Montag, 31. Juli 2023

«Ein ganz ohnnottwendig ding»! Feuerwerksverbot vor 400 Jahren

Feuerwerk ist eine höchst umstrittene Sache. Eine, die die Gemüter so richtig in Wallung bringt. Tierliebhaber beklagen die Verstörung ihrer Schützlinge als Folge der Knallerei. Umweltschützer bringen die Belastung durch Feinstaub und Schwermetalle aufs Tapet. Andere können und wollen davon trotz (oder gerade wegen) der damit verbundenen Gefahren nicht Abstand nehmen. Nur schon der Knalleffekte wegen gehört für sie ein richtiges Feuerwerk zum Nationalfeiertag. Wie Höhenfeuer, Bratwurst und Cervelat. Ein Politikum.

Antiknall. Eidgenössische Volksinitiative

So wundert es auch nicht, dass letztes Jahr die Eidgenössische Volksinitiative «Für eine Einschränkung von Feuerwerk» (https://www.feuerwerksinitiative.ch/) lanciert worden ist. Deren Ziel: Alles, was knallt, soll künftig nur noch in Ausnahmefällen erlaubt sein. Wie man in diesen Tagen lesen konnte, seien bereits knapp unter 100'000 Unterschriften zusammengekommen. Die Initiative dürfte die Hürde von ebensovielen gültigen Signaturen also wohl überspringen, was uns in nächster Zeit ein weiteres Volksabstimmungs-Thema bescheren wird.

Nicht nur Kanton und Gemeinde können ein Veto einlegen

Und wenn es für einmal nicht die Dürre ist, die am 1. August zu einem behördlichen Feuerverbot führt, dann kann im Unterland auch ein Privatunternehmen kommunalen Feuerwerks-Vorhaben einen Strich durch die Rechnung machen. 

So titelte der Zürcher Unterländer (Online-Ausgabe) am 25.7.2023: «Flughafen verärgert Gemeinden mit Feuerwerksverbot». Und der Lead erläutert ansatzweise, weshalb: «In Höri und Niederglatt wird es am 1. August kein offizielles Feuerwerk geben. Der Flughafen lehnte die Gesuche der Gemeinden ab».

Hochobrigkeitliches Verbot des Raggetenschiessens

Wie Sie, geneigte Leserinnen und Leser, schon anhand des Titels erraten haben, ist der Versuch, diese ganze Pyromantik zu unterbinden, schon vor Jahrhunderten unternommen worden. Sicherheitsbedenken hatte man damals schon. Die Brand- und Explosionsgefahren sind schliesslich nicht von der Hand zu weisen.

In einem auf die 1620er-Jahre zuzuordnenden Dekret, einem sog. Mandat, hat die Regierung des Zürcher Stadtstaates ein Totalverbot ausgesprochen. Sie hat das wie folgt begründet:

«Alß auch fehrners wolgesagt unser g[nedig]en h[err]en in betrachtung genommen, was gestalten us dem allhie überhand nemmenden Raggeten schiesen lychtlichen groses unglück entstehn, und bald unwiderbringlicher schaden hardurch verursachet werden mochte, somliches aber ein ganz ohnnottwendig ding ist; 

So laßent hiemit villwolernant unser g[nedig]en h[err]en das Raggetenschießen allhie auch genzlichen verbieten, und darvon jederman oberkeitlichen abmannen und verwarnen, by ihrer straf und ungnad.»

Dem Autoren dieses Artikels nicht bekannt ist, wie dieses Verbot gewirkt hat. In der Sammlung von Campi und Wälchli, die bis ins Jahr 1675 reicht, ist jedenfalls kein weiteres Raketenverbot zu finden.

Studierenden wird Umgang mit Pulver und Raketen untersagt

Dafür aber in Akten derjenigen Behörde, die heute Bildungsdirektion genannt wird. Eingereiht ist der Erlass unter «Mancherlei Erkanntnussen [...] betreffend Excess der Studiosorum» (StAZH E I 19.1, Nr. 3). Da hatten also Studenten über die Stränge gehauen.

Ein auf den 3. August 1703 datierter Ratsbeschluss verlangt von den «Verordneten zur Lehr», dass «das Abfeuern von Raketen und der Umgang mit Pulver, sonderlich zur Nachtzeit, den Schülern ernstlich zu verbieten sei». (StAZH E I 19.1, Nr. 3.15)

Quelle

  • Nr. 211. Besuch der Katechismus-Predigten; Reiten an Sonntagen nach Baden; Schiessen mit Raketen (1620?). In: Campi/Wälchli (Eds.): Zürcher Kirchenordnungen 1520-1675. Theologischer Verlag Zürich, 2011 - S. 573 [2 Bde. mit insg. 1452 Seiten] -- Die Herausgeber haben dieses Mandat im Dossier StAZH A 42.4 [1561-1616] gefunden.

Sonntag, 30. Juli 2023

Spende für Dr. Sagers Osteuropabibliothek

«Der Feind ist rot und kommt von Osten!» Wer seine Sozialisation in der Schweiz während des Kalten Kriegs (1947-1989) durchgemacht hat, der weiss aus eigenem Erleben, was mit diesem plakativen Propaganda-Spruch gemeint ist. Und wie er zu verstehen ist. Gemeint ist die Farbe der Kommunisten, im konkreten Fall das Rot der Flagge der UdSSR mit gekreuzten Symbolen, Hammer und Sichel.

Kommunisten wollen uns angreifen, vernichten, etc. Das war das Leitnarrativ damaliger Zeiten. Heute sind es statt der Sowjets «die Russen».

Ungarn 1956: Solidarität mit dem Kleinen

Das prägende Ereignis der 1950er-Jahre war für die Weiacher nicht so sehr der Volksaufstand des 17. Juni 1953 in der noch jungen DDR. Es war vielmehr der Kampf der Ungarn gegen den Einmarsch der Sowjetarmee vom 1. bis 4. November 1956, der auch für die Volksmeinung in Weiach prägend war und zu diversen Aktivitäten führte, vgl. den Protokolleintrag des Frauenvereins Weiach in WeiachBlog Nr. 339

Und damit war unser Dorf nicht allein, wie man auch dem Artikel Ungarn im Historischen Lexikon der Schweiz entnehmen kann: «Einen kritischen Höhepunkt erfuhren die ungarisch-schweizerischen Beziehungen 1956 anlässlich der durch sowjetische Truppen niedergeschlagenen Revolution in Ungarn. Eine beispiellose Sympathie- und Solidaritätswelle schlug sich in der Schweiz nebst Hilfslieferungen besonders in der Aufnahme von über 20'000 Flüchtlingen nieder, die meist problemlos integriert wurden.»

Antikommunismus ist Mainstream

Es ist daher auch kein Wunder, dass die Angst und das Bedrohungsgefühl nicht mehr speziell geschürt werden mussten. Da war der Anschauungsunterricht dieser Machtdemonstration des Spätstalinismus völlig ausreichend. 

Wer es jetzt noch wagte, kommunistische Ideen zu äussern, der wurde schnell verdächtig und wenn er oder sie im falschen Beruf tätig war, beispielsweise als Lehrer, dann stellte sich schon einmal ein ganzer Lehrkörper geschlossen gegen diesen Verräter und verlangte von den Behörden seine sofortige Entlassung.

In Weiach führte seit Jahren ein glühender Patriot die Geschicke der Gemeinde. Als solcher darf Gemeindepräsident Albert Meierhofer-Nauer mit Fug und Recht bezeichnet werden. Loyal zur Heimat stand nach der Bedrohungserfahrung des Zweiten Weltkriegs auch die überwiegende Mehrheit der Weiacherinnen und Weiacher. Wer diese Haltung nicht teilte, wird den Teufel getan haben, dies offen zum Ausdruck zu bringen.

Selbstverständlich war auch Walter Zollinger in Richtung geistiger und physischer Landesverteidigung gepolt. In seiner Jahreschronik 1960 notiert er:

«Auf Antrag des Aktuars bewilligte die Schulpflege einen Beitrag von Fr. 100.- an die "Stiftung Schweizerische Osteuropabibliothek" in Bern, ein Zweig des "Schweiz. Ost-Institutes" (S.O.I.) unter Dr. Peter Sagers Leitung.» [G-Ch Weiach 1960, S. 12]

Was hier nicht steht, jedoch aus einer früheren Jahreschronik hervorgeht: Bei diesem Aktuar handelte es sich um den Chronikverfasser selber (vgl. WeiachBlog Nr. 1958).

Wer war Dr. Sager?

Dr. Peter Sager im Jahre 1986. 
Quelle: Bibliothek am Guisanplatz, Sammlung Rutishauser, Wikimedia CC BY-SA 4.0

Hier wurde also eine Spende aus Steuermitteln ausgerichtet. Da musste sich die Schulpflege schon sehr sicher sein, dass dies von der überwiegenden Mehrheit der Stimmberechtigten ohne grosse Diskussion gutgeheissen würde, sonst hätte man sich eine solche Ausgabe nicht erlauben können.

Peter Sager (1925-2006) war in dieser Hinsicht für seine Weiacher Zeitgenossen über jeden Zweifel erhaben. Zu seinem Werdegang schreibt das Historische Lexikon der Schweiz:

«1952 Dr. rer. pol., 1952-54 am Soviet Union Program der Univ. Harvard. Unter dem Eindruck des Totalitarismus sowjet. Prägung ab 1948 in Bern systemat. Aufbau der Osteuropa-Bibliothek (seit 1997 Schweiz. Osteuropabibliothek) sowie 1959 Gründung des Schweiz. Ost-Instituts, 1959-91 dessen Leiter. 1945-91 Mitglied der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB, später SVP) [...]»

First-rate propagandist

Die Osteuropa-Bibliothek gab es also schon geraume Zeit. Nun hatte sie mit dem Ost-Institut auch noch eine institutionelle Umhüllung erhalten. Dieses erhielt die Aufgabe, die Entwicklung im Ostblock mit wissenschaftlichen Methoden zu beobachten und diese einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. 

«Aber jede sachliche Arbeit im Zusammenhang mit dem Kommunismus ist notwendigerweise eine Aufklärung über das Wesen dieser Bewegung und weist deshalb politischen Charakter auf.» (zit. n. Wikipedia-Artikel Schweizerisches Ostinstitut)

Dieser Satz aus dem Memorandum, einer Art Missionsbeschreibung aus dem Jahre 1963, zeigt deutlich die Stossrichtung auf, die ihre transatlantische Prägung über das Soviet Union Program einer U.S.-Top-Universität nicht leugnen kann. Sager wurde dadurch vom Wissenschaftler immer stärker zum Politaktivisten:

«Dieser Rollenwechsel akzentuierte die immer schon vorhandene politisch-aufklärerische Note der wissenschaftlichen Feindforschung in der Tätigkeit Sagers: Ausländische Geheimdienstkreise qualifizierten ihn deshalb als ,not very scientific, but a first-rate propagandist‘» [Christophe von Werdt (2014), zit. nach Wikipedia-Artikel Peter Sager]

Quelle und Literatur

  • Zollinger, W.: Gemeinde Weiach. Chronik des Jahres 1960 - S. 12. Typoskript in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich. Signatur: G-Ch Weiach 1960.
  • von Werdt, Ch.: Sager, Peter. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 07.02.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/006777/2011-02-07/, konsultiert am 30.07.2023.
  • Christophe von Werdt: Peter Sager und die Ostforschung in der Schweiz. In: Religion und Gesellschaft in Ost und West, Jg. 42 (2014), H. 3, S. 23.
[Veröffentlicht am 31.7.2023 um 00:55 MESZ]

Freitag, 28. Juli 2023

Die Gerätebaracke als Turnlokal bei Schlechtwetter?

In der Jahreschronik 1959 vermerkt Walter Zollinger eine bauliche Innovation auf dem Schulareal. Dabei schimmert seine Profession als Lehrer der oberen Primarschulklassen unweigerlich durch. Unter dem Titel «Polit. Gemeindegut» schreibt er:

«Da der alte, abbruchreif gewordene und auch zu kleine Turngeräteschopf wegen der Erstellung der Spielwiese gottlob verschwinden muss, beantragt der Gemeinderat die Anschaffung einer grösseren, von der Gemeinde Opfikon käuflichen Baracke. Diese soll bis zum Bau einer Turnhalle zugleich auch als "Turnlokal" für Schlechtwetter dienen. Kosten Fr. 3'700.-. Die Gemeindeversammlung vom 2.5. bewilligt diesen Kredit.»

Umgerechnet nach dem Historischen Lohnindex von swistoval.ch wären das heute rund 30'000 Franken. Man sieht hier, dass die Politische Gemeinde sich auch schon in «Vorkieszeiten» in Schulbelangen finanziell engagiert hat. Mit der mehrheitsbeschaffenden Begründung, dass die Sportvereine ja dann auch einen Nutzen davon haben, nicht nur die Schule.

Bildlegende: «Neuer Geräteschopf»

Eher die Dreschscheune genutzt

Wie sich die Herren Gemeinderäte das mit dem «Turnlokal» wohl vorgestellt haben? Schon Zollinger hat diese Bezeichnung nicht ohne Anführungszeichen durchgehen lassen. Laut einem heute noch aktiven Mitglied der Männerriege, das diese Zeit selber miterlebt hat, habe man in der neuen Baracke drin immerhin «den Handstand machen» können. 

Tatsächlich sei dann allerdings eher die Dreschscheune der Elektrizitätsgenossenschaft genutzt worden, wenn die Witterung allzu schlecht ausgefallen ist. Dieses Gebäude wurde 1919 errichtet und nach einem Brand 1940 wiederaufgebaut. Sie beherbergte später das Lager von Pneu Müller (heute First Stop), wurde 2002 runderneuert und trägt jetzt die Adresse Grubenweg 1.

Turngerätedepot als Datierungshilfe

Der alte Schopf und die neue Occasionsbaracke können nun als Marker verwendet werden: zur Datierung von Aufnahmen, auf denen die Hofwiese zu sehen ist. Fehlt die Baracke, dann deutet das auf eine Zeit vor dem Sommer 1959 hin (sog. Terminus ante quem), ist sie vorhanden, auf danach (sog. Terminus post quem). In letzterem Fall kann die Aufnahme nicht vor diesem Zeitpunkt entstanden sein.

Eine Luftbildaufnahme von 1953 zeigt auf dem Schulhausdach noch deutlich das im Zweiten Weltkrieg als Hinweis an alliierte Flugzeugbesatzungen aufgemalte weisse Schweizerkreuz. Rechts davon der Pausenplatz mit Kletterstangen und am Rande der Geräteschopf:

ETH-Bibliothek Bildarchiv, LBS_H1-015087, 1953 (Ausschnitt)

So gross war die Baracke wirklich nicht

Auf einer jüngeren Aufnahme, 10 Jahre später, zeigt sich das Schweizerkreuz noch verblichener. Deutlich hervorstechend die jüngst umgesetzten Bauprojekte: die Stützmauer der neuen Spielwiese, samt einem mauerparallel am Nordwestrand installierten hohen Zaun, der verhindern sollte, dass die Bälle reihenweise auf dem Nachbargrundstück gesucht und dort das Gras zertrampelt werden musste. In einem Zwischenniveau eine Sprintbahn, die in Richtung Berg und Chälen mit ziemlich hohen Stützmauern abgesichert wird. Und: man sieht die 1959 angekaufte Baracke, samt den Fundamenten, auf die sie gestellt wurde:

ETH-Bibliothek Bildarchiv, Com_F63-00686, 1963 (Ausschnitt)

Ein aus leicht anderem Winkel ein Jahr später aufgenommenes Luftbild zeigt, wie die Baracke (in den 70ern zu Gunsten des neuen Schulhauses abgebrochen) und das (zwischen 1998 und 2002 ebenfalls abgebrochene) sog. Kellerhäuschen im Verhältnis zueinander standen.

ETH-Bibliothek Bildarchiv, LBS_H1-024537, 1964 (Ausschnitt)

Quelle

  • Zollinger, W.: Gemeinde Weiach. Chronik des Jahres 1959 - S. 7. Weiach, Juli 1961. Typoskript in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich. Signatur: G-Ch Weiach 1959.
[Veröffentlicht am 29. Juli 2023 um 16:01 MESZ]

Donnerstag, 27. Juli 2023

«Die fürgesetzten der gmeind». Wer bei uns 1958-62 das Sagen hatte

In einigen der alten Weiacher Turmkugeldokumente sind die sog. Vorgesetzten der Gmeind aufgeführt. Es wird also eine Liste der Amtsträger gegeben.

So schreibt der Weiacher Pfarrherr Johann Rudolf Erni, datiert auf den 14. Februar 1659 (nach julianischem Kalender), im ältesten erhalten gebliebenen Dokument (KTD 1):

«jetz welind wir die fürgesetzten der gmeind melden:
hern hanss Rudolf Ernj pfarher welcher predigtet alhier,
Mathiss Baumgartner Vogt,
Andres Bersinger auch geschworner.
»

Bei Baumgartner und Bersinger handelte es sich um die von den beiden Obrigkeiten, dem Rat der Stadt Zürich und dem Fürstbischof von Konstanz eingesetzten Amtsträger.

