Der Autor dieser Zeilen, Johann Jacob Scheuchzer (1672-1733), führt im Anschluss an diese Passage etliche Beispiele für die landwirtschaftlichen Vorzüge des Zürcher Gebiets auf. Solche, die auch auf andere Gegenden zutreffen. Trotzdem: Zürich ist sozusagen die Essenz Europas. Warum nicht der damals noch die Waadt und Teile des Aargaus umfassende Kanton Bern? Nun, der aus einer Ärzte- und Naturforscherdynastie stammende Scheuchzer war halt selber ein Zürcher. Und in Limmat-Athen hat man ja bekanntlich bis heute die ungebrochene Tendenz, sich, wenn nicht als Nabel der Welt, so doch mindestens als deren Leuchtturm zu verstehen.
Das obige Zitat findet sich in einem der Hauptwerke Scheuchzers, der 1716 erschienenen «Helvetiae historia naturalis oder Natur-Historie des Schweitzerlandes» (vgl. S. 43) und zwar in dessen «Erstem Theil», benannt «Helvetiae stoicheiographia, orographia et oreographia. Oder Beschreibung der Elementen, Grenzen und Bergen des Schweitzerlands». Auf der Seite 44 wird auch Weyach namentlich aufgeführt. Und zwar beim Thema Grenzen.
Die Grenzen des Zürichbiets
Schon die einleitende Wendung zeigt erneut den Status und Führungsanspruch Zürichs als Vorort der Eidgenossenschaft auf (der ja bis heute aufrechterhalten bleibt, vgl. die Erstnennung in der Liste der Kantone nach Art. 1 BV):
«Dieser unser vorderste Canton Zürich gränzet...»
Scheuchzer beginnt im Norden bei Stein am Rhein, das damals zusammen mit dem Flecken Dörflingen noch zum zürcherischen Herrschaftsbereich gehörte (seit der Helvetik beide schaffhauserisch) und arbeitet sich dann im Gegenuhrzeigersinn vor.
« I. [...] Die Graffschaft Kyburg gränzet an das Klettgöwische bey Balm und Nack in der mitte des Rheins. 3300 Schritt unter der Rheinbruck zu Eglisau gehöret der ganze Rhein dem Canton Zürich bis zum Ausfluß des Herdererbachs. Die Herrschaft Eglisau selbs gränzet an das Sulzische gegen Nack, Lottstetten, Rütti [Rütte, heute Wüstung], Bartlischweil [Baltersweil], Dettigkhofen, Büel, Güntzgen, so das auf Eglisauer Seite die Gränzdörffer sind Sulgen [Solgen], Rafz, Wasterkingen, Hündwangen. Von dem Außfluß des Herdererbachs scheidet die mitte des Rheins bis gen Keiserstul die Graffschaft Sulz von dem so genanten Neuamt. Diß sind die Gränzen unsers Cantons gegen Teutschland.
II. Gegen Schaffhausen scheidet der Rhein, und Bruck, so auf Feurthalen gehet. Auf Züricher Seiten liegen Langwisen, Feurthalen, Flurlingen, Uwisen, Lauffen.
III. Gegen Abend und Nordwest gränzet an die Graffschaft Baden mit dem Stättlein Keyserstul, und denen Dörfferen Siglistorff, Schneisingen, Erendingen, Dietikon, Weiningen: auf Züricher Seite sind Weyach, Niderweningen, Otelfingen, Höngg, Urdorff.»
Die obige Passage habe ich bewusst exakt so abgeschrieben, wie sie im Original gedruckt vorliegt. Man sieht daran, dass die Schreibweise von Ortsnamen aber auch die Orthographie (vgl. Ausfluß vs. Außfluß) damals noch keineswegs eine fixierte war.
Mit dem Klettgauischen (Grafschaft Klettgau) und der Grafschaft Sulz (Benennung nach dem Namen der ihr vorstehenden Adelsfamilie) meint Scheuchzer ein und dasselbe. Wenn man sie Grafschaft Sulz nennt (auf Grenzsteinen und der Gygerkarte erkennbar an den drei roten Zacken im Wappen), dann wird damit klarer gemacht, dass nicht der historische Klettgau gemeint ist, der auch später schaffhauserisch gewordenes Gebiet umfasst (z.B. Hallau und Trasadingen), sondern nur damaliger Reichsboden, den Scheuchzer 1716 als Teutschland bezeichnet.
Referenzpunkt Eglisauer Holzbrücke
Die Grenze des 1651 auch hochgerichtlich zürcherisch gewordenen Rafzerfeldes steigt ca. 2.5 km flussabwärts von der alten Rheinbrücke bei Eglisau (vgl. Bild von Stumpf 1548 im e-HLS) aus dem Rhein (Linie aus goldenen Punkten auf der Gyger-Karte, vgl. unten). Bis zum Ausfluss (d.h. der Mündung) des Herdernbaches in den Rhein sind es noch einmal ca. 3 km. Diese 5.5 Kilometer entsprechen den 3300 Schritten, die Scheuchzer erwähnt. Ein Schritt ist mithin etwa 1.7 Meter (also ein Doppelschritt, wo jeweils nur das Auftreffen des linken oder des rechten Fusses gezählt wird).
Hinweis: Die Gygerkarte ist geostet, d.h. Osten ist hier oben, nicht rechts, wie auf den meisten heutigen Karten gebräuchlich.
Bei genauem Hinsehen erkennt man, dass bei «Herderen» (wie Günzgen heute ein Ortsteil der baden-württembergischen Gemeinde Hohentengen am Hochrhein) ein Ankh-artiges Zeichen den Übergang der Grenze vom rechten Ufer auf die Flussmitte anzeigt.
Eglisauerisch von der Thurmündung bis zum Herdernbach
Die Mündung des Herdernbachs, die gleichzeitig die Mündung des Landbachs ist, der das gesamte Rafzerfeld entwässert und auch einen Abschnitt der Landesgrenze zwischen Zürich und der Grafschaft Sulz bildet, ist das untere Ende der Fischgerechtigkeit der Herrschaft Eglisau.
Eglisau wurde von den Freiherren von Tengen mutmasslich kurz vor oder fast gleichzeitig mit Kaiserstuhl gegründet, um die (1249 erstmals erwähnte) Brücke nach Seglingen zu sichern. 1359 erhielten sie von Kaiser Karl IV. die hohe Gerichtsbarkeit über Eglisau verliehen (oder bestätigt). 1463 ging die Gerichtsherrschaft an Freiherrn Bernhard Gradner von Windisch-Grätz (Untersteiermark, heute Ost-Slowenien), von dem sie die Zürcher mit ihren niederen Gerichten im Jahre 1496 (nach anderen Quellen: schon 1489/90) übernommen haben.
In den zur Herrschaft Eglisau gehörenden Besitztümern ist auch der Rhein enthalten und zwar von unweit unterhalb der Thurmündung bis zur Mündung des oben erwähnten Herdererbachs. Auf der gesamten Fläche gehörte den Inhabern der Herrschaft das Fischereirecht. Und wie man der Karte von Gyger aus dem Jahr 1667 (d.h. 16 Jahre nach dem Ankauf der Hochgerichtsbarkeit über das Rafzerfeld, dessen Niedergerichte schon Bernhard Gradner an sich gebracht hatte) sehen kann, ist die Grenze eindeutig am deutschen Ufer eingezeichnet.
Die Herrschaft Eglisau umfasste gemäss Gyger auch das Dorf Zweÿdlen, sowie den Weiler Aarüti, wie man dem Eglisauer Wappen (und dem Verlauf der Grenzlinien) entnehmen kann. Rheinsfelden und Glattfelden hingegen gehörten zu diesem Zeitpunkt mit den Hochgerichten noch zur Grafschaft Kyburg. Die Landeshoheit wurde also vom Landvogt auf Kyburg wahrgenommen.
Heute anderer Grenzverlauf
Die Landesgrenze zwischen der Schweiz und Deutschland müsste also eigentlich bis zum Herdernbach auf dem Nordufer des Rheins verlaufen. Das tut sie aber nicht. Wie es dazu kam, dass die Grenze auf dem oben beschriebenen Abschnitt heute in der Flussmitte verläuft, das entzieht sich zur Zeit meiner Kenntnis.
Offenbar war die hochgerichtliche Oberhoheit nicht so eindeutig (mit anderen Dokumenten) belegbar, dass die Zürcher die Gyger'sche Darstellung gegenüber dem Grossherzogtum Baden nach 1803 durchsetzen konnten. Auf der Wild-Karte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts liegt die Grenze auf dem fraglichen Abschnitt jedenfalls eindeutig in Flussmitte.
Diese von Napoleon durch seine Friedensabkommen (u.a. in Lunéville 1801) begünstigte neue Macht auf der Nordseite des Rheins war ungleich stärker als es die fürstbischöflich-konstanzische Regierung in Konstanz oder das Haus Schwarzenberg (Nachfolger der Grafen von Sulz im Klettgau) je hätten sein können. Vor allem aber war der Grossherzog in Karlsruhe mächtiger als Zürich.
Weiach beerbte Eglisau
Klar ist aufgrund dieses Sachverhalts nun auch, dass die östlichsten ca. 460 Meter Rheinverlauf einer der grössten Parzellen auf Weiacher Gebiet, der Nr. 1403 (vgl. WeiachBlog Nr. 1280 und maps.zh.ch), einst zur Herrschaft Eglisau gehört haben. Und nicht zu Weiach.
LK 1:25'000 1956/65: Gelb eingezeichneter östlicher Abschnitt der Parzelle Weiach-1403 bis zum Herdernbach
So kommt es also, dass über viele historische Zufälle rund 2.5 Hektaren Eglisau (Messung nach Wildkarte) nun zur Gemeinde Weiach gehören. Mit Napoleon und einem Slowenen (dem Freiherrn Gradner) als unfreiwillig-unwissentlichen Wegbereitern. Und dank einem Kanton Zürich, der nur seine grösseren Seen (Zürichsee, Greifensee, Pfäffikersee, Türlersee und die beiden Katzenseen), nicht aber die grossen Flüsse territorial unter kantonaler Hoheit hält (vgl. dazu den Nachtrag vom 28. August).
P.S. Auf der obigen Karte sind es rund 2.7 ha. Die Differenz dürfte auf den Anstieg des Flusspegels nach dem Bau des Kraftwerks Reckingen während des 2. Weltkriegs zurückzuführen sein.
Nachtrag vom 28. August zur territorialen Zugehörigkeit
Wenn man sich auf dem GIS des Kantons Zürich die Zugehörigkeit von Gewässern zu Gemeinden ansieht, dann ist es sehr interessant festzustellen, dass je nach Zoom-Level ein unterschiedlicher Status vermittelt wird.
Zoomt man in die Vogelperspektive hinaus, so werden die im vorstehenden Abschnitt genannten grösseren Seen mit einer eigenen Linie umgrenzt, sodass der Eindruck entstehen kann, sie seien sozusagen gemeindefreie Gebiete. Solche gibt es in der Bundesrepublik Deutschland relativ häufig, in der Schweiz fast gar nicht. Das einzige Beispiel ist der Staatswald Galm im Kanton Freiburg, der zu keiner Gemeinde gehört, sondern als Staatsdomäne direkt verwaltet wird. Weiter gibt es in den Kantonen Wallis und Tessin noch insgesamt drei Kommunanzen, also Gebiete, die der gemeinsamen Hoheit von zwei (oder mehr) Gemeinden unterstehen, so wie vor der Aufteilung auch das Neeracherried. Diese Gebiete sind historisch gesehen aus Allmenden entstanden.
In § 3 des zürcherischen Gemeindegesetzes von 2015 steht, dass sich das Kantonsgebiet in Gemeinden gliedere. E contrario, d.h. durch die Nichtnennung von gemeindefreien Gebieten, die der ausschliesslichen Hoheit des Kantons unterstehen, kann man nun schliessen, dass sämtliche Seen (also auch der Zürichsee und der Greifensee, die eigene BFS-Gemeindenummern führen) anteilsmässig auf die Anstössergemeinden aufgeteilt sind. Zoomt man in den Plänen der Amtlichen Vermessung genügend nah heran, dann stellt man beim Zürichsee im unteren Seebecken, das von der Stadt Zürich umschlossen ist, fest, dass diese Fläche sogar anteilmässig auf die 1893 mit Zürich fusionierten früheren Gemeinden Enge, Wollishofen und Riesbach sowie die alte Stadt Zürich selber aufgeschlüsselt ist.
Eine solche lückenlose Zuteilung ist durch die völkerrechtliche Praxis abgesichert und kann auch bei der Frage herangezogen werden, welches Gemeinwesen beispielsweise bei der Sanierung von Altlasten auf einem See- oder Flussgrundstück zuständig ist. (Glättli 2020)
Quellen und Literatur
- Gyger, H. C.: Einer Loblichen Statt Zürich Eigenthümlich-Zugehörige Graff- und Herrschaften, Stett, Land und Gebiett. Sampt deroselben anstossenden benachbarten Landen, und gemeinen Landvogteiyen. Mit Bergen und Thalen, Höltzer und Wälden, Wasseren, Strassen und Landmarchen. Zürich 1667. [Digitalisat auf GIS Kt. ZH]
- Scheuchzer, J. J.: Helvetiae stoicheiographia, orographia et oreographia. Oder Beschreibung der Elementen, Grenzen und Bergen des Schweitzerlands. Der Natur-Histori des Schweitzerlands Erster Theil. Zürich, In der Bodmerischen Truckerey, A. 1716 – S. 43-44. [Link auf e-rara.ch, S. 44]
- Brandenberger, U.: Parzelle 1403 – eine nasse Angelegenheit. WeiachBlog Nr. 1280 v. 3. Juni 2016.
- Brandenberger, U.: Minus 208 Quadratmeter Schweiz. WeiachBlog Nr. 1286 v. 2. Juli 2016.
- Telefon-Gespräch mit Urs Glättli, Abteilung Gemeinderecht der Direktion der Justiz und des Innern vom 28. August 2020.
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