In einem solchen Umfeld ist es für Amtsträger entscheidend, die eigene Stellung rundum abzusichern. Wir haben das für Weiach bereits an den Hexenprozessen des 16. und 17. Jahrhunderts aufgezeigt, denn letztlich geht es – damals wie heute – um staatliches Angstmanagement (vgl. WeiachBlog Nr. 1418).
Für die heutige Zeit zeigt sich das Phänomen exemplarisch am «Fall Carlos», der – wie wir erst vor noch nicht allzu langer Zeit erfahren haben – eigentlich «Fall Brian» genannt werden sollte und in unserer unmittelbaren Nachbarschaft Glattfelden seinen Anfang genommen hat.
Als 2013 eine der regionalen Jugendanwaltschaften des Kantons Zürich mit Hansueli Gürber an die Fernseh-Öffentlichkeit trat, um ihr auf anscheinend (zumindest aus Sicht Gürbers) vielversprechenden Pfaden laufendes Sondersetting zu präsentieren, da kochte die Volksseele.
Dank medialer Befeuerung schoss man sich auf die Kosten dieser Massnahme ein und auf die «Ungeheuerlichkeit», dass man einem Schlägertypen noch ein Boxtraining finanziere. Und das, obwohl Massnahmen wie geschlossene Psychiatrie etc. teurer und wohl weniger wirkungsvoll gewesen wären. Über die Wirksamkeit und die Kostenfolgen der seither durchgezogenen Repressionsmassnahmen schweigt des Sängers Höflichkeit.
Klar ist: die rebellische Persönlichkeitsstruktur dieses jungen Typen provoziert und zwar maximal. Das fordert die Öffentlichkeit heraus und mit ihr das Justizsystem. Viel interessanter ist deshalb das Sittenbild, das sich von der Reaktion auf ihn zeichnen lässt. Vor allem das in der Verwaltung.
Von mangelnder Loyalität und Verantwortungsverdünnung
Welche Dynamiken haben sich in den Verwaltungs- und Politikstrukturen entfaltet? Ohne viel spekulieren zu wollen, darf konstatiert werden, dass sich jeder sofort seinen eigenen Hintern abzusichern versucht hat. Ausser der naive, direkt mit dem Projekt «Carlos» befasste Gürber.
Diesen bunten Hund hat das System eiskalt abserviert. Die Behauptung seines Amtsleiters, von dem allem nichts gewusst zu haben, wurde seltsamerweise querbeet akzeptiert. Der Leitende Oberjugendanwalt Marcel Riesen hatte schlicht das Glück, dass der zuständige Regierungsrat per Zufall ein Grüner war, und dass der gewisse Beisshemmungen hatte. Ein mit machiavellistischem Machtinstinkt ausgestatteter Magistrat hätte nicht nur Gürber fallen lassen, sondern auch noch gleich den Leitenden Oberjugendanwalt entsorgt.
Denn sieht man sich die Aufgaben der Oberjugendanwaltschaft an, dann werden da als erste drei Punkte aufgeführt:
- beaufsichtigt die Amtsführung der Jugendanwaltschaften
- überprüft alle jugendstrafrechtlichen Verfügungen und Entscheide
- führt das Finanz- und das Personalwesen der Jugendstrafrechtspflege
Nichts mitbekommen – ernsthaft?
Wie plausibel ist es, dass der Amtsleiter von einem solchen Fall so rein gar nichts Wesentliches mitbekommen haben kann? Es geht immerhin um ein Risikodossier mit Kosten in der Höhe Hunderttausender an Steuerfranken. Riesen kann das nicht glaubhaft abstreiten. Und selbst wenn es so gewesen sein sollte, dann darf man ihm zu Recht vorwerfen, seiner Aufsichtspflicht nicht nachgekommen zu sein.