Eine alte Tradition aufgenommen

Auch wenn Chronist Walter Zollinger die Originale vor der grossen Restauration der Kirche Mitte der 1960er-Jahre nicht zu Gesicht bekommen hat, so dürften ihm die Inhalte dennoch nicht unbekannt gewesen sein, denn da gab es mehrere Abschriften, u.a. eine, die 1855 durch Pfr. Konrad Hirzel ins Stillstandsaktenbuch («Protocoll der Kirchenpflege Weÿach» von 1838 bis 1884) eingetragen wurde, eine weitere durch Pfarrer Ernst Wipf (in den Jahren 1903-1907; sog. Wipf-Akten), sowie eine von seinem Lehrerkollegen Adolf Pfister in den Jahren 1936-1942 erstellte Abschrift, die Eingang in den sog. Ortsgeschichte-Ordner gefunden hat.

Dieser Tradition folgend hat sich Zollinger entschieden, in der Einleitung zur Jahreschronik 1958 die sich – 300 Jahre nach Erni – an der Macht befindlichen «Vorgesetzten» mit vollem Namen aufzuführen.

Ein massgebender Unterschied zu damals: diese Amtsträger wurden samt und sonders ohne Beeinflussung durch die Obrigkeiten von den in Weiach ansässigen Stimmberechtigten gewählt.

«Die diesjährigen allgemeinen Gemeindewahlen geben Anlass, einmal unsere Behördemitglieder [sic!], wie sie sich für die Amtsdauer 1958/62 ergeben haben, namentlich aufzuführen:

Gemeinderat:

Albert Meierhofer-Nauer  Präsident  [vgl. u.a. WeiachBlog Nr. 426]
Fritz Näf-Schmid
Gottlieb Griesser-Oeschger
Ernst Bersinger-Bernhard
Otto Meierhofer-Spühler
(Gemeindeschreiber und Gutsverwalter: Ernst Pfenninger-Bühler)

Armenpflege:

Heinrich Baltisser-Bösiger  Präsident
Otto Meierhofer-Spühler
Ernst Bersinger-Willi  Verwalter
Ernst Rüedlinger-Näf
Kurt Ackerknecht, Lehrer (Letzterer zugleich Aktuar)

Kirchenpflege:

Rudolf Meierhofer-Müller  Präsident
Karl Gut-Willi
Ernst Baumgartner-Brennwald  Verwalter   
[vgl. u.a. WeiachBlog Nr. 1479]
Rudolf Schenkel-Meierhofer
Willi Ryhiner-Landenberger, Pfr.
Albert Erb-Saller   
[vgl. u.a. Weiacher Geschichte(n) Nr. 72]
Wilhelm Kuster-Sidler (Letzterer zugleich Aktuar)

Primarschulpflege:

Ernst Pfenninger-Bühler  Präsident
Albert Schenkel-Griesser
Ernst Baumgartner-Imhof   Verwalter
Ernst Bersinger-Bernhard
Hans Meier-Bleuler
(Aktuar: W. Zollinger, Lehrer)

Rechnungsprüfungskommission:

Jakob Meierhofer-De Bastiani  Präsident
Walter Kölliker-Schmid
Ernst Baltisser-Nüssli
Hans Schenkel-Albrecht
Albert Griesser-Willi (Letzterer zugleich Aktuar)

Vorstand der Elektrizitätsgenossenschaft:

Walter Zollinger-Funk  Präsident
Albert Erb-Saller
Ernst Baumgartner-Imhof  Verwalter
Heinrich Baltisser-Bösiger
Albert Meierhofer-Meier
Fritz Näf-Schmid
Albert Meierhofer-Nauer (Letzterer zugleich Aktuar)
»

Dreimal identische Namen

Selbst seinen eigenen Namen hat der Chronist in dieser Aufstellung als Allianznamen ausgeschrieben, was sonst in keiner Weise seinen Gepflogenheiten entsprach. 

Um ihn selber eindeutig identifizieren zu können, wäre das nicht nötig gewesen. Sehr wohl aber, wenn es um die diversen Baltisser, Baumgartner, Bersinger, Griesser, Schenkel, Meierhofer, Meier und andere weitverzweigte Weiacher Geschlechter geht. 

Nur schon innerhalb obiger Liste von Funktionsträgern gibt es zwei Albert Meierhofer, zwei Ernst Bersinger und zwei Ernst Baumgartner! Ohne Zusatzbezeichnungen irgendwelcher Art (und seien es als Alternative individuelle Jahrgänge, oder die Übernamen der einzelnen Familienzweige) hat man schon da keine Chance, sie auseinanderzuhalten.

Ebenso auffällig ist, wie häufig Doppelämter sind. Sei es nun, weil fähige (und amtsbereite) Amtsträger schon damals nicht einfach zu finden waren oder weil man so auch ganz praktische Synergien nutzen konnte.

Versammelte Weichensteller

Die oben genannten Männer (Frauen hatten damals in der Politik höchstens indirekt etwas zu sagen, z.B. über ihren Ehemann) nehmen eine für die Gemeinde Weiach sehr wichtige Rolle ein. 

Sie waren es, die massgeblich die Entwicklungsrichtung und -modalitäten bestimmt haben, als es just in diesen entscheidenden Jahren von 1958 bis 1962 um die Frage ging, wie die Kiesreserven unter dem Weiacher Boden genutzt werden sollen.

Ob man den Kiesabbau und seine Folgen kritisch sieht (wie Chronist Zollinger, vgl. u.a. WeiachBlog Nr. 1318) oder ihn rein positiv bewertet: Es ist unbestritten so, dass Weiach seither nicht mehr das ist, was es bis dahin gewesen war. Diese Herren haben epochale Entscheidungen auf die Schiene gebracht. Mit Auswirkungen bis weit in die Zukunft hinein. Die eigene und selbst die der heutigen Weiacherinnen und Weiacher.

 Quellen und Literatur

  • Erni, J. R.: Turmkugeldokument Nr. 1, datiert 14. Februar 1659, St.v. (Signatur: OM Weiach KTD 1)
  • Zollinger, W.: Gemeinde Weiach. Chronik des Jahres 1958 – S. 1-2. Weiach, August 1960. -- Typoskript in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich. Signatur: G-Ch Weiach 1958.

Mittwoch, 26. Juli 2023

Klassenfotos, von der Bildungsdirektion organisiert?

In seiner Jahreschronik 1957 vermerkte Walter Zollinger lapidar: «2. Mai: Schulphotograph Haagmans Zürich macht die alle 3 Jahre üblichen Gesamtphotos.». 

Diese Jahreschronik findet man heute in der Zentralbibliothek (ZBZ) am Predigerplatz in der Zürcher Altstadt. Ebenfalls auf Stadtgebiet, aber auf dem Milchbuck, sind die Originale dieser «Gesamtphotos» eingelagert. In den Untergeschossen des Staatsarchivs des Kantons Zürich (StAZH). 

Abliefernde Stelle für die unten eingerückten Bilder war der kantonale Lehrmittelverlag, der zur Bildungsdirektion gehört. Bedeutet das nun, dass diese Fotos durch den Kanton angeordnet wurden?

Nein, so ist das nicht. Die Haagmans, Vater und Sohn, waren Unternehmer. Und haben sich über Jahrzehnte hinweg darauf verstanden, sehr viele Schulgemeinden davon zu überzeugen, dass Klassenfotos sozusagen zum Courant normal gehören.

Alle drei Jahre? Bei uns nur so ungefähr  

Für Weiach ist die von Zollinger behauptete Dreijahresfrist nur so ungefähr eingehalten worden. Das muss jedenfalls vermuten, wer davon ausgeht, dass alle je von den Haagmans geschossenen Klassenfotos erhalten geblieben sind. Heute beim StAZH vorhanden sind nämlich nur solche aus den Jahren 1938, 1943, 1947, 1950, 1954, 1957, 1961, 1963, 1968 und 1970.

Auch bei unseren zürcherischen Nachbargemeinden waren die Haagmans über Jahre hinweg sozusagen die Hoffotografen, was Klassenfotos betrifft: In Glattfelden und Stadel von 1931 bis 1990, in Bachs zwischen 1938 und 1954 und in Neerach ab 1939 bis 1972.

Nachstehend die beiden Aufnahmen, die auf diesen eingangs erwähnten 2. Mai 1957 datiert sind:

Obere Klassen. Lehrperson: Herr Walter Zollinger mit 43 Schülerinnen und Schülern

Untere Klassen. Lehrperson: Herr Kurt Ackerknecht mit 46 Schülerinnen und Schülern

Quellen und Literatur

  • Primarschule Weiach. Realabteilung. Lehrperson: Herr W. Zollinger. Aufnahme vom 2. Mai 1957. Signatur: StAZH W I 90.36551.
  • Primarschule Weiach. Elementarabteilung. Lehrperson: Herr K. Ackerknecht. Aufnahme vom 2. Mai 1957. Signatur: StAZH W I 90.36553.
  • Zollinger, W.: Gemeinde Weiach. Chronik des Jahres 1957 – S. 12. Typoskript in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich. Signatur: G-Ch Weiach 1957. Weiach, im August 1959.
  • Brandenberger, U.: Die Klassenfotos von Hubert & Walter Haagmans. WeiachBlog Nr. 1776 v. 9. Dezember 2021.

Dienstag, 25. Juli 2023

Unbeleuchtetes Fuhrwerk auf der Hauptstrasse gerammt

Für die Jahreschronik 1956 musste Walter Zollinger unter der Rubrik Schulwesen einen Nachruf auf einen seiner eigenen Schüler verfassen:

«Ein ganz schwarzer Tag für uns Schüler und Lehrer wurde der 5. November dieses Jahres. Walter Hauser, Schüler der 8. Klasse, verunfallte am Abend ca. 18.00 Uhr auf der Heimfahrt vom Feld so schwer, dass er in der darauffolgenden Nacht an innern Verletzungen starb. Walter war ein ruhiger, aber frohgemuter Bursche, ein allzeit hilfsbereiter Kamerad gegenüber jüngern Mitschülern und ein uns Lehrern gegenüber offenes Gemüt. Es ist wirklich schade um diesen tapfern Kameraden und das Mitleid mit den schwergeprüften Eltern, die ihren Aeltesten so unerwartet rasch verlieren mussten, ist im Dorf ein wirklich ehrliches und allgemeines; das zeigte die grosse Beteiligung an der Beerdigung des Knaben am 8. November.»

Unter diesem Text hat der Chronist einen Zeitungsausschnitt zu diesem Verkehrsunfall eingeklebt, den er jedoch (wie leider bei Zollinger häufig anzutreffen) weder mit einer Herkunftsangabe, noch mit einem Datum versehen hat. Der Artikel dürfte aufgrund seiner Ausführlichkeit in einer der von ihm abonnierten regionalen Unterländer Zeitungen publiziert worden sein, d.h. dem Zürcher Unterländer, dem Zürichbieter oder dem Bülach-Dielsdorfer Volksfreund (der ab Juni 1957 unter dem Titel Neues Bülacher Tagblatt erschien):

Immer wieder das unbeleuchtete landwirtschaftliche Fahrzeug

«Am Abend des 5. November 1956, ca. 18.00 Uhr, fuhr der in Weiach wohnhafte Landwirt Hauser Edwin mit seinem von zwei Kühen gezogenen Pneuwagen auf der Glattfelderstrasse gegen seine Behausung in Weiach.. Auf dem mit Gras beladenen Wagen, an welchem auch noch ein Pflug angehängt war, hatte auch sein 14-jähriger Sohn Platz genommen. Trotz vollständiger Dunkelheit, war das Fahrzeug nicht beleuchtet und die beiden am Brückenwagen angebrachten Veloschilder aus dem Jahre 1952 erwiesen sich als wirkungslos. Ein von Glattfelden her in gleicher Richtung fahrender Personenwagen bemerkte das vorerwähnte Gefährt zu spät und prallte mit voller Wucht auf den Pflug und den Pneuwagen auf. Durch den Aufprall wurde der Knabe Walter nach rückwärts vom Fahrzeug geschleudert und erlitt durch den Sturz und den Aufprall auf den Pflug eine Oberschenkelfraktur rechts. Im weitern erlitt eine Insassin des PW leichtere Rippenquetschungen und der Lenker des Fuhrwerkes musste sich mit Schürf- und Quetschwunden in ärztliche Behandlung begeben. Der Knabe ist inzwischen seinen Verletzungen erlegen.»

Gleicher Unfall, andere Folgen. Sagt die Agenturmeldung.

Liest man nun die in der nationalen Tagespresse erschienenen Kurzmeldungen zu demselben Vorfall, dann reibt man sich die Augen. Denn da werden gleich mehrere Eckdaten anders dargestellt:

«Dielsdorf, 8. Nov. ag  In Weiach stieß am Montagabend ein Pferdefuhrwerk, dem ein Pflug angehängt war, mit einem Auto zusammen. Auf dem Pflug saß der vierzehnjährige Walter Hauser. Er mußte schwer verletzt ins Spital gebracht werden, wo er starb. Ein kleinerer Knabe, der ebenfalls auf dem landwirtschaftlichen Gefährt mitfuhr, erlitt Verletzungen.»

So steht es in der Abendausgabe der Neuen Zürcher Zeitung vom 8. November 1956 auf Seite 2.

Bis auf redaktionelle Anpassungen identische Kurznachrichten erschienen am 9. November in den Freiburger Nachrichten unter der Rubrik «Unglückschronik» (S. 2) sowie am selben Tag im «Zürcher Spiegel» der Migros-Zeitung Die Tat (S. 6).

Rindvieh oder Pferde als Zugtiere?

Ein heftiger Zusammenstoss. Immerhin darüber besteht kein Zweifel. Aber schon bei der Anzahl der Verletzten und deren Alter hört die Einigkeit auf. Von einem Schwer- und zwei Leichtverletzten spricht der ausführliche Artikel. Die Kurzmeldung erwähnt hingegen nur verletzte Kinder und Jugendliche. Kein Wort von verletzten Erwachsenen. 

Auch was die Zugtiere betrifft, könnte die Uneinigkeit nicht grösser sein. Ob es nun Kühe oder Pferde waren, das wird man hoffentlich einem allfällig noch vorhandenen Polizeirapport entnehmen können. Mutmasslich kam Paul Weilenmann, der in diesen Jahren in Weiach stationierte Kantonspolizist, bei der Aufnahme der Situation auf der Glattfelderstrasse zum Einsatz. Er dürfte dem Unfallort schliesslich am nächsten gewesen sein. [Nachtrag vom 25.7.2023, 09:55: Laut Zollinger hat Weilenmann erst am 1. Mai 1961 seine Stelle angetreten. Danach müsste es sich eher um seinen Vorgänger Ernst Elmer gehandelt haben (G-Ch Weiach 1961, S. 19)]

Sollten es wirklich Kühe gewesen sein, dann wäre Edwin Hauser wohl zu den ärmeren Weiacher Landwirten zu zählen, die es sich nicht leisten konnten, auf einen Traktor umzusatteln (und denen zuvor auch die Mittel gefehlt hatten, Pferde als Zugtiere zu halten). Bei ihnen mussten die Kühe neben der Milch- auch eine Zugleistung erbringen. Und in diesem Fall offenbar ihr Futter selber vom Feld in den Stall ziehen. 

Folgt man Zollinger, so sind die letzten Viehfuhrwerke allerdings noch in den 50er-Jahren faktisch aus dem Weiacher Strassenbild verschwunden (vgl. WeiachBlog Nr. 680). [Nachtrag vom 25.7.2023, 10:55: Auch Erwin Griesser erinnert sich noch gut daran, wie er mit der Kuh Rösi ins Feld gefahren sei, z.B. zum Eggen. Sie sie über 17 geworden und habe den Heimweg selbstständig gefunden.]

Nachtrag 1: Bekannter Unfallschwerpunkt

Nach der Lektüre des obigen Textes hat sich Erwin Griesser gemeldet. Er sagt, der Unfall sei an der Einmündung zur Luppenstrasse passiert, einem Ort, wo sich mehrere schwere Unfälle ereignet haben. Dort habe man nämlich als Autofahrer aufgrund der Kurvenlage ein allfälliges Hindernis erst zu spät im Schweinwerferlicht gehabt. 

Wenn es so gewesen ist, dass das Fuhrwerk der Hausers bei der Traversierung der Hauptstrasse seitlich gerammt wurde, dann würde das mit zur Erklärung beitragen, weshalb die (mutmasslich am Heck des Brückenwagens montierten) Velonummern in diesem Fall wenig bis nichts geholfen haben.

Nachtrag 2: Reflektierende Fahrrad-Kennzeichen

Warum es ausgerechnet Velokennzeichen des Jahrgangs 1952 waren? Auf velonummer.ch findet man heraus, dass der Regierungsrat des Kantons Zürich ab diesem Jahrgang die Verwendung von reflektierenden Scotchlite-Folien beschlossen hat. Die Nummern wurden übrigens von der Firma Güller in Hüttikon hergestellt, derselben Firma, die auch die Weiacher Milchmarken geprägt hat (vgl. WeiachBlog Nr. 1211).

