Nun, das ist tatsächlich ein Fachwort, das eine Diagnose stellt. Wenn auch eine linguistische. Eine, die mein zwei Jahrzehnte währendes Stochern im Nebel (seit Weiacher Geschichte(n) Nr. 2 vom Januar 2000) vorerst einmal beendet.
Die Diagnose betrifft zwar vor allem die frühe Phase des Wandels in der Schreibweise des Ortsnamens «Weiach» seit dem Mittelalter, berührt aber auch seine Aussprache. Und letztlich die spätere Entwicklung bis heute.
Eine Lücke in der Sprache
Hiatusdiphthongierung ist eine Erklärung für das im jüngst publizierten Chuchichäschtli-Artikel (WeiachBlog Nr. 1552) aufgezeigte Problem der Aussprache des Ortsnamens. Oder anders formuliert: dieses Konzept erläutert, weshalb man den Trennstrich zwischen den Silben nicht wie in «Wei-ach» setzen sollte, sondern eigentlich wie in «We-iach».
Doch alles der Reihe nach.
Der Fachbegriff Hiatusdiphthongierung bezeichnet nach dem Glossar von Ad Fontes (einer Plattform, die beim Lesen alter Handschriften und der Archivarbeit enorm hilfreich ist) einen Effekt, der beim Wandel vom Mittelhochdeutschen in die Frühformen des Neuhochdeutschen auftrat:
«Lautlicher Wandel, bei dem die mhd. Langvokale î, û und iu (lang u) zu ei, au und eu wurden, wenn sie in Hiatusstellung auftraten, d.h. dass zwei Vokale aufeinander folgen, aber zu verschiedenen Silben gehören wie mhd. bû-en oder wî-er.»
Ein Hiatus oder Hiat ist ein Spalt oder eine Kluft. In der Linguistik wird damit das auch in der Aussprache sich bemerkbar machende Phänomen bezeichnet, das auftritt, wenn auf beiden Seiten einer Silbengrenze ein Vokal oder Diphthong steht, wie beispielsweise in «Ru-ine» oder «Re-aktion».
Ein Diphthong (nicht zu verwechseln mit einem Umlaut) ist ein Doppellaut («Di» steht für die Zahl 2), der aus zwei verschiedenen Vokalen innerhalb einer einzigen Silbe besteht.
Der Ortsname «Wiach» (vgl. die älteste erhalten gebliebene Notierung in WeiachBlog Nr. 1400), später häufiger als «Wyach» geschrieben, wurde damit zu «Weyach» und schliesslich zu «Weiach».
Der Wechsel von Mittelhochdeutsch zu Frühneuhochdeutsch
In der Deutschschweiz ereignete sich dieser Wandel (im Gegensatz zu anderen deutschsprachigen Gegenden, wo er offenbar schon um 1350 stattgefunden hat) erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts (vgl. den Artikel zur Mittelhochdeutschen Sprache in der Wikipedia).
In einigen Regionen, wie der Zentralschweiz, dem Freiburgischen, vor allem aber dem Oberwallis, wurde dieser Schritt von den dort Einheimischen bis heute nicht nachvollzogen.
Sprachwissenschaftler haben vor einigen Jahrzehnten, als die Mobilität noch nicht so ausgeprägt war wie heute, die Aussprache ermittelt und deshalb kann man auf Karten Isoglossen zeichnen. Das sind Linien, die Gebiete mit unterschiedlichem Wortgebrauch voneinander abgrenzen, siehe den Sprachatlas der Deutschen Schweiz.
Auch bei der Hiatusdiphthongierung zieht sich eine solche Grenze quer durch die Deutschschweiz. Wie die Lokalenzyklopädie Chamapedia für die Zuger Gemeinde Cham feststellt (und auf einer Karte abbildet), ist die dort früher übliche Sprache in diesem Punkt eine andere als die in der Nachbargemeinde Zug. Dort hat sich die alte Lautung des Mittelhochdeutschen erhalten. Man sagt dort «schnyye», «Blyyschtift», «buue». In Cham hingegen heisst es «schneïe», «Bleïschtift», «boüe», wie das auch in Weiach der Fall ist.
Das Trema hätte man nicht entsorgen dürfen
Bei den Doppelpunkten über den «i» der Chamer Beispiele (sog. diakritische Zeichen) handelt es sich nicht etwa um eine Abkürzung für ein «e» (in alter Sütterlinschrift), was einen Umlaut anzeigen würde, sondern um ein Tremazeichen, also um Trennpunkte. Die machen genau diesen Hiat deutlich.
Und ebendeshalb hat man früher auch Weÿach geschrieben (vgl. die Abbildung in WeiachBlog Nr. 1552 aus dem Weissen Register, das 1717 entstanden ist).
Wenn man dieses diakritische Zeichen fahrlässigerweise weglässt, dann fehlt das Signal für den Leser, dass es sich im Fall von «Weiach» eben NICHT um einen Diphthong -ei- handelt.
Die moderne, querbeet vereinheitlichungswütige Zeit und die Verwendung von Schreibmaschinen mit Tastaturen, die die Darstellung eines Trema höchst umständlich machen (Platz hatte es nur für Umlaute), das alles hat dazu beigetragen, dass die alte Aussprache mit dem Hiat fast nur noch in der Erinnerung der schon länger Ortsansässigen erhalten geblieben ist.
Die überwiegende Mehrheit aller Anderen glaubt deshalb im Angesicht von «Weiach», einen Diphthong -ei- vor sich zu haben. Der selbstverständlich auch so ausgesprochen werden muss.
Et voilà, da haben wir des Chuchichäschtlis Geheimnis: einen Sprachbetriebsunfall.
Was wäre gewesen, wenn...
P.S.: Da gab es im 13. und 14. Jahrhundert doch einmal die Schreibweisen «Wiiach» bzw. «Wijach». Würde unser Dorf auf der südlichen Seite der Isoglosse liegen, dann wäre der Unfall möglicherweise nicht passiert. Auch nicht bei einer Schreibweise «Wejach». Da hätte man wohl die Silbengrenze eher zwischen e und j gesetzt. Unabhängig davon, ob man das -j- als Halbvokal oder Halbkonsonant versteht.
Danksagung
Der Dank für die Diagnose geht an die Mitarbeiter des Projekts Zürcher Siedlungsnamenbuch. In deren Eintrag zur Gemeinde Weiach (Abschnitt Deutung) auf ortsnamen.ch habe ich das zungenbrecherische Fachwort nämlich jüngst gefunden. Weiterer Dank an Chamapedia und Ad Fontes.
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