Das letzte Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts war im Kanton Zürich ein Schreckensdezennium. Der Historiker Walter Letsch hat sich auf die Demographie unseres Kantons in der Frühen Neuzeit zwischen Reformation und dem Zusammenbruch des Ancien Régime spezialisiert. Er spricht in seinem Beitrag «Die unbekannte Hungersnot von 1692/93» (vgl. Zürcher Taschenbuch 2022, S. 73-96) von einer der grössten Katastrophen, die die Zürcher Bevölkerung je erleiden musste. Der Autor schätzt, dass von 127'000 Einwohnern nicht weniger als 14 Prozent verhungert sind.
Sozialhilfeempfänger haben nichts mehr zu melden
Über diese Zeit hat auch Dr. h.c. Heinrich Morf publiziert. Das Neujahrsblatt 1874 der Hülfsgesellschaft Winterthur brachte seinen Aufsatz «Aus der Geschichte des zürcherischen Armenwesens».
Aus diesem Werk hat die Neue Zürcher Zeitung (Nummer 609, 31. Dezember 1972) für einen Beitrag über die Neujahrsblätter der Zürcher Landschaft die folgenden Informationen entnommen:
«Im Gegensatz zu den Armen der Stadt, die ihr Brot am Samstag im Refektorium des Augustinerklosters bezogen, empfingen es jene der Landschaft am Sonntag nach der Morgenpredigt vor versammelter Gemeinde. Vorgängig wurde jeweils daran erinnert, daß die Empfänger des Almosens von der Gemeindeversammlung ausgeschlossen seien.»
Kollekte in der Kirche wenig ertragreich
Kein Wunder also, dass niemand von Sozialhilfe abhängig sein wollte, bei dieser Art der doppelten öffentlichen Stigmatisierung. Wer ein Brot aus der Armenkasse nahm, der hatte politisch nichts mehr zu melden. Er war sozusagen ehrlos und musste – ohne mitreden zu können – trotzdem die Beschlüsse der Gemeinde mittragen.
«Da das Almosenamt befürchtete, trotz guten Einkünften seinen Aufgaben nicht gerecht werden zu können, wurden die Gemeinden 1620 aufgefordert, inskünftig nach der Sommer- und Herbsternte Steuern in Form von Naturalien für die Armen einzuziehen. Das Ergebnis war gering; denn lange nicht alle Gemeinden kamen dieser Aufforderung nach. Von 1622 an mußte daher zur Aeufnung eines Armengutes an jedem Sonntag oder wenigstens an jedem Fest- und Bettag in der Kirche das «Säcklein» aufgehoben werden. Diesem «Säckligeld» blieb jedoch der Erfolg ebenso versagt wie dem jahrzehntelangen Kampf gegen Bettelei.»
Ökonomische Enquête 1692
Bürgermeister und Rat liessen es halt dann achselzuckend einfach schleifen, was in besseren Zeiten noch halbwegs tragbar war, jedenfalls aus Sicht der Obrigkeit. In dieser Grosskatastrophe 1692/93 aber, da konnte man nicht mehr wegsehen und wurde gezwungen, auf Ursachensuche zu gehen:
«Um den Grund des Uebels erfassen zu können, veranlaßte der Rat 1692 eine genaue Abklärung der ökonomischen Verhältnisse in allen Gemeinden des Kantons. Die Pfarrer hatten in sämtlichen Haushaltungen ihrer Gemeinde ein genaues Verzeichnis der Familienmitglieder aufzunehmen sowie abzuklären, welche «Handarbeiten» diese verrichten konnten, und ob beziehungsweise in welcher Form Almosen empfangen würden. [...] Gesamthaft betrachtet, ergibt sich aus dem ganzen Kanton ein recht düsteres Bild. In vielen Gemeinden war mindestens die Hälfte der Bevölkerung auf Brotspenden der Kirche angewiesen; daneben wurden immer wieder «blutarme Haushaltungen» erwähnt, die sich weigerten, Almosen zu empfangen, damit die Hausväter nicht von der Gemeindeversammlung ausgeschlossen wurden.» (Vgl. zu Weiach: Auszug der Ökonomischen Kommission: StAZH B IX 50)
Bettelnde Kinder: Weiach und Stadel förderten das
«Kinder aus solchen Familien zogen bettelnd umher, was zwar verboten war. Es gab aber Gemeinden wie Stadel und Weiach, die, weil die Erträge des Almosenamtes nicht weit reichten, den Armen erlaubten, drei Tage in der Woche vor den Häusern zu «heuschen».
Insgesamt dürften im Jahre 1692 von der 128 000 Einwohner zählenden Landbevölkerung 21 300 Personen unterstützt worden sein. Dabei reichten die Gaben niemals aus, um allen eine richtige Ernährung und ausreichende Kleidung zu gewährleisten. Oft verfügte eine Familie nur über ein einziges Paar Schuhe und Strümpfe. In Fehljahren aßen viele während Wochen nichts anderes als «Gesott von Krüsch und Habermähl», das mit soviel Mutterkorn vermischt genossen wurde, daß etliche «toll und tumlend im Hirne» wurden.»
Mit 16.6 Prozent wies das Zürcher Herrschaftsgebiet also eine sehr hohe Sozialhilfequote auf. Und trotzdem reichte es hinten und vorne nicht. Kein Wunder, dass in diesem Hungerjahr etliche Weiacherinnen und Weiacher definitiv den Entschluss gefasst haben, auszuwandern.
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