Ein Regierungsrat hingegen – mit viel breiterer Führungsspanne – hätte glaubhafter abstreiten können, von solchen Vorgängen gewusst zu haben, zumal wenn er sich bei Amtsantritt mit der mündlichen Anweisung an seine Amtsleiter «Belästigen Sie mich nicht mit Details» von genau solchen heissen Eisen isoliert hätte. Wenn keine Berichte mit heiklen Details im Regierungsratsbüro aufschlagen, dann kann man viel lockerer den Ahnungslosen mimen.
Zur Kunst der glaubhaften Abstreitbarkeit gehört somit auch die Fähigkeit, Verantwortung möglichst weit hinunter zu delegieren: auf die Ebene der Projektleiter, die man dann bei Bedarf in die Wüste schicken kann. Als plausiblen Sündenbock, wie Gürber.
Dass man auf diese Weise Skandale um Jahre hinauszögern kann, hat das Projekt Insieme der Eidg. Steuerverwaltung bewiesen. Ein halbes Dutzend Projektleiter wurde verbraten, bis man beim Controlling zum Schluss kam, dass das Problem wohl eher bei der Führungsebene und ihrem Anforderungsmanagement à la «Hüst und Hott» liege.
«Wenn der Führer DAS gewusst hätte...»
Im Sinne der Verantwortungsverlagerung auf die unterstmögliche Ebene noch besser – vor allem für das mittlere Management (aber auch die höchsten Kreise) – sind Konstruktionen, die nach dem Motto funktionieren: «Je grösser das finanzielle Volumen, desto höher die Hierarchiestufe, die formal (und nur formal) die Aufsicht hat».
Heisst konkret: Projekte je nach finanziellem Umfang (oder Risikopotential) mit Auftraggebern bestücken, deren Tag schlicht zu wenig Stunden hat, um sich wirklich mit dem gebotenen Aufwand sämtlichen ihnen auf dem Papier zugeteilten Projekten zu widmen.
Oder noch besser: verschiedene konkurrierende Stellen mit nahezu demselben Auftrag versehen auf die Piste schicken.
In der beschriebenen Vollendung führt das zu perfekt organisierter (weil vernebelnder) Verantwortungslosigkeit. Das ist das Erfolgsgeheimnis autoritär geführter Gebilde jeglicher Art. Wenn es funktioniert, ist der Untertan gewillt, der obersten Führung abzunehmen, dass sie selber nichts von den Taten der ihnen unterstellten Beamten mitbekommen habe. Obwohl sie ihr Frontpersonal dauernd mit entsprechenden Anweisungen indirekt zu ebendenselben anleitet.
Zurück zum Verantwortungsbewusstsein!
Auch deshalb ist eine möglichst kleinteilige Strukturierung mit unmittelbarer persönlicher Verantwortlichkeit zu bevorzugen. Verantwortliche in Politik und Medien, die dem Stimmbürger noch direkt und medial ungefiltert in die Augen blicken können, dürfen – und müssen!
Politiker und Verwaltungschefs, die zu ihren Entscheidungen stehen. Solche, die sagen, was ist und nicht dem politisch korrekten Wunschdenken hinterherhecheln. Und: Medienverantwortliche, die das honorieren und für höhere Auflagezahlen nicht Weitsicht und Freiheit bedenkenlos über Bord zu werfen bereit sind.
Das Umgekehrte muss aber genauso gelten. Der Stimmbürger kann und darf auch nicht einfach alles delegieren. Nein, er muss, wie Gottfried Keller es formuliert hat, vor die Türe treten, um zu sehen was es gibt. Dann selber denken. Weitsichtig abwägen. Und schliesslich verantwortlich handeln.
Das ist nicht leicht. Und es verhindert Scherbengerichte nicht a priori. Aber es würde doch den Furor der sonst von agents provocateurs populistisch aufgestachelten öffentlichen Meinung dämpfen, die von den Medien noch weiter aufgepeitscht wird.
Hexenjagden sind nämlich das Letzte, was wir in diesen Tagen brauchen. Nicht nur beim «Fall Carlos».
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen