Bericht im «Wehnthaler» (vgl. Aussage Knecht in Weiacher Geschichte(n) Nr. 41, S. 86) waren in zehn Metern Entfernung Geschosseinschläge auf der Zufahrtsstrasse (Feldweg Richtung Stubengraben) zu erkennen. Das Bahnwärterhaus selber blieb fast unversehrt. Bis auf eine zerschlagene Fensterscheibe wegen eines durch Geschosseinwirkung weggeschleuderten Steins sei ihm nichts passiert.

Die nachstehende über das ETH-Bildarchiv (ba.e-pics.ethz.ch) öffentlich zugängliche Fotografie des Wärterhäuschens auf der Höh datiert vierzig Jahre später:


Die Aufnahme wurde von Dieter Enz im Oktober 1984 geschossen und ist Teil einer Reportage der Comet Photo AG mit 34 Bildern.

Abgelegenes Einfamilienhäuschen

Zu diesem Zeitpunkt war das Häuschen bereits lange Jahren in Privateigentum. Es gehörte seit 1936 der Familie Knecht, erhielt 1938 durch die Elektrizitätsgenossenschaft Weiach einen Stromanschluss und wurde 1939 im Lagerbuch als «Schopf» (versichert für 700 Franken) vermerkt. Von einem Wohnhaus ist im 39er-Eintrag nicht die Rede, was der Nachlässigkeit des Kanzlisten zuzuschreiben sein dürfte. Entgegen den Vorschriften hat er den Eintrag zum bestehenden Gebäude in der Neuaufnahme nicht wiederholt. Denn dieser Schopf wurde als Nebengebäude zusätzlich erstellt. Man muss das auch aus einer Luftaufnahme von 1931 schliessen (vgl. Quellen).

Lagerbuch der Gebäudeversicherung des Kantons Zürich, 1895-1954, PGA Weiach IV.B.06.02

Noch unter der Ägide der Nordostbahn wurde das spätere Haus Knecht nach dem Nummernplan 1895 im jüngeren Lagerbuch (PGA Weiach, IV.B.06.02, vgl. Bild oben) mit der Standortangabe «Wiesenthal» versehen. Auch das überrascht. Diese Angabe wurde von späterer Hand gestrichen und durch die Ortsbezeichnung ersetzt, an der das Objekt tatsächlich gestanden hat, nämlich «Höh». Eine Verschiebung entlang der Bahnlinie nach Osten dürfte hier wohl nicht vorliegen, eher ein Irrtum, diesmal einer aus dem Jahre 1895.

StAZH PLAN B 884 Übersichtsplan landwirtschaftlich genutzte Parzellen im Siedlungsgebiet, undatiert.

Das Bahnwärterhäuschen befindet sich in der rechten oberen Ecke des Planausschnitts. Und zwar südlich der Bahnlinie. Gleich vis-à-vis, auf der Nordseite der Geleise und des Niveauübergangs ist ein weiteres Gebäude, das laut Willi Baumgartner-Thut als Schopf genutzt wurde.

Wo ist das Wiesenthal... 

Das Gebiet «Wiesenthal» befindet sich auf der Südseite der Bahnlinie, in der Nähe des südlichsten Punktes der langgestreckten Rechtskurve Richtung Station Weiach-Kaiserstuhl. 

Auf obigem Plan weist der Knick in der Panzersperrenparzelle oberhalb des Schriftzugs Weiach genau auf diesen Punkt hin. Just dort befand sich auch der Durchlass, wo sich das Wasser aus der durch jahrhundertealte Bewässerungspraxis gut befeuchteten Wiese (daher der Name Wiesental) sammelte und unter dem Bahndamm hindurch in etwa den Verlauf des heutigen Dorfbachs nahm. Dieser Punkt wäre vom Fundamentaspekt her so ziemlich die ungünstigste Stelle für ein Bahnwärterhaus gewesen. Auch das ein Argument für einen Irrtum des Kanzlisten.

...und wie alt ist der Plan?

Der Hinweis auf die dem Dorfkern vorgelagerte Tanksperre aus dem Zweiten Weltkrieg kann übrigens als Terminus post quem gelten, um die vom Staatsarchiv des Kantons Zürich vorgenommene Eingrenzung des Entstehungszeitpunkts obigen Planes (1920 bis 1950 im Katalogeintrag; 1921 bis 1949 im Georeferencer und dem GIS-System maps.zh.ch) auf die 40er-Jahre einzudampfen. Ein Terminus ante quem sind überdies sowohl das Fehlen des 1946 auf Lebern von Johann Meier-Bersinger erbauten Schopfs mit Keller, sowie des 1947 errichteten neuen (und heutigen) Gemeindehauses. Fazit: der Plan zeigt Weiach im Zweiten Weltkrieg.

Dem Kiesabbau zum Opfer gefallen

Zurück zum Bahnwärterhaus. Bei der dritten Neunummerierung wurde die Nr. 194 (1895) im Jahr 1955 zu Nr. 151. In den Jahren nach 1955 dürfte das Wohnhaus auch erweitert worden sein, denn auf Luftaufnahmen sieht man deutlich einen Quergiebel, der parallel zu den Gleisen ausgerichtet ist.

Luftaufnahmen des Kantons von 1987, bzw. des Bundes von 1988 zeigen, dass das Gebäude damals noch vorhanden war. Es ist allerdings deutlich erkennbar, wie der Abbau in der Südgrube, der entlang der Bahnlinie Richtung Westen vorangetrieben wurde, unaufhaltsam fortschreitet. 

Man muss daher annehmen, dass das Bahnwärterhaus Knecht spätestens anfangs der 1990er-Jahre abgerissen wurde. Das passt zu den Erinnerungen von Willi Baumgartner-Thut: der Abbruch der 1938 erstellten Stromzuleitung (von der man den Dachständer auf dem Bild von Dieter Enz deutlich sieht) sei in diese Zeit gefallen.

Quellen und Literatur

  • Lagerbuch der Gebäudeversicherung des Kantons Zürich. Bd. 1, 1834 bis 1895. Signatur: PGA Weiach IV.B.06.01
  • Übersichtsplan Gemeinde Weiach. Provenienz: Meliorations- und Vermessungsamt des Kantons Zürich. Erstellt zwischen 1940 und 1946. Signatur: StAZH PLAN B 884.
  • Lagerbuch der Gebäudeversicherung des Kantons Zürich. Bd. 2, 1895 bis 1954. Signatur: PGA Weiach IV.B.06.02
  • Enz, D.: Fotografie Betriebsanlagen Weiacher Kies AG und Bahnwärterhaus Knecht (Ausschnitt). Reportage mit 34 Bildern, Oktober 1984. ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Com_M33-0208-0002-0002 - CC BY-SA 4.0 - http://doi.org/10.3932/ethz-a-000664218.
  • Swisstopo LUBIS: Luftbild 19310640011608 vom 29. Juni 1931.
  • Swisstopo LUBIS: Luftbild 1987_307_0278 vom 16. April 1987.
  • Swisstopo LUBIS: Luftbild 19882680045960 von 24. Juni 1988.
  • Brandenberger, U.: «Wann die Eröffnung indeß stattfindet, ist Gott bekannt». 125 Jahre Eisenbahnlinie Winterthur–Koblenz. Weiacher Geschichte(n) Nr. 20. Erstpublikation in: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, Juli 2001.
  • Brandenberger, U.: Amerikanische «Luftgangster»? 9. September 1944: US-Luftwaffe beschiesst Güterzüge bei Rafz und Weiach. Weiacher Geschichte(n) Nr. 41. Erstpublikation in: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, April 2003.
  • Brandenberger, U.: Falschmeldung über Weiach auf Kurzwelle ausgestrahlt, 1944. WeiachBlog Nr. 1852 v. 21. August 2022.
  • Telefongespräch des Blogautors mit Willi Baumgartner-Thut, 17. Januar 2023.

Sonntag, 8. Januar 2023

Geburtsanzeige der Weiacher Kies A.G.

Die Weiacher Kies AG wurde am 6. November 1961 gegründet. Aktionäre waren die Franz Haniel AG, Basel (Tochterunternehmen des Haniel-Konzerns aus Duisburg) sowie die Gemeinde Weiach. 

Die Franz Haniel Aktiengesellschaft ihrerseits wurde am 13. März 1924 ins Handelsregister des Kantons Basel-Stadt eingetragen.  Als Zweck wird der «Handel mit Bergwerks- und Hüttenprodukten» genannt. Im Registereintrag werden indirekt auch die Eigentumsverhältnisse erwähnt: «Die Gesellschaft leitet ihre Firma ab von dem im Jahre 1868 verstorbenen Grossindustriellen Geheimrat Franz Haniel, dem Gründer der Vorgängerin der Firma Franz Haniel & Cie. Gesellschaft mit beschränkter Haftung in Duisburg-Ruhrort.» (SHAB Nr. 65 v. 18. März 1924, S. 447).

Der Eintrag der Weiacher Kies A.G. ins Handelsregister des Kantons Zürich erfolgte am 16. November 1961, vgl. Publikation im Schweizerischen Handelsamtsblatt:


Wie man sieht, war es bereits ab der Gründung so, dass der amtierende Gemeindepräsident, d.h. damals Albert Meierhofer-Nauer, als Vizepräsident des Verwaltungsrats fungierte. Unterschriftsberechtigt ist er allerdings nicht. Dieses Recht stand nur dem Präsidenten und dem Delegierten des Verwaltungsrates zu (Kollektivunterschrift zu zweien), die beide in der baselstädtischen Gemeinde Riehen ansässig waren.

Der ehemalige Weiacher Gemeindeschreiber Ernst Pfenninger, eigentlich schon als Gemeindeschreiber von Glattfelden gewählt (wie Willi Baumgartner-Thut zu berichten weiss), liess sich, wie man hier sieht, zum ersten Geschäftsführer der neu gegründeten Weiacher Kies A.G. ernennen. 

Und das erste Geschäftsdomizil war in einer offenbar gerade leer stehenden Wohnung der Liegenschaft Kipfer (Stadlerstrasse 17) untergebracht, im selben Gebäude wie das in der Mitte der 1950er-Jahre eröffnete Weiacher Postbüro.

Quellen
  • Schweizerisches Handelsamtsblatt Bd. 42 (1924) Nr. 65 vom 13. März 1924, S. 447 [SHAB 1924 447]
  • Schweizerisches Handelsamtsblatt Bd. 79 (1961) Nr. 274 vom 22. November 1961, S. 3398 [SHAB 1961 3398].
  • Brandenberger, U.: Wer war Albert Meierhofer? WeiachBlog Nr. 426 v. 14. April 2007.
  • Persönliche Mitteilung von Willi Baumgartner-Thut am 28. Dezember 2022, Telefongespräch mit dem WeiachBlog-Autor.
[Ergänzt um den HR-Eintrag Franz Haniel AG am 9. Januar 2023 um 00:30]

Donnerstag, 5. Januar 2023

Die Sternenwirtin droht Versteigerung eines Pfandes an

Jemand schuldet einem Geld? Manche schalten da gleich ein Inkassobüro ein. Oder gehen zum Betreibungsamt. Die Witwe des Weiacher Sternenwirts wählte Mitte des 19. Jahrhunderts einen anderen Weg. Nämlich dem Schuldner in aller Diskretion per Inserat eine letzte Frist setzen. Wie sie das gemacht hat? Das kann man im Publikationsorgan ihrer Wahl, der in der Stadt Zürich erscheinenden Freitags-Zeitung, nachlesen:

«Unterm 10. November 1849 hat ein gewisser C. G. zwei Stück Baumwollenzeug gegen Anleihung einer ihm bewußten Summe Geld bei Unterzeichneter als Pfand hinterlegt, laut gegebener Handschrift auf 14 Tage hin. Der Betreffende wird hiermit aufgefordert, dieses Pfand gegen Bezahlung der Schuld und Kosten sc. von heute an innert Verlauf 4 Wochen auszulösen, im Unterlassungsfalle die Versilberung dieses Pfands nachgesucht würde.

Weyach, den 3. Juli 1850.
Frau Wittwe Schenkel zum Sternen.
»

Mit einer Versilberung ist die konkursamtliche Versteigerung gemeint, vgl. dazu Weiacher Geschichte(n) Nr. 34 (Versilberungsganten. Teil 1. Was die Weiacher in der Wirtschaftskrise alles verpfänden mussten). bzw. Nr. 35 (Versilberungsganten. Teil 2. Wirtschaftskrise 1877/80: Ganze Haushaltungen unter dem Hammer).

Quelle

Mittwoch, 4. Januar 2023

Vollamtliche Weiacher Gemeindeschreiber. Ein kleiner Überblick.

Gemeindrahtsschreiber. So hiess das Amt in früheren Zeiten. Und in der Regel war das einer der Gemeinderäte, der diese Funktion innehatte, ganz ähnlich einem Aktuar in einem Verein. Einer dieser Amtsinhaber war J. Grießer, der 1866 in eine politische Schlammschlacht mit dem Bezirksstatthalter geriet (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 55). 

Alles in allem ging das mit diesem Arrangement ganz leidlich zwischen 1803 und 1946, also während fast 150 Jahren.

In diesem ersten Nachkriegsjahr entschied sich die Gemeinde Weiach, erstmals einen vollamtlichen Schreiber anzustellen. Der war nicht mehr Mitglied des Gemeinderates. Seit dieser Zeit hatte Weiach sechs Amtsinhaber. 

Der sechste Gemeindeschreiber hat heute sein Amt angetreten. Aus diesem Anlass sei hier eine kurze Übersicht gegeben:

1 -- Ernst Pfenninger -- Amtsdauer: 1946 bis August 1961, danach erster Geschäftsführer der Weiacher Kies AG, gestorben 2005, ehemals wohnhaft an der Leestrasse.

2 -- Hans Meier-Forster -- Amtsdauer: September 1961 bis August 1996, heute Pensionär.

3 -- Peter Wunderli -- Amtsdauer: September 1996 bis Juni 2018, heute Gemeindeschreiber von Wasterkingen.

4 -- Pascale Wurz --  Amtsdauer: Oktober 2018 bis Juni 2021, heute Stv. Gemeindeschreiberin von Dielsdorf.

5 -- Beatrix Pelican -- Amtsdauer: Juli 2021 bis Juli 2022, aktuelle Funktion nicht bekannt.

In der Sedisvakanz hat für den Rest des Jahres 2022 ad interim ein sogenannter Springer übernommen: Marcel Peter von der Firma inoversum AG in Meilen.

6 -- Thomas Diethelm -- Amtsdauer: ab 4. Januar 2023, wohnhaft in Rümlang.

Bemerkenswert an dieser Liste ist, dass immerhin zwei Drittel dieser Amtsinhaber in die Regierungszeit von Gemeindepräsident Stefan Arnold (2014 bis heute) fallen. Die Amtsinhaber Nr. 1 bis 3 haben es wesentlich länger ausgehalten mit den früheren Gemeindepräsidenten, denen sie jeweils unterstellt waren.

Dienstag, 3. Januar 2023

Kirchenheizung jagt Stromrechnung in die Höhe

Im Jahre 1929 erhielt die Weiacher Kirche erstmals eine Heizung, bei der man nicht mehr einfeuern, sondern nur noch einen Schalter drehen musste. Die Zeit der Holzkohlenheizung (eingebaut 1888) war abgelaufen.

An ihrer Stelle installierte die Elektrizitätsgenossenschaft Weiach (EGW) eine elektrische Heizung der Firma Therma in Schwanden (Kanton Glarus; 1904-2015) mit 51.6 kW Leistung. In der ersten Ausführung war nur jede zweite Kirchensitzbank beheizt. Bei den Bänken im Chor, wo die Honoratioren Platz nahmen, hingegen jede Bank.

Der Sigrist war um Mitternacht herum in der Kirche

Bei einer Aussentemperatur von -15 °C musste man diese Heizung während 10 Stunden auf voller Last laufen lassen, um die Kirche für den Gottesdienst auf Temperatur zu bringen, bei 0 °C immerhin noch 8 Stunden! Sehr viele Kilowattstunden für einen kurzzeitig warmen Kirchenraum.

1957 wurden zusätzlich Heizaggregate in den Fensterbänken installiert, was den Kaltluftabfall an den grossen Fenstern reduziert hat.

Bei der grossen Restauration der Jahre 1965-1967 wurde die Sitzbankheizung ersetzt. Und diesmal unter jedem Kirchenbank ein Heizkörper installiert. Zusätzlich sind seither die Fenster besser verglast, was ebenfalls die Entstehung von Kaltluft vermindert. [Am Veröffentlichungstag um 14:50 neu eingefügter Absatz]

Ende der 1990er-Jahre schlug die Kirchenheizung jeden Winter mit zwischen 5000 und 7000 Franken Stromkosten zu Buche. Mit der Installation einer programmierbaren Heizungssteuerung, die per 1. Oktober 2000 in Betrieb genommen wurde, konnte eine Reduktion der Stromkosten auf fast die Hälfte erreicht werden.

Bei der letzten Renovation im Jahre 2020 musste diese Steuerung erneut ersetzt werden, weil verschiedene Komponenten bereits nicht mehr erhältlich waren. Dieses System erlaubt nun ein noch besseres Management des Raumklimas. Unterstützt wird das unter anderem durch den Einbau von zwei Fenstern, die fernprogrammiert automatisch geöffnet und geschlossen werden können. [Am Veröffentlichungstag um 14:50 neu eingefügter Absatz]

Die Kirche ist und bleibt ein Stromfresser

Pfarrhaus und Pfarrscheune sind heute über eine Fernleitung an die kommunale Holzschnitzelheizung in der Mehrzweckanlage Hofwies angeschlossen. Nicht aber die Kirche. Die wird nach wie vor rein elektrisch beheizt. 

Nach dem Strompreisschock des Jahres 2022 (der eine Verdoppelung der kWh-Tarife brachte) wurde dieser Umstand naturgemäss auch zum Thema in den Sitzungen der evang.-ref. Kirchenpflege Weiach.

Die Pflege hat ihren Entscheid nun im aktuellen Mitteilungsblatt kommuniziert: 

Gottesdienste in der Pfarrscheune

«Ab Januar sind einzelne Gottesdienst [sic!] in der Pfarrscheune geplant. Damit möchte die Kirchenpflege den Empfehlungen der Landeskirche und dem UVEK folgen. Die Kirche wird mit der Elektroheizung jeweils im Nachttarif aufgeheizt. Die Pfarrscheune hingegen ist am Wärmeverbund der Gemeinde Weiach angeschlossen. Durch die Verlagerung der Gottesdienste in die Pfarrscheune, können wir den Strombedarf der Kirche reduzieren. Entsprechend können wir so die ansteigenden Stromkosten abfedern.» (MGW, Januar 2023, S. 16)

Wie man derselben Ausgabe entnehmen kann, betrifft dies die Sonntagsgottesdienste vom 15. und 29. Januar. An diesen Tagen wird die Weiacher Organistin Krauze zur Pianistin.

Quellen und kirchenheizungsrelevante WeiachBlog-Artikel

  • Heizung. Beleuchtung. Lautsprecher. Signatur: ERKGA Weiach II.B.5.06.8
  • Brandenberger, U.: Dreijahresvertrag für den Kirchenheizer, 1891 bis 1894. WeiachBlog Nr. 1558 v. 5. August 2020.
  • Brandenberger, U.: Wenn es in der Kirche zu kalt ist. WeiachBlog Nr. 1720 v. 14. August 2021.
  • Brandenberger, U.: Kirchenbezirk Weiach. Ein wehrhaftes Ensemble stellt sich vor. [Arbeitstitel Entwurf, Stand 1. Januar 2023].
  • Telefonisches Gespräch betr. Heizverhältnisse mit Gregor Trachsel, alt Gemeindepräsident und Architekt der letzten Renovation am 3. Januar 2023.

Montag, 2. Januar 2023

Auch am Bechtelistag durfte man nicht immer bächtelen

Weil sie grosses Unheil und den Zorn Gottes fürchtete, den man an vielen Zeichen der Natur und des Himmels ablesen zu können glaubte (darunter Unwetter und einen «traurigen Cometen» nennend), erliess die Zürcher Regierung am 19. Dezember 1664 nach julianischem Kalender für das gesamte Staatsgebiet ein Mandat, das über die kommenden Neujahrstage für eine Woche jede Art von Festivitäten strikte untersagte:

«Wir wöllen und haben auch fehrners, für nohtwendig geachtet, und ernstlich erkent, daß alle, sonsten gewohnte Neujahrsfest, und Freudenmähler, und daran hangende, und gebrauchende allerley spil, von geigen und pfeiffen, trommen und trompeten, singen und springen, und was dergleichen mehr, auf diß allernächst bevorstehende Neue jahr, und selbiger gantzen Wochen, zu Statt und Land, gänztlichen und mit allem ernst, hiemit abgestelt und verbotten seyn söllen.»  (Bettagsmandat der Stadt Zürich und Mandat betreffend Verbot von Neujahrsfesten. Signaturen: StAZH III AAb 1.4, Nr. 84 bzw. ZBZ M&P 2: 114)

Auch wenn das im Mandat nicht drinstand, war damit wohl auch die Schliessung aller Gaststätten verbunden und der Auftrag an die Behörden, private Feste ebenfalls zu unterbinden, sollte sich jemand uneinsichtig zeigen und trotzdem feiern wollen.

Verbote können ganz generell nicht schaden...

Was man von Neujahr bis zum Dreikönigstag 1665 durchgezogen hatte, das empfahlen die Zürcher Pfarrherren in einem Gutachten zuhanden des Rates in abgeschwächter Form auch 1674:

«Erinnerung der Geistlichkeit, in diesen gefährlichen und schweren Zeiten, in denen vielerorts Krieg herrscht, zu Zürich den Abendtrunk am Neujahrstag zu verbieten, auch weil Trunkenheit zum Gottesdienst untüchtig macht, ferner wegen besserer Beachtung des grossen Sittenmandates zu Stadt und Land».

In diesem Schreiben werden explizit erwähnt: «der zweite Neujahrstag als der Bechtelistag und das Bechtelen (Bächtelen) und Neujährlen, das Trommeln und Pfeiffen und Tanzen vor den Häusern.» (vgl. den Online-Katalog des Staatsarchivs; Signatur: StAZH E I 5.6, Nr. 10)

... und wo wir schon dabei sind, erweitert werden

Und 1679 ging die Pfarrerschaft sogar noch etwas weiter, weil die kirchliche Unterweisung ihrer Ansicht nach durch einen weiteren Neujahrsbrauch gestört wurde:

«Antrag der Geistlichkeit wegen der Feier des Neujahrstages, dass die sogenannten Stubenhitzen auf den zweiten Neujahrstag verlegt werden möchten, um Kinder und Dienste nicht von der hochnotwendigen Katechisation abzuziehen.»

Das ist einer der Gründe, weshalb die Neujahrsblätter eben traditionell bis heute am 2. Januar, also dem Bächtelis- oder Bärchtelistag, ausgegeben werden und die Kinder das Geld für die Stubenhitzen (für das Holz zum Beheizen der Gesellschaftsstuben) an diesem Tag gegen eine erbauliche Druckschrift eintauschen konnten (vgl. den Online-Katalog des Staatsarchivs; Signatur: StAZH E I 5.6, Nr. 33).

Bechtelen wurde 1686 mit Busse bestraft

Einige Jahre später war es jedenfalls offensichtlich verboten, mit Speis, Trank und Musik zu feiern, wie man dem Protokoll des Stillstandes im Städtchen Eglisau entnehmen kann. Da heisst es unter der Januar-Sitzung dieser Kirchenpflege:  

«Heinrich Hartman in synem hauß laßen bechtelen, so gwehrt bis ztag, da sy auch sollend gspilt haben, das mans auf die gaßen ghört und gwesen Stynen Rudis Hanß und töchteren, item Stynen Jacob und Hanß Martin, deßgleichen Clot Rudis sel[ig], wurdend alle bschikt und ihnen sonderlich dem Hartman zugesprochen und alle in oberkeitliche buß gesetzt.» (Stillstandsprotokoll Eglisau 1686; StAZH TAI 1.328; ERKGA Eglisau IV A 1 a , S. 62–65).

Alle Anwesenden und besonders der Hausherr wurden vor den Stillstand zitiert und ihnen ins Gewissen geredet. Versehen mit einem Bussgeldbescheid durften sie dann wieder gehen.

Bächtelen bis in den Morgen hinein, noch dazu für alle hörbar, war also nicht erlaubt. Wobei nicht ganz klar ist, ob Hartmann nur am falschen Tag bechern liess. Oder man das in diesem Jahr überhaupt nicht durfte.

Weiterführende Beiträge

Sonntag, 1. Januar 2023

Unter 80 Metern Wandkies begraben?

27.3 Millionen Kubikmeter (Schätzung für die Jahre 1962-2022). Diese Menge Wandkies ist seit der Betriebsaufnahme der Weiacher Kies AG in unserer Gemeinde abgebaut worden. Ist das viel? Oder wenig? Wie man's nimmt.

Würde dieser ganze Wandkies en bloc als Würfel vor dem Dorfkern liegen, dann hätte er eine Kantenlänge von rund 300 Metern. Das wäre höher als das höchste Bauwerk auf Schweizerboden, die Staumauer der Grande Dixence (285 Meter). 

Selbst vom Eiffelturm in Paris würde gerade noch die Spitze mit der Antenne herausschauen. Dieser Turm steht auf einem Quadrat mit nahezu 125 Metern Seitenlänge. Also könnte man vier Eiffeltürme in unserem Kies versenken. Locker.

Würde man diese Menge auf der Fläche von Kaiserstuhl (34 ha) abladen, dann wäre das Städtchen und sein gesamtes ehemaliges Gemeindegebiet unter 80 Metern Kies begraben. 

Gleichmässig auf der Fläche von Weiach (957 ha) verteilt? Da wären es immerhin noch 2.85 Meter. Und wohlverstanden: wirklich an jedem einzelnen Punkt der Gemeinde.

In Einfamilienhäusern gerechnet? Nimmt man ein mittleres EFH mit 180 Quadratmetern Geschossfläche, dann resultieren etwa 750 Kubikmeter Inhalt. Mit der abgebauten Menge Wandkies kann man 36'400 solche Einfamilienhäuser füllen. 

Mit unserem Kies könnte man aber auch 45 Hallenstadion-Kubaturen füllen. Und es wäre immer noch etwas übrig.

Bilder: Wikimedia Commons (jeweils das Top-Bild vom 31.12.22 aus den Wikipedia-Artikeln Lac des Dix, Cheops-Pyramide und Eiffelturm)

Noch nicht beeindruckt? Die Pharaonen Ägyptens wären es. Denn das Volumen der Grossen Pyramide von Gizeh ist rund 2.6 Mio m3. Nach Strübis Rächnigsbüechli (vgl. WeiachBlog Nr. 1850) ergibt das rund 10.5 Cheops-Pyramiden.

Aber natürlich ist das nichts im Vergleich mit der grossen Badewanne namens Zürichsee, an deren Nordende unsere Hauptstadt liegt. In der haben nämlich 3.9 Kubikkilometer Platz. Und dafür bräuchte man 143 Gesamtkubaturen vom bisher abgebauten Weiacher Wandkies.