Quellen und Literatur
  • Regierungsratsbeschluss v. 11. Januar 1951. Signatur: StAZH MM 3.82 RRB 1951/0106.
  • Agenturmeldungen in der NZZ v. 8.11.1956 sowie den Freiburger Nachrichten und Die Tat vom 9.11.1956.
  • Immer wieder das unbeleuchtete landwirtschaftliche Fahrzeug. [sine loco, sine dato]
  • Zollinger, W.: Gemeinde Weiach. Chronik des Jahres 1956 - S. 12. Typoskript in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich. Signatur: G-Ch Weiach 1956.
  • Brandenberger, U.: Zugvieh vor 50 Jahren verschwunden. WeiachBlog Nr. 680 v. 1. Oktober 2009.

Montag, 24. Juli 2023

Geheimhaltung des Abstimmungsergebnisses geht in Verlängerung

Was läuft in der Streitsache «Zukunft 8187»? Geht es vorwärts?

Heute ist bereits Tag 37 der Geheimhaltung eines der wichtigsten kommunalen Abstimmungsergebnisse der letzten Jahre. Wie in WeiachBlog Nr. 1936 berichtet, hat der Bezirksrat aufgrund einer innerhalb der gesetzlichen Frist von fünf Tagen nach Veröffentlichung des Beleuchtenden Berichts eingereichten Stimmrechtsbeschwerde und der Vernehmlassungsantwort des Gemeinderates auf diese Vorwürfe entschieden, dass das Resultat nicht bekannt gegeben werden darf.

Seit dem 18. Juni wissen also neben dem Bezirksratspräsidenten und seinem Ratsschreiber lediglich die Mitglieder des Wahlbüros sowie die Funktionäre der Wahlleitung, d.h. der Gemeindepräsident und der Gemeindeschreiber, wie die Abstimmung ausgegangen ist. Der Beschwerdeführer und alle anderen Personen, seien sie nun stimmberechtigt oder nicht, haben davon keine Kenntnis.

Sehr lange Frist für die Replik. Ein Irrtum?

In seiner Verfügung vom 6. Juni 2023 hat der Bezirksratspräsident dem Rekurrenten eine erstaunlich lange Frist zur Einreichung einer sog. «Replik» eingeräumt. Bis am 10. Juli sollte der Beschwerdeführer dafür Zeit haben. Berücksichtigt man noch die Fristenläufe, dann ist das fast ein Monat! Gab es da in der Bezirksratskanzlei ein Missverständnis? Und der Präsident wollte eigentlich nur 10 Tage Frist gewähren?

Das könnte durchaus sein, denn bereits kurz nach der Abstimmung wurde der Rekurrent seitens des Bezirksrates angefragt, ob er eine Replik einzureichen gedenke. Das wollte er, hat sich aber nicht so viel Zeit gelassen, wie er sich hätte nehmen können.

Nur zehn Tage Frist für die Gemeinde für eine Duplik

Wie aus der Präsidialverfügung vom 28. Juni 2023 hervorgeht, datiert die Replik auf den 26. Juni. Dass nun die Gemeinde Weiach Gelegenheit zu einer sogenannten «Duplik» (Replik auf die Replik) bekommen muss, ist schon fast selbstverständlich, sonst würde man ihr ja das rechtliche Gehör verweigern. Und diesen allfälligen Vorwurf einer höheren Instanz will der Bezirksrat auf keinen Fall riskieren. In Punkt II verfügt der Präsident Daniel Widmer daher:

«Die Replik geht samt Beilagen an den Rekursgegner zur Einreichung einer freigestellten Duplik (dreifach) innert einer Frist von 10 Tagen (Dringlichkeit des Stimmrechtsrekurses) seit Zustellung der vorliegenden Verfügung. Bei Säumnis/Verzicht auf eine Stellungnahme wird der Bezirksrat Dielsdorf vorbehältlich anderer Anordnungen zur Beurteilung des Falles übergehen.»

Nur 10 Tage Zeit? Aha. Das ist aber schon ein ziemlicher Unterschied zur Zeitspanne, die derselbe Amtsträger Widmer nur wenige Tage zuvor und im selben Verfahren dem Rekurrenten gegeben hat. Jetzt pressiert es also plötzlich? Und vorher nicht?

Frist für Duplik verdreifacht

Es kann sein, dass Gemeindeschreiber und Gemeinderat zuerst versucht haben, die Frist einzuhalten. Man will ja schliesslich vorwärtskommen in der Angelegenheit (sollte man zumindest meinen). Hat dann aber nach einigen Tagen festgestellt, dass es doch nicht reicht.

Jedenfalls hat die Gemeinde mit Datum 11. Juli ein Gesuch um Fristverlängerung eingereicht. Und da es hier nicht um ein Strafverfahren geht und die Gemeinde nicht Beschuldigte ist, ist es auch üblich, dem Begehren zu entsprechen.

Dies wäre umso mehr erwartbar, sollte die Gemeinde den Bezirksratspräsidenten mündlich auf die eklatante Differenz zwischen den Fristen für Replik und Duplik hingewiesen haben. Dann ist die Reaktion des Bezirksrates erst recht folgerichtig. Und auch die Formulierung des Briefes (s. unten) lässt sich dann leichter erklären.


Gemeinderat und Gemeindeschreiber haben nun offiziell bis am 3. August 2023 Zeit, eine Duplik zu verfassen (oder durch eine Anwaltskanzlei verfassen zu lassen) und diese einzureichen. Unabhängig davon, wessen Ferienabwesenheit(en) für das Gesuch ursächlich war(en).

Möglich wäre es, dass die Gemeinde ihre Duplik bereits eingereicht hat. Aber es kann auch sein, dass der Bezirksratspräsident erst nach dem 3. August zur Beurteilung des Falles schreiten wird.

Quellen und Literatur

  • Brandenberger, U.: Alea iacta est! Abstimmung, aber das Resultat bleibt geheim. WeiachBlog Nr. 1936 v. 10. Juni 2023.
  • Bezirksrat Dielsdorf: Präsidialverfügung vom 28. Juni 2023 [in Sachen GE.2023.75/2.02.04].
  • Gemeinde Weiach: [Bitte um Fristerstreckung] In Sachen GE.2023.75/2.02.04 vom 11. Juli 2023, genehmigt durch die Bezirksratskanzlei am 14. Juli 2023.

Sonntag, 23. Juli 2023

Neue Bestuhlung, staubfreie Bücher. Das Jahr 1954 im Schulwesen

Wenn die Inhalte der Arbeit eines Chronisten sowieso erst frühestens mit einer Verzögerung von einem Vierteljahrhundert zur Kenntnis genommen werden können (wie das bei den Gemeindechroniken in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek der Fall ist), dann kann er sich auch Zeit lassen. Für die Jahreschronik 1954 bis zum Sommer 1957. Damals hat Walter Zollinger die nachstehenden Worte getippt.

WeiachBlog bringt hier den vollständigen Inhalt des Abschnitts c. Schulwesen, der Teil des Kapitels Aus dem Leben der Gemeinde ist.

Schluss mit verstaubten Schulbüchern 

«Die beiden Lehrer freuten sich mächtig, dass auf Initiative des Schulgutsverwalters hin ein Teil der allzugrossen Schulwinde [gemeint: der Dachboden des Alten Schulhauses] zu einem recht sauberen, heizbaren Materialraum für die Schule ausgebaut werden durfte (Kosten Fr. 1'785.50) [nach Swistoval HLI wären das heute mindestens 16'000 Franken]. Damit ist die Möglichkeit geschaffen, Hefte, Bücher, Anschauungsmaterial u.v.a., was vorher unübersichtlich in verschiedenen Ecken und Kasten verstaubt gewesen war, nun zweckmässig und griffbereit zu ordnen und staubfrei aufzubewahren, eine grosse Erleichterung!»

Mit den «beiden Lehrern» sind gemeint:
  • Kurt Ackerknecht (seit 1952 für die Elementarabteilung zuständig)
  • Walter Zollinger (seit 1919 für die Realabteilung, d.h. die oberen Klassen, inkl. 7./8. Kl. zuständig).
Laut Zollingers Liste in derselben Jahreschronik (S. 1) gab es von 1936 bis 1947 aufgrund grosser Schülerzahlen eine dritte Lehrerstelle. Diese wurde bis 1942 durch Adolf Pfister bekleidet, der in seinem sog. Ortsgeschichte-Ordner wertvolles Material zur Weiacher Vergangenheit gesammelt hat.

Neue Stühle aus Thalwil

«Ein weiteres erwähnenswertes Ereignis: Ende Juni erhielt auch das Schulzimmer der 4.-8. Klasse eine neue Bestuhlung, geliefert durch die Firma Hunziker, Söhne Thalwil (Kosten Fr. 6'013.30, daran ein Staatsbeitrag von Fr. 2'465.45). Schüler und Lehrer freuen sich mächtig darüber.» 

Mit 41 Prozent ein recht hoher Beitrag des Kantons. Die 1876 gegründete Firma Hunziker vom linken Zürichseeufer existiert übrigens bis heute und ist nach wie vor im Bereich Schulmöbel tätig, jetzt müssen die einfach Lehrplan 21-tauglich sein.

Im Typoskript auf Seite 10 eingeklebtes Foto. Man beachte die stylische Deckenlampe.

Rücktritt des Schulpflegepräsidenten nach 23 Amtsjahren

«Leider trat Herr Hch. Griesser auch vom Amt des Schulpflegepräsidenten zurück. Er hat dieses seit 1931 mit grosser Umsicht betreut; umfassende Umbauten sind in dieser Zeit beschlossen und ausgeführt worden. Für das stete Wohlwollen gegenüber Schülern und Lehrerschaft gebührt ihm besonderer Dank.»

Das «auch» bezieht sich auf den Umstand, dass der Genannte gleichzeitig von einem anderen Amt zurücktrat, wie man auf Seite 8 lesen kann: «Auch der seit Jahrzehnten im Amt gestandene und hohes Ansehen geniessende Gemeindeammann und Betreibungsbeamte, Herr Heinrich Griesser-Peter, nahm alters- und gesundheitshalber seinen Rücktritt.»

Anhand des Mädchennamens der Ehefrau erkennt man, dass es sich bei diesem langjährigen Amtsträger um den letzten Bäckermeister von Weiach, mit Backstube, Wirtsstube und Wohnung an der Luppenstrasse 8 gehandelt haben muss (vgl. WeiachBlog Nr. 595 und 777).

«Auch Herr Paul Graf im Berg, der seit 1940 der Schulpflege angehört hat, nahm seinen Rücktritt. Zum neuen Präsidenten wurde in der Abstimmung vom 21. März Herr Ernst Pfenninger, Gemeindeschreiber erkoren, als neues Mitglied beliebte Herr Ernst Bersinger-Bernhard.

Zollinger selber hat sich ebenfalls 1954 dazu entschlossen, jüngeren Kräften Platz zu machen. Er war seit 1928 Präsident der evangelisch-reformierten Kirchenpflege (vgl. G-Ch Weiach 1954, S. 8).

Hohe Fluktuation bei den Nähschullehrerinnen / Ade Bezirksschule

«An der Arbeitsschule gabs schon wieder eine personelle Aenderung, indem anstelle von Frl. Wohlfahrt neu Fräulein Berta Weilenmann aus Winterthur trat. – Vielleicht darf noch erwähnt werden, dass mit dem im Mai 1954 beginnenden Schuljahr 9 Schüler aus Weiach die Sekundarschule Stadel besuchen, während nur noch deren 3 in der Bezirksschule Kaiserstuhl sitzen. Vor 1953 war’s immer umgekehrt. [vgl. Brandenberger, U.: Als die Bezirksschule in Kaiserstuhl noch Weiacher ausbildete. WeiachBlog Nr. 1522 v. 7. Juni 2020]

Jeremias Gotthelf als ländliche Ikone

«Am 23.12. fand eine bescheidene „Jeremias Gotthelf-Gedenkstunde“ in der Schule statt. Bei diesem Anlass schenkte das Schulgut jedem Oberschüler das auf diesen Zeitpunkt hin herausgegebene SJW-Heftchen über den grossen Schriftsteller.»

Albert Bitzius (1797-1854), bekannt geworden unter seinem nom de plume Jeremias Gotthelf, muss man in der Schweiz kaum jemandem vorstellen. Bei diesem SJW-Heftchen handelt es sich die Nr. 500 «Jeremias Gotthelf. Aus seinem Leben, Wirken und Kämpfen» von Paul Eggenberg [Katalognachweis Nationalbibliothek]. Das Archiv Schweizerisches Jugendschriftenwerk mit einer leider nicht ganz vollständigen Sammlung der seit 1932 publizierten 2600 SJW-Hefte wird bei der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrt.

Kurse in Schüpfheim nur für Knaben. Obst ins Avers auch für Mädchen

«Am 19.10. begann im Zentralschulhaus Stadel der diesjährige Kartonagekurs für die Knaben der 4.-6. Kl., sowie ein Hobelkurs für die 7.8.Kl.-Buben. Die Schulpflege Weiach hat den erforderlichen Kredit von Fr. 450.- bewilligt, damit auch unsere Knaben von jetzt ab diese allwöchentlichen Winterkurse besuchen dürfen. – An die kleine Bergschule Ausserferrera/Grb. konnten 100 kg Obst geschickt werden.

Die noch bis 2007 bestehende Bündner Gemeinde Ausserferrera im Avers hatte damals (Stand 1950: 78) rund einen Zehntel der Weiacher Bevölkerung.

Quelle
  • Zollinger, W.: Gemeinde Weiach. Chronik des Jahres 1954. Signatur: ZBZ G-Ch Weiach 1954, S. 1, 8, 10 u. 11. [Originale: Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich. Serientitel: Jahreschroniken Weiach 1952-1967.] 

Samstag, 22. Juli 2023

Tabakanbau, zweiter Anlauf. Von Blauschimmelpilz ausgebremst

Beim Durchsehen der eigenen elektronischen Ablagen findet man auch recht weit gediehene Entwürfe für Beiträge in der (Ende 2009 eingestellten) Reihe Weiacher Geschichte(n). So zum Beispiel einen mit dem Titel «Verdienstmöglichkeit «Blauer Dunst» ade!», der diesen Sommer seinen zwanzigsten Geburtstag feiert. Damit hat er schon fast das Alter der Sperrfrist, das für die Zollinger'schen Jahreschroniken galt: 25 Jahre.

Walter Zollinger, der langjährige Weiacher Lehrer für die oberen Klassen, nutzte die Sommerferien ab den 1950er-Jahren jeweils dazu, das vielfältige Material, das er in den verflossenen Monaten über das Leben in seiner Gemeinde gesammelt hatte (eigene Notizen, persönliche Mitteilungen, Flugblätter, Protokolle, Fotografien, etc.), zu ordnen und in die Form eines Typoskripts zu bringen.

Das Resultat sind die heute in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrten Weiacher Chroniken (Signatur: G-Ch Weiach 1952-1967). In seinem 1972 erschienenen, blauen Büchlein (Umschlagtitel: «WEIACH 1271-1971». Rückentitel: «[...] CHRONIK WEIACH») erwähnt Zollinger diese selber als die «vom Verfasser zusammengestellten Jahreschroniken 1952 bis 1967» (vgl. Anmerkung 81, S. 93). Es gilt also zu unterscheiden zwischen den Jahresbänden (ungedruckte eigentliche Chroniken) und der Monografie (gedruckte Übersichtsdarstellung), die (irreführenderweise) auch so benannt wurde.

Lichtbildervortrag löst Anbauboom aus

Für die Jahre 1953 bis 1961 findet man jeweils unter dem Abschnitt Landwirtschaft Ausführungen zu einer ganz speziellen neuen Kultur, mittels derer einige Weiacher Bauern ihre Einkünfte zu diversifizieren versuchten. So schreibt Zollinger in der Jahreschronik 1953 auf Seite 4:

«Das Jahr 1953 ist für unsere Landwirtschaft noch deshalb erwähnenswert, weil eine ganze Anzahl namentlich jüngerer Bauern zum erstenmal den Versuch mit dem Anbau von Tabak wagten. Ein im vorangegangenen Winter durchgeführter Orientierungsabend mit Lichtbildervortrag hatte das Interesse hiefür zu wecken vermocht. Vierzehn Pflanzer mit zusammen 128 Aren bepflanztem Boden konnten aus der Tabakernte 1953 an den ostschweizerischen Tabakpflanzerverband 2'326 kg getrocknete Tabakblätter abliefern und lösten daraus ingesamt den ansehnlichen Betrag von Fr. 9'644.- 

Ob sich diese neueingeführte Kultur sesshaft machen kann, müssen die kommenden Jahre erweisen. Der Boden soll sich zum Anbau gut eignen und die Pflanzen stehn auch wirklich dieses Jahr [Zollinger bezieht sich auf den Juli 1955, in dem er diesen Text verfasst hat] wieder hoch und mastig da. Doch fehlen den meisten Bauern noch die notwendigen Trocknungsräume. Auch bedeutet das Setzen und Begiessen der rd. 39'700 Setzlinge (310 auf eine Are) im Frühling, sowie vom Spätsommer an das Auffädeln und Aufhängen der erntereif gewordenen Blätter (vor allem für die Frauen und Kinder) eine zeitraubende u. dazu erst noch heikle Arbeit.»

Zollingers Bildbeweis

Auf derselben Seite des Typoskripts sind auch zwei Fotos von Tabakpflanzungen eingeklebt, eines davon im Gebiet nördlich des Dorfkerns Richtung Hardwald aufgenommen. Mit dem Leuenchopf im Hintergrund:

In neun Anbaujahren gesamthaft über 24 Tonnen getrocknete Blätter

Ab der Chronik 1953 ist in jedem Band bis 1961 die Rede von diesem Tabakanbau. So heisst es beispielsweise über das Jahr 1955: «Der Ertrag an Tabak brachte auf 122 Aren Pflanzland 3'374 kg Tabakblätter im Werte von Fr. 12'939.-.» (G-Ch Weiach 1955, vgl. WeiachBlog Nr. 55, 29. Dezember 2005).

Ein Zusammenzug der von Zollinger genannten Zahlen ergibt folgende Übersicht.


Man sieht, dass die Zahl der gepflanzten Setzlinge durchwegs über 30'000 liegt, mit einem Ausreisser im Jahre 1956, als fast ein Drittel mehr Fläche für Tabakkultur eingesetzt wurde. Ein Zuwachs, der sich dann aber (möglicherweise angesichts des nicht so überzeugenden Ertrags pro Are) für das Folgejahr wieder auf den Durchschnittswert reduziert hat. Wie kommt es da zum massiven Einbruch im Jahre 1961, wo die Fläche auf rund einen Zehntel zusammenfiel?

Der Blauschimmel verdarb den Weychern die Lust

Der Grund heisst Peronospora hyoscyami tabacina, der Tabakblauschimmel, ein Pilz, der just gegen Ende der 50er-Jahre in Europa eingeschleppt wurde und für die Tabakpflanzungen verheerende Folgen hatte. Davon berichtet auch Zollinger:

«Da noch kein Kampfverfahren gegen diese überraschend gekommene Tabakkrankheit bekannt ist, wird es für die kommenden Jahre wohl den bisherigen Pflanzern einen gehörigen Dämpfer aufsetzen.» (G-Ch 1960 – S. 8 recto & 9)

Damit sollte er recht behalten, denn schon in der nächsten Jahreschronik steht (nach der Meldung über eine befriedigende Getreide- und Kartoffelernte):

«Dagegen hat sich meine im Vorjahr ausgesprochene Befürchtung hinsichtlich des Tabakanbaues vollumfänglich bewahrheitet. Nurmehr 14 Aren wurden bepflanzt u. ergaben für 515,5 kg abgelieferte Tabakblätter den Ertrag v. nur Fr. 2'314.70.»  (G-Ch 1961 – S. 8)

Das war zwar gemessen in Kilogramm pro angebauter Are der höchste bei uns je erzielte Ertrag. Auch der Erlös pro Kilo lag auf Rekordniveau. Trotzdem hatten die Weiacher Pflanzer offenbar genug. 

In der Jahreschronik 1962 verliert Zollinger kein Wort mehr über den Tabakanbau. Fazit: Der Blauschimmel besiegelte das Ende des zweiten Weiacher Tabakversuchs.

Der erste dokumentierte Anbauversuch

Wenn das der zweite Versuch war, wann war dann der erste? Darüber gibt die Ortsbeschreibung aus dem Jahre 1850/51 im Abschnitt Feldbau Auskunft. Der Weiacher Pfarrer Konrad Hirzel schreibt da, nach Ausführungen über erste Erfahrungen mit Mais:

«Ähnliche, keineswegs ungünstige Versuche wurden in den letzt verflossenen Jahren mit Anbau des sogen. virginischen Tabaks (macrophylla nicotiana) gemacht, dessen Blätter völlig ausreifen u. bei einer sorgfältigen Behandlung zu Zigarren vortheilhaft verwendet werden konnten.»

Diese nach aktueller Nomenklatur Nicotiana tabacum genannte Art ist die wirtschaftlich wichtigste im weltweiten Tabakanbau. Über die Gründe, die damals dazu geführt haben, die Tabakpflanzungen nicht weiterzuführen, ist leider bislang nichts bekannt.

Donnerstag, 20. Juli 2023

Gravamina Synodalia. Über die Betreuung fehlbarer Schäflein

Das 17. und 18. Jahrhundert war in Zürich eine Zeit, in der Gedanken und Menschen in Korsette gezwängt wurden. Die Herrschaftsausübung beruhte auf einem theologischen Fundament, das die Epigonen Zwinglis in den Jahrzehnten nach seinem gewaltsamen Tod zusammengezimmert hatten.

Ein wichtiger Eckpfeiler dieser Herrschaft waren die Pfarrer, die auf der Landschaft nicht nur als Seelsorger, sondern auch als Sittenwächter, Sozialamtsvorsteher, etc. fungierten. Ihre Aufgabe war es, das gesellschaftliche Gefüge so zu stabilisieren, dass der Stadtstaat mit minimalem Aufwand am Laufen gehalten werden konnte. Das musste er insbesondere ohne ein stehendes Söldnerheer im Rücken, dessen brutale Gewalt andere Landesherren zur Niederschlagung von Aufständen ins Spiel bringen konnten. Die Zürcher Obrigkeit hatte dieses Mittel nicht zur Verfügung und musste daher auf das setzen, was man heute «soft power» nennt. Konkret: Fein verästelte soziale Kontrolle. Gewalt wird dabei nur im Notfall und fast ausschliesslich gegen Abweichler eingesetzt.

Weiacher Pfarrer trug die aktuellen Beschwerden vor

Gravamina (Plural von gravamen) sind Beschwerden, die an die Obrigkeit gerichtet werden. Es geht also ganz generell um Missstände. Um Vorkommnisse und Umstände, die als störend, schädlich, ärgerlich, was auch immer empfunden werden. Zustände also, die man so nicht stehen lassen kann und gegen die eine Regierung etwas zu unternehmen gezwungen ist.

Ab 1715 war der Weiacher Pfarrer Hans Rudolf Wolf gleichzeitig auch Dekan des Eglisauer Pfarrkapitels (wie unsere Gemeinde 1712 dorthin zugeteilt wurde, vgl. WeiachBlog Nr. 89; zu Pfr. Wolf selber, vgl. WeiachBlog Nr. 193). Und als solcher wurde er bei den grossen Synoden der Zürcher Kirche, also den in der Regel zweimal jährlich durchgeführten Generalversammlungen aller Zürcher Pfarrer, ab und zu damit beauftragt, im entsprechenden Teil der Veranstaltung die Beschwerden vorzutragen, die gerade anstanden.

Nachstehend sind die Themen aufgeführt, zu denen unser Pfarrer laut den Einträgen im Online-Katalog des Zürcher Staatsarchivs vor versammelter Truppe zu referieren hatte:

Frühlingssynode 1716 (StAZH E I 2.8, Nr. 20)

«Synodalverhandlungen betreffend a) die Klage über das Anwachsen dreier Welttorheiten: der Atheisten (es ist kein Gott), der Bekkeristen (es ist kein Teufel), der Pietisten (die keine Sünder, sondern vollkommen sein wollen); b) die Entheiligung des Sabbats, so durch das Kegeln; c) Leichtfertigkeiten selbst in Graden allzunaher Blutsverwandtschaft; d) die Hoffahrt als Quelle von Armut; e) das Tresterbrennen.» [Verzeichnet in Kanzleiregister StAZH KAT 37, S. 151.]

Wir sehen hier eine bunte Mischung aus theologischen und sozialen Themen (wie man sie heute voneinander abtrennen würde, aber damals als Einheit gesehen hat). 

Unter einer «Leichtfertigkeit» ist das Eingehen einer intimen Beziehung zu verstehen, die dann natürlich auch biologische Folgen haben kann, in diesem Fall Erbschäden durch Inzucht. 

Als «Hoffahrt» (heute eher «Hoffart» geschrieben) gilt eine Haltung, die den eigenen Wert und Rang oder persönliche Fähigkeiten (zu) hoch veranschlagt. 

Das Tresterbrennen ist eine Folge des Weinanbaus (damals war Wein in verdünnter Form ein Alltagsgetränk). Dabei wird aus Traubentrester, dem Pressrückstand, Schnaps gebrannt (vgl. Tresterbrand).

Herbstsynode 1720 (StAZH E I 2.8, Nr. 29)

«Synodalverhandlungen betreffend a) das laodizeische Wesen und Leben; b) Trunkenheit; c) Fluchen und Schwören; d) Leichtfertigkeiten; e) Kegeln an Sonntagen.» [Verzeichnet in Kanzleiregister StAZH KAT 37, S. 152.]

Das laodizeische Leben ist eine Anspielung auf die antike Stadt Laodizea in Phrygien (heutige Westtürkei) und die Bewertung der dortigen christlichen Gemeinde in der Offenbarung des Johannes (sie ist die siebte Gemeinde der Sieben Sendschreiben). Diese Stadt war äusserst wohlhabend, was zu einer Art «Papierli-Christentum» führte. Laodizenisch wurde also als Chiffre verwendet für eine eher lauwarme Einstellung zum christlichen Glauben, denn es geht einem ja (zu) gut. Und auch hier (wie schon 1716) tauchen wieder Leichtfertigkeiten und das Ärgernis des Kegelns auf.

Frühlingssynode vom 24. April 1725 (StAZH E I 2.9, Nr. 9)

«Synodalverhandlungen betreffend a) die mangelhafte Exekution und Bestrafung von Vergehen gegen die obrigkeitlichen Mandate; b) Reflexionen über die Mittel zur Verminderung der Gravamina und Besserung des Volks: Ermahnung und Abstrafung durch die Seelsorger; gute Vorbilder; Verbesserung der Schulen; Schutz der Verzeiger von Vergehen vor bösen Buben und Schaden; Predigten über die Wichtigkeit der Kommunion und die christliche Beobachtung der Nachfeiertage.» [Verzeichnet in Kanzleiregister StAZH KAT 37, S. 85.]

Ach diese Schäfchen... Sie wollen einfach nicht, wie sie sollen. Bedrohen gar diejenigen, die durch ihre Meldungen doch nur ihre gesetzliche Pflicht tun. Und bedürfen daher allesamt der intensiven Betreuung durch ihre Pfarrer und Stillstände (d.h. Kirchenpflegen), denn sonst würde alles aus dem Ruder laufen. Der dagegen in Stellung gebrachte Massnahmenkatalog scheint in obigen Zeilen deutlich durch. 

Herbstsynode vom  1. November 1729 (StAZH E I 2.10, Nr. 1)

«Synodalverhandlungen betreffend a) die Entheiligung des Tages des Herrn, obgleich Dankbarkeit gefordert wäre für die fruchtbare und wohlfeile gegenwärtige Zeit; b) die überhandnehmende Unkeuschheit in den nächtlichen Liechtstubeten, Winkelwirtschaften und an anderen Orten; c) die Kleiderhoffart bei Mannspersonen und Weibspersonen.» [Verzeichnet in Kanzleiregister StAZH KAT 37, S. 86.]

Das Jahr 1729 war also offenbar betreffend Ernten so erfolgreich, dass die Preise nicht in unerschwingliche Höhen stiegen (und daher der Staat nicht mit Lebensmittelhilfen eingreifen musste).

Unter einer «Liechtstubete» ist laut dem Schweizerdeutschen Wörterbuch Idiotikon (Id. X,1183) aus dem Jahre 1936 folgendes zu verstehen: «a) 'nächtlicher Besuch oder nächtliche Zusammenkunft beiderlei Geschlechtes, Visite, Besuch nach dem Nachtessen, ohne Rücksicht auf Geschlecht und Zweck', auch bei besondern Gelegenheiten. b) (nächtlicher) Besuch eines ledigen Burschen (gelegentlich in Begleitung) bei einem Mädchen (in dessen Kammer), bes. von seiten eines ernsthaften Bewerbers, Freiersbesuch bei der Zukünftigen, 'Beisammensein zweier Liebender'». Wo hier das Problem liegt, bedarf keiner weiteren Erläuterung.

Und eine Winkelwirtschaft ist eine Beiz ohne obrigkeitliche Konzession (also die illegale oder halblegale Konkurrenz zu den sog. ehaften Gasthöfen, wie dem Weiacher «Sternen»).

Frühlingssynode und Herbstsynode 1738 (StAZH E I 2.8, Nr. 35)

«Synodalverhandlungen betreffend a) die allgemeine Sündhaftigkeit und Unbussfertigkeit, die vor allem in der Unkenntnis über den Willen von Gott gründet; b) den einreissenden Luxus und die Üppigkeit, die in die Armut führen; c) die mangelnde Kirchenzucht; d) die Überfüllung des Landes mit Diebesgesindel und die Notwendigkeit von ordentlichen Wachen an den Grenzen; e) die Entheiligung des Sabbats auch durch die Gemeindevorgesetzten; f) die Kilbenen.» [Verzeichnet in Kanzleiregister StAZH KAT 37, S. 152.]

Da haben wir den Salat. Wenn sogar Gemeinderäte und Gemeindepräsidenten sich nicht an die Regeln halten (z.B. am Sonntag Aktivitäten entfalten, die dort nach sittenstrenger Auffassung nicht hingehören), dann ist natürlich Feuer im Dach. Da sind wir dann wieder beim Thema «gute Vorbilder» (vgl. Frühlingssynode 1725 oben).

Auch das Wort «Kilbenen» kann neben der ursprünglichen Bedeutung (dem Kirchweih-Fest) auch übertragene Bedeutungen haben, die obrigkeitliche Gegenmassnahmen rechtfertigen können (vgl. Id. XV, 1070ff):

«a) ausgelassene Lustbarkeit, Wohlleben (mit Essen und Trinken), auch Vergnügen, Unterhaltung, Spass

b) lärmiges Durcheinander, Volksauflauf, Aufregung

c) unerfreuliche, lästige Sache, Ungelegenheit, Schererei  (darunter: α) [..] häuslicher Streit, Zwist, β) [..] Monatsblutung der Frau)

d) Geschmacklosigkeit, bes. in Kleidung und Aufmachung, farbenreicher Kitsch»

So. Und das waren jetzt nur diejenigen fünf Synoden, in denen Pfr. Wolf die Gravamina vortragen musste. Man kann sich leicht ausrechnen, welche Missstände an den anderen Synoden beklagt wurden. Wie muss man sich da als Pfarrer wohl gefühlt haben? Wie Sisyphus mit seiner endlosen Aufgabe?

Mittwoch, 19. Juli 2023

Beitrag à fonds perdu für das Lehrschwimmbecken

Erinnern Sie sich ans heutige Datum vor 50 Jahren? Damals (aber nur noch bis 1974) erschien beispielsweise die NZZ mit zwei Ausgaben pro Tag. Einer Morgenausgabe und einer Mittagausgabe.

In letzterer berichtete der für unsere Gegend über Jahre hinweg zuständige Redaktor Hillmar Höber über das gerade in (vermeintlich) trockene Tücher gebrachte Grossbauprojekt auf der Hofwiese mitten im Zentrum von Weiach:

Ein neues Primarschulhaus für Weiach

«hhö. Kürzlich hieß der Weiacher Souverän an der Gemeindeversammlung den Bruttokredit von 6,2 Millionen Franken für die Erstellung einer Primarschulhausanlage gut. Das von Architekt Romeo Favero (Winterthur) ausgearbeitete Projekt umfaßt ein Schulhaus mit vier Klassenzimmern, eine Turnhalle, ein Abwartshaus sowie ein Lehrschwimmbecken im Ausmaß von 8 auf 16,66 m. Ferner sind im Raumprogramm der Politischen Gemeinde folgende Anlagen enthalten: Bühne bei der Turnhalle, Feuerwehrmagazin und drei Einstellräume, Militärunterkunft mit Küche, acht Zivilschutzräume für total 400 Personen. Die neue Anlage wird unmittelbar neben dem bestehenden Schulhaus erstellt. Von den totalen Baukosten übernimmt die Primarschulgemeinde 5 194 000 Franken, auf die Politische Gemeinde entfallen 1 250 000 Franken. Die ganze Vorlage wurde von der Politischen und der Primarschulgemeinde dem Souverän als Gemeinschaftsantrag vorgelegt.

Erfreulicherweise stößt die Schwimmbadanlage bei der Bevölkerung auf reges Interesse. Diese wird allerdings aus finanziellen Gründen vorläufig im Rohbau erstellt. Der Vollausbau kann zu einem späteren Zeitpunkt realisiert werden. Sofern das Lehrschwimmbecken durch den Regierungsrat nicht subventioniert wird, würde die Politische Gemeinde dem Primarschulgut einen Gemeindebeitrag à fonds perdu in der Höhe des ausfallenden Staatsbeitrages gewähren.»

Zwei separate Gemeindeversammlungen

Wenn man die von Höber gegebenen Zahlen zusammenrechnet, dann kommt man nach Strübis Rächnigsbüechli auf 6.444, nicht 6.2 Millionen. Irgendetwas geht da nicht ganz auf. 

Bei der geschilderten Ausgangslage kann der Ablauf überdies eigentlich nur so gewesen sein, dass zwei separate, am selben Abend aufeinander folgende Gemeindeversammlungen durchgeführt wurden: Eine der Politischen Gemeinde Weiach und eine der Primarschulgemeinde Weiach. Wäre eine der beiden miteinander verknüpften Vorlagen abgelehnt worden, dann hätte das Projekt nicht wie geplant umgesetzt werden können.

Wie wurde das Projekt 1973/76 schulseitig finanziert?

Und selbst das war in der Folge fraglich. Das von den anwesenden Stimmberechtigten favorisierte Hallenschwimmbad wäre viel zu teuer gekommen. Es ist zwar wie versprochen im Rohbau erstellