Der wohl schillerndste Walliser aller Zeiten, Kardinal Matthäus Schiner, wäre Anfang 1522 der erste und einzige Papst aus dem Gebiet der heutigen Eidgenossenschaft geworden. Wenn er denn nicht einen mächtigen Gegner gehabt hätte, dem er in den Jahren zuvor (vor Marignano) im Kampf um die Vorherrschaft in Norditalien ins Gehege gekommen war: der König von Frankreich. Der setzte gegen Schiners Wahl alle Hebel in Bewegung.
So gelangte am 9. Januar 1522 der bislang einzige Niederländer auf den Papstthron: Hadrian VI., mit bürgerlichem Namen Adriaen Floriszoon Boeiens. Dieser Papst hatte es in seiner kurzen Amtszeit (er starb bereits Mitte September 1523) wahrlich nicht einfach.
Luther und die Folgen
Denn in der katholischen Kirche gab es einen gefährlichen Schwelbrand, der seine Ursache in einer Multikrise hatte, die zu schweren Legitimationsproblemen führte. Seit spätestens 1517 war Feuer im Dach. Der Reformator Martin Luther und seine 95 Thesen mischten das Heilige Römische Reich Deutscher Nation auf. Luther wirkte zu allem Übel hin auch noch höchst ansteckend.
So in Zürich, wo ab Anfang 1519 der Leutpriester Huldrych Zwingli seine Wirkung entfaltete. Er war von allem Anfang an anders als die damals üblichen Geistlichen. Denn er verlagerte die Predigt in den Mittelpunkt des Gottesdienstes, legte darin das Evangelium nach dem Wortlaut der Bibel aus und stellte dadurch sukzessive massgebliche Stützen des bisherigen Systems fundamental infrage.
Zu viele Missstände in der römisch-katholischen Praxis
Hadrian, der aus einfachen Verhältnisse stammte (sein Vater war Schiffszimmermann in Utrecht) war das nur allzu bewusst. Er war eigentlich ein Gelehrter, einer, der wider Willen ins Amt gehievt wurde und sich dort gleichsam von Wölfen umgeben sah (vergleichbar mit Benedikt XVI.).
Mit dem Mut der Verzweiflung versuchte er, die drohende Kirchenspaltung noch abzuwenden. Dazu leitete er eine tiefgreifende Reform der Kirche ein. Insbesondere schränkte er den überbordenden Luxus der klerikalen Hofhaltung ein. Weiter stellte er Regeln für die Erteilung von Ablässen und die Zuteilung von Pfründen (d.h. letztlich gegen Simonie) auf. Alles Punkte, wo die gelebte Praxis besonders in deutschen Landen weitherum heftigster Kritik ausgesetzt waren.
Er ging sogar so weit, am 3. Januar 1523 durch seinen Legaten auf dem Reichstag in Nürnberg ein Schuldbekenntnis verlesen zu lassen, in dem es hiess, Gott lasse diese heftigen Turbulenzen geschehen «wegen der Menschen und sonderlich der Priester und Prälaten Sünden» (zit. n. Wikipedia-Artikel Hadrian VI). Ein bemerkenswerter Akt der Demut.
Fast zur selben Zeit versuchte er auch Zwingli zu besänftigen, indem er ihm am 23. Januar 1523 einen Brief schrieb. Er dürfte aber auch via den Fürstbischof von Konstanz, Hugo von Hohenlandenberg, bereits 1522 massiv Druck aufgesetzt haben, um diese ganzen Ketzereien zu unterbinden, die da unter anderem von Zwingli verbreitet wurden. -- Alles letztlich vergeblich, weil viel zu spät.
Zwinglis 67 Artikel
Der Vorwurf, der Kirche gehe es primär ums Abkassieren und das eigene Wohlergehen, der war aus vielen Köpfen auch in Zürich nicht mehr herauszubringen, weil die Missstände jedermann in die Augen springen, der sie sehen wollte.
Auch Zwingli hat ein Thesenpapier verfasst, worin er in 67 Punkten unter anderem den Zölibat frontal angriff, indem er die Bigotterie anprangerte, die Hadrian mit dem Hinweis auf die Sünden der Priester und Prälaten sicher auch gemeint hat:
49. Grösser verergernus weiß ich nit, denn das man den pfaffen ewyber haben nit nachlaßt, aber huoren haben umb geltz willen vergündt.
Eine sehr berechtigte Frage, die bis heute zu Irritationen führt. Es gebe kein grösseres Ärgernis, so Zwingli, als dass ein Priester keine Ehefrau haben dürfe. Lieber toleriere die Kirche den Besuch von Prostitutierten (oder gar heimliche Beziehungen samt Nachwuchs).
Ablasshändler sind Abgesandte des Teufels
Selbstverständlich kommt auch der Ablass für Sünden (von Wanderpredigern wie Johann Tetzel nach dem Motto «Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt» quer durch die deutschen Lande einnahmenwirksam beworben) in den Thesen vor.
53. Uffgelegte buoßwerck kummend von menschlichem radtschlag - ußgenummen den bann -, nemend die sünd nitt hin, werdent uffgelegt andren zuo eim schrecken.
54. Christus hatt all unser schmertzen unnd arbeit getragen. Welcher nun den buoßwercken zuogibt, das allein Christi ist, der irt und schmächt gott.
55. Welcher einerley sünd den rüwenden menschen nachzelassen verhieltt, were nit an gottes, noch Petri, sunder an des tüfels statt.
56. Welcher etlich sünd allein umb gelts willen nachlaßt, ist Simons und Balaams gesell und des tüfels gentlicher bott.
Das sind die Thesen 53 bis 56, deren Inhalt sich so zusammenfassen lässt: Die Kirchenhierarchie regiere mit Angst und Schrecken. Ein Sündenerlass hingegen stehe einzig Gott und seinem Stellvertreter Jesus Christus zu und nicht einem Geistlichen. Schon gar nicht, wenn damit eine Geldzahlung verbunden sei. Wer solche Praktiken dennoch ausübe, der müsse als ein Bote des Teufels gesehen werden. Denn er begehe Gotteslästerung.
Weil Ablässe vor allem mit kürzerer Leidenszeit der Verstorbenen verkauft wurden, haben die Reformatoren später dann auch noch die Lehre vom Fegefeuer beerdigt, ein Dogma, das übrigens auch die Orthodoxen Kirchen des Ostens nicht akzeptieren.
Aufruhrpotential unter Kontrolle behalten
Von diesen kirchlichen Fragen zu den weltlichen in unserer Umgebung. Die Regierung des Zürcher Stadtstaates hatte zu diesem Zeitpunkt neben diesen theologischen Streitfragen noch mit ganz anderen Problemen zu kämpfen.
Mit dem Debakel von Marignano war im September 1515 eine rund 40-jährige Phase zu Ende gegangen. Seit den glanzvollen Siegen in den Burgunderkriegen über Karl den Kühnen hatte die eidgenössische Führungsschicht in der obersten Liga der europäischen Machtpolitik mitgemischt und musste sich nun neu sortieren.
Unter der Landbevölkerung war die Unzufriedenheit jedenfalls beträchtlich. Bereits 1513 erhoben die Zürcher Untertanen vielfältige Forderungen und in den Vorweihnachtstagen des Jahres 1515 stürmte ein durch Gerüchte aufgestachelter Mob gar die Stadt, plünderte dort Geschäfte und Marktstände, weshalb diese Unruhen auch als Lebkuchenkrieg bezeichnet werden.
Damit waren die Zürcher nicht allein, wie man dem Historischen Lexikon der Schweiz entnehmen kann. Dort werden auch die tieferen Ursachen der Unzufriedenheit der bäuerlichen Bevölkerung erläutert:
«Gegen Ende des 15. Jahrhunderts und zu Beginn des 16. Jahrhunderts erhöhten die Territorialisierung und Herrschaftsintensivierung, die Spezialisierung und Kapitalisierung der Landwirtschaft sowie die soziale Ausdifferenzierung das Konfliktpotential auf der Landschaft und verschärften den Kampf um die Ressourcen, der zum Beispiel in den Jahren 1513-1516 (Könizer Aufstand, Luzerner Zwiebelnkrieg, Zürcher Lebkuchenkrieg) verschiedenenorts ausbrach.»
