Montag, 29. April 2024

Staatenlosigkeit eines Weiacher Bürgers verhindert

Der Begriff Landrecht stand laut Anne-Marie Dubler «ab dem 16. Jahrhundert für den (subjektiven) Rechtsstatus eines in dem betreffenden Land bzw. der Landvogtei oder dem Amt vollberechtigten Niedergelassenen, ferner für das Niederlassungsrecht bzw. die Niederlassungsgebühr.» 

Auf heutige Begrifflichkeiten umgesetzt, ist darunter das Kantonsbürgerrecht zu verstehen. Dies im Gegensatz zum Gemeindebürgerrecht, was bedeutet, dass man in seiner Heimatgemeinde nicht Niedergelassener, sondern vollwertiger Gemeindebürger ist. Diese beiden Rechte haben gegenüber früher (jedenfalls für die Eingebürgerten) zugunsten des Schweizerbürgerrechts stark an Bedeutung eingebüsst.

Der Schultheiss und der Oberamtmann haben keine Bedenken

Wir blenden hundert Jahre zurück, als das Deutsche Reich und die Schweizerische Eidgenossenschaft noch keine Doppelbürgerschaft kannten. Wollte man damals als Schweizer Deutscher werden, dann musste einen die für den Bürgerort zuständige Kantonsregierung erst aus dem Landrecht entlassen. Diesen Antrag stellte ein Weiacher an die Zürcher Regierung:

«Mit Eingabe vom 22. April 1923 stellt Ferdinand Baumgartner, Sägereiarbeiter, von Weiach, wohnhaft in Frickenhausen, Oberamt Nürtingen, Württemberg, geboren in Weiach, Kanton Zürich, am 13. Dezember 1899, durch Vermittlung des Schultheißenamtes Frickenhausen das Gesuch, es möchte ihm die Entlassung aus dem zürcherischen Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht und dem Schweizerbürgerrecht erteilt werden. Laut einer zu den Akten beigebrachten Erklärung des Oberamtes Nürtingen, datiert 19. April 1923, wird dem Ferdinand Baumgartner die württembergische Staatsangehörigkeit verliehen, sobald er eine Bescheinigung der zuständigen schweizerischen Behörde über seine Entlassung aus dem Schweizerbürgerrecht vorlegen wird.» (StAZH MM 3.37 RRB 1923/1486)

Die Direktion des Innern stellte fest, dass die gesetzlichen Bedingungen schweizerischerseits erfüllt seien, es keine Einsprachen dagegen gebe und sowohl der Gemeinderat Weiach als auch der Bezirksrat Dielsdorf beantragten, dem Gesuch zu entsprechen. 

Folgerichtig beschloss der Regierungsrat am 28. Juni 1923 die Entlassung aus dem zürcherischen Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht und dem Schweizerbürgerrecht: «Die Entlassung erstreckt sich ohne weiteres auch auf die Ehefrau und allfällige minderjährige Kinder des Gesuchstellers.» 

Meine Herren, wir haben ein gröberes Sicherheitsproblem

Damit wäre die Angelegenheit nun erledigt gewesen, wenn da nicht eine unerwartete Hürde aufgetaucht wäre. Entgegen der Aufnahmezusicherung durch das Oberamt Nürtingen beschloss die Regierung des Schwarzwaldkreises nämlich am 9. November 1923, das Einbürgerungsgesuch des Ferdinand Baumgartner abzulehnen. Die Sicherheitsorgane in diesem Regierungsbezirk des ehemaligen Königreichs Württemberg (seit 1918 als «Volksstaat Württemberg» unterwegs) betrachteten Baumgartner offenbar als Staatsfeind! Was genau ihm vorgeworfen wurde, ist bislang unklar. 

Im Protokoll der Zürcher Regierung vom 29. April 1924 (am heutigen Datum vor 100 Jahren) steht dazu: «Laut Note der deutschen Gesandtschaft an das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement vom 10. April 1924 beabsichtigt das Oberamt Nürtingen, den Baumgartner wegen staatsfeindlicher Umtriebe aus Württemberg auszuweisen, und verlangt dessen Übernahme durch die schweizerischen Behörden.» (StAZH MM 3.38 RRB 1924/1057). Was für ein Sinneswandel innert eines Jahres! Aber wohl dem Befehl von oben geschuldet.

Einen Staatenlosen zurücknehmen. In diesem Fall alternativlos

Laut dem Regierungsratsprotokoll hatte das Eidg. Justiz- und Polizei-Departement (EJPD) festgestellt, dass der Niederlassungsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Schweiz vom 13. November 1909 die gegenseitige Rücknahme eigener Staatsbürger im Fall ihrer Ausweisung vorsehe. Dasselbe galt nun aber auch für frühere Angehörige des jeweiligen Vertragspartners, soweit sie nicht zwischenzeitlich Bürger eines Drittstaates geworden waren: «Angesichts dieser Vertragsbestimmung kann die Verpflichtung zur Übernahme des Baumgartner nicht abgelehnt werden.» 

Nun war unser Weiacher durch die abrupte Kehrtwende des Oberamts Nürtingen als aus dem Schweizerbürgerrecht Entlassener heimatlos (heute würden wir sagen: ein Staatenloser) geworden. Die Direktion des Innern hielt deshalb fest: «Damit würde Baumgartner als heimatlos geduldet werden müssen, wobei früher oder später eine Zuweisung an den Kanton Zürich zur Heimatloseneinbürgerung doch stattfinden würde.» Sie beantragte daher, die Landrechtsentlassung infolge nachträglichen Wegfalles einer gesetzlich wesentlichen Voraussetzung zu widerrufen, «womit ohne weiteres für Baumgartner und seine Ehefrau und allfällige minderjährige Kinder das Gemeindebürgerrecht von Weiach wieder auflebt.» 

Und so kam es dann auch. Der Regierungsrat widerrief seinen Beschluss über die Landrechtsentlassung und beschloss weiter:

«II. Der Gemeinderat Weiach wird eingeladen, dem Ferdinand Baumgartner auf dessen Verlangen und nach Erfüllung seiner militärischen Verpflichtungen an Stelle des zurückgegebenen Heimatscheines für Ledige, einen neuen Heimatschein für Verheiratete auszustellen.

III. Mitteilung an Ferdinand Baumgartner, Sägewerkarbeiter, in Frickenhausen, an den Gemeinderat Weiach, an den Bezirksrat Dielsdorf, an die Polizeidirektion mit der Einladung, das Übernahmeverfahren zu erledigen und bei dieser Gelegenheit dem eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement zu Handen der deutschen Gesandtschaft von dem Verhalten des Oberamtes Nürtingen Kenntnis zu geben, sowie an die Direktion des Innern.»

Also ein sanfter Hinweis ans EJPD, man möge dem deutschen Botschafter das zürcherische Missfallen über das Verhalten des Oberamts Nürtingen übermitteln.

Quellen und Literatur

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