Ein Papsttreuer und ein Ketzer im selben Bett?
Einer der Kriegsteilnehmer von Marignano war der Leutpriester Zwingli, der dort zum vehementen Gegner von jeder Art von kriegerischem Abenteuer wurde, insbesondere wenn es um Solddienst ging. Damit machte er sich die Militärunternehmer (die fremden Fürsten solche Truppenkontingente zur Verfügung stellten) zu Gegnern.
Besonders pikant: in seinen 67 Thesen lehnte Zwingli auch das Papsttum ab (These 17). Gleichzeitig galt die Stadt Zürich als sehr papsttreu. Das hatte 1517 massgeblich zur Ernennung des Zürcher Bürgermeister Marx Röist (1454-1524) als zweitem Kommandanten der Päpstlichen Schweizergarde geführt. Aufgrund seines schon bei der Ernennung hohen Alters hat er die Position nie bekleidet, sondern sie seinem Sohn Caspar Röist übertragen, der 1527 beim Sacco di Roma ums Leben kam.
Wie die Verteidigung einer Doktorarbeit
Besonders die Dominikaner (denen das Predigerkloster gehörte) warfen Leutpriester Zwingli offen Ketzerei vor und handelten damit auch im Einverständnis sowohl des Fürstbischofs von Konstanz, des Papstes wie auch anderer geistlichen Gemeinschaften, denn die Thesen Zwinglis forderten letztlich, mit dem ganzen Klosterwesen radikal aufzuräumen. Von den theologischen Fragen abgesehen gingen seine Forderungen damit direkt ans Eingemachte, auch bezüglich des Besitzstandes.
Und nun kommt der interessanteste Schachzug, dessen erster Akt am heutigen Datum vor 500 Jahren sozusagen über die Bühne gegangen ist. Vor, wie überliefert wird, nicht weniger als 600 Zuhörern. Wie die übrigens an einem Januartag alle in den Zürcher Ratssaal hineingepasst haben sollen, darüber darf spekuliert werden.
Bildquelle (nach reformiert-zuerich.ch): ZB Zürich, Ms. B 316, fol. 75v (Die Handschrift ist 1605/06 entstanden, die Buchmalerei wohl zeitgleich od. später)
Zwingli machte mit dem Rat gemeinsame Sache, indem dieser seinen Vorschlag aufnahm, ihn seine Thesen - wie an Universitäten des Abendlandes seit dem Hochmittelalter üblich - in Form einer Disputation verteidigen zu lassen. Und zwar auf Deutsch. Nicht etwa in der unter Theologen damals üblichen Gelehrtensprache Latein.
Diese Art von öffentlicher Auseinandersetzung wurde zum Modell, das man in vielen anderen Städten kopiert hat und das beispielsweise im Berner Herrschaftsgebiet ebenfalls zur Reformation geführt hat (vgl. den HLS-Artikel Disputationen).
Sola scriptura. Die einzige Waffe im Duell
Die 67 Thesen sind der Einladung zur Disputation entsprechend auf deutsch und so verfasst, dass sie wie eine Herausforderung zum Duell daherkommen. Ihr Verfasser stellt sie in den Raum und fragt, ob jemand etwas dagegen einzuwenden habe. Zu dieser Disputation luden Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich alle Kleriker aus ihrem Herrschaftsbereich ein (vgl. Kopie des Mandats der Ausschreibung im Ratsmanual).
Der Haken an der Sache (aus Sicht der Kleriker): Tradition, päpstliche Erlasse und Konzilienbeschlüsse sind in dieser Übungsanlage auf dem Kampfplatz nicht zugelassen. Verlangt war sola scriptura. Heisst: Nur die Bibel als Widerlegungsinstrument.
Die Frage an diesem Tag war also: Wer wagt bzw. schafft es, den Zwingli nur mit den Waffen des Evangeliums, d.h. der Bibel in der Hand, als Ketzer zu überführen?
Generalvikar Fabri kalt geduscht
Laut Prof. em. Peter Opitz, ehemaliger Leiter des Instituts für Reformationsgeschichte an der Universität Zürich (vgl. den ERF-Beitrag), hatten die Gegner Zwinglis kaum Zeit und Raum ihn zu widerlegen. Man sei nicht über die ersten beiden Thesen hinausgekommen und bereits nach der Mittagspause (also nach rund 4 bis maximal 5 Stunden) hätten Bürgermeister und Rat verlauten lassen, Zwingli sei nicht widerlegt worden und man werde ihn deshalb weiter predigen lassen.
Den Abgeordneten des Fürstbischofs von Konstanz, namentlich seinem Generalvikar Johann Faber, wurde damit sozusagen eine kalte Dusche verpasst. Ob der so Düpierte deswegen im selben Jahr seinen «Ketzerhammer» veröffentlicht hat?
Für Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich (im Januar der Natalrat) war das eine reine Regierungsangelegenheit der Stadt, weshalb diese erste Manifestation der engen Verschränkung von Theologie und Stadtpolitik auch im Ratsmanual eingetragen wurde. Und zwar zuerst die strittigen Thesen Zwinglis, dann das Mandat mit der Ausschreibung der Disputation (StAZH B VI 249 (S. 5 a - 5 b)) und schliesslich der Ratsbeschluss, der das aus Sicht des Rates gültige Ergebnis festhielt (StAZH B VI 249 (S. 5 b - 6 b)).
Weil der Bischof nicht vorwärtsgemacht hat
In diesem Beschluss (vgl. nachstehend den vollen Wortlaut) rechtfertigen die Zürcher Machthaber auch, weshalb sie gezwungen gewesen seien, die Sache selber in die Hand zu nehmen. Weil nämlich - so der Vorwurf - die Bistumsleitung trotz bereits Monate zuvor getroffener Vereinbarung, dass seitens des Bistums Konstanz eine der heutigen vergleichbare bistumsweite Versammlung einberufen werden solle, nichts passiert sei. Da aber in der Stadt Zürich die Stimmung mittlerweile in derart untragbarem Ausmass vergiftet worden sei, habe man sich zu der heutigen Ersatzvornahme gezwungen gesehen.
Abscheyd unnd beschlusß obgemelter artickel und disputation, von eim ersamen rath zuo Zürich jüngst ußgangen. [Text laut Corpus Reformatorum 88]
Als dann ietz verschinen jars [1522] unnd bißhar vil tzwittracht unnd tzweyung sich erhept tzwüschen denen, so an der kantzel das gotzwortt dem gmeinen menschen verkündt, ettlich vermeint das euangelium trüwlich gepredigett haben, andre habents geschulten, als ob sy nit geschickt oder formlich gehandlott unnd dargegen ouch die andern wydrumb die als ferfuerer unnd ettwann ketzer genempt, die aber allweg mit göttlicher geschrifft einem ieden des begerenden bescheid ze geben sich erbotten etc., so nun gar nach ein jar vergangen unsers gnädigen herren von Costantz [d.h. der Fürstbischof] erwirdig pottschafft söllicher sachen halb in der statt Zürich vor einem burgermeister, clein unnd großem radt gewesen unnd hiervon allerley geredt worden ist, dann ze mal verabscheidett, das unser gnädiger herr von Costentz darann sin wölte, in sim bisthuomb die gelerten - darzuo ann den andern anstossenden bisthuomen - unnd prelaten, predicanten zuo berueffen, radten, helffen unnd mit denselben handlen, darmit einhelliger beschluß beschehe unnd menglich sich wüßte ze halten; so aber bißhar von unserm gnedigen herren von Costantz, villicht uß merglichen ursachen, nützytt deßhalb besunders vollendett ist unnd die widerwertigkeitt sich für unnd für unnder geistlichen unnd weltlichen erhept, daruff habent ein burgermeister, radt und der groß radt, so man nempt die tzweyhundertt der statt Zürich, in dem namen gottes umb fryden unnd cristenlicher einhelligkeitt willen disen tag angesetzt unnd zuo dem unsers gnädigen herren von Costantz lobwirdig pottschafft vermögen, des sy iren gnaden hochen unnd flissigen danck sagend, hierzuo alle lütpriester, predicanten, seelsorger gmeinlich unnd ieden insonders durch ir offen brieffe uß aller iro lantschafft in ir statt für sy beschickt, beschriben unnd beruefft und die, so einandern schuldigen unnd ketzer scheltend, gegen einandern zuo verhören, welliche als die gehorsamen erschinen.
Dwyl aber meister Ulrich Zwingly, zuo dem großen münster chorher und predicant, vorhar vil hinderredt unnd geschuldigett worden, so hat sich uff sin erbietten unnd offnen siner fürgehaltnen articklen niemans wider in erhept oder mit der gerechten göttlichen geschrifft in unnderstanden zuo überwinden, unnd als er die, so in ein ketzer geschuldigett, zuo merem mal herfür ze gan erfordertt, unnd in niemant einicherley ketzery bewyßt etc., habent sich daruff die obgenanten burgermeister, radt unnd der groß radt der statt Zürich groß unruow unnd tzwitracht abzestellen nach gehaptem radt erkent, entschlossen unnd ist ir ernstlich meinung, das meister Ulrich Tzwinly fürfaren unnd hinfür wie bißhar das heilig euangelion unnd die recht göttlich gschrifft verkünde so lang unnd vil, biß er eins besseren bericht werde.
Es sollent ouch all andere ire lütpriester, seelsorger unnd predicanten in iro statt, lantschafften unnd herschafften anders nüt fürnemmen noch predigen, dann was sy mit dem heiligen euangelion unnd sust rechter göttlicher geschrifft beweren mögen. Deßglichen einanderen hinfür dheins wegs schmützen, ketzeren, noch andere schmachwortt zuoreden. Dann welliche hierin ungehorsam erschinent unnd dem nit gnuog thetten, dieselben würd man der massen halten, das sy sechen unnd befinden mueßten unrecht gethan haben.
Actum in der statt Zurich uff den 29 januarii, was der donstag nach keyser Karlus tag anno 1523.
Was nicht in der Bibel steht, das gilt nicht
Mit diesem Ratsbeschluss wurde es nun also in der Stadt zu einem Straftatbestand, den Zwingli einen Ketzer zu nennen, wenn man nicht gleichzeitig beweisen konnte, dass er laut der Bibel einem Irrtum unterliege. So versuchte hier die Zürcher Regierung (nach eigenem offiziellen Bekunden) wieder Ruhe in die Stadt zu bekommen.
Noch einschneidender aber war der Befehl an die Kleriker im eigenen Herrschaftsgebiet, künftig keine Handlungen mehr vorzunehmen, die nicht direkt mit dem Wortlaut der heiligen Schrift gerechtfertigt werden könnten.
Das war eigentlich der offene Bruch mit Rom. Eine deutlichere Kampfansage der weltlichen Macht über den Zürcher Stadtstaat an Fürstbischof und Papst war kaum möglich. Man muss sich seiner Sache schon sehr sicher sein, wenn man einen solchen Entscheid heraushaut.
Wenn Reformierte für den Papst sterben [falsche Vermutung Vorsitz Natalrat korrigiert am 30.1.23]
Es würde für ein enormes Selbstbewusstsein und besondere Chuzpe sprechen, wenn bei dieser Veranstaltung auch noch Bürgermeister Röist den Vorsitz gehabt hätte, der formal zugleich Kommandant der Leibgarde des Papstes war. Denn gerade Marx Röist mit seiner enormen diplomatischen Erfahrung musste klar sein, was dieser Entscheid im Kontext der Zeit bedeutet hat.
Dem war aber nicht so, wie man der (von der Website des Staatsarchivs des Kantons Zürich herunterladbaren) Excel-Datei Zürcher Rat 1225 bis 1798 entnehmen kann:
Marx Röist (Personen-Id 39906; *1454, gest. 15. Juni 1524) wurde 1493 als Ratsherr von freier Wahl in den Baptistalrat und 1505 als Bürgermeister des Baptistalrats gewählt. Er war somit an diesem 29. Januar 1523 nicht amtierender Bürgermeister, denn in der ersten Jahreshälfte war der Natalrat am Ruder (vgl. WeiachBlog Nr. 1880). Diesem sass folglich Marx' Amtskollege als Bürgermeister vor, nämlich Felix Schmid (Personen-Id 43909; * ebenfalls 1454, gest. 13. Juni 1524), der 1508 als Zunftmeister in den Baptistalrat und 1511 als Bürgermeister des Natalrats gewählt worden war.
Deshalb (und aufgrund seiner späteren Haltung) blieb Marx bis zu seinem Tod im Jahre 1524 Titularkommandant der Päpstlichen Schweizergarde. Weder Hadrian VI. noch sein Nachfolger Clemens VII. (aus dem Hause der Medici) änderten daran etwas. Die unter dem Befehl des Röist-Sohnes Caspar stehende, zu einem guten Teil aus Zürchern rekrutierte Garde rettete Clemens dafür am Sacco di Roma das Leben.
Zürcher Bildersturm. Ist das nur katholische Propaganda? [Abschnitt eingefügt am 30.1.23]
Röist war also bei der Ersten Disputation am 29. Januar 1523 nicht federführend. Und auch wenn er sich mit Zwingli darin einig war, dass das Gotteswort richtig zu interpretieren und zu befolgen sei, so war er doch gegen die Entfernung der Heiligenbilder aus den Gotteshäusern.
Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass die Ausführungsbestimmungen zum Mandat der Stadt Zürich betreffend Entfernung der Heiligenbilder (Signatur: StAZH B VI 249 (fol. 111 v)) exakt am Todestag von Marx Röist verabschiedet wurden. Darin wurden Aufsichtspersonen bestimmt, die zu überwachen hatten, dass nichts mutwillig zerstört würde. Und wer ein Heiligenbild gestiftet hatte, der durfte es im Rahmen dieses geordneten Rückbaus auch wieder an sich nehmen.
Ob unter diesen Umtänden für Zürich von einem eigentlichen Bildersturm die Rede sein kann? Der (katholische) Propagandabegriff impliziert ja rohe Gewalt und Vandalismus, wäre aber bei konsequenter Befolgung der Ausführungsbestimmungen eher als kontrollierte Räumungsaktion zu bezeichnen.
Quellen und Literatur
- Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich (Ratsmanual): Abschied der Disputation in Zürich, 29. Januar 1523. Signatur: StAZH B VI 249 (S. 5 b - 6 b).
- Abbildung in ZB Zürich, Ms. B 316, fol. 75v [nach Gagliardi/Forrer, Katalog Handschriften Zentralbibliothek Zürich Bd. II, Sp. 351: Kopienband zur zürcherischen Kirchen- und Reformationsgeschichte. 1605/06 von der Hand Hch. Thomanns. Hch. Bullinger: Reformationsgeschichte (erster Teil), 1519-29. -- Vgl. auch ZBZ Ms A 16 & 17]
- Huldreich Zwinglis sämtliche Werke, Vol. 1 (Schwetschke, Berlin 1905) (Corpus Reformatorum 88). Aktenstücke zur ersten Zürcher Disputation; Zwingli, Werke, Bd. 1, Nr. 17: I. Die 67 Artikel Zwinglis (S. 458-465); II. Das Ausschreiben der Disputation (S. 466-468); III. Der Abschied der Disputation (S. 469-471).
- Hildbrand, Th.; Weishaupt, M.: Artikel Bauern, Kap. 2 Mittelalter. In: Historisches Lexikon der Schweiz, Internet-Ausgabe, Stand 28. Juli 2015.
- ERF. Radio Life Channel (ed.): 500 Jahre Zürcher Disputation. 1523 musste der Reformator Zwingli seine Thesen verteidigen. 27. Januar 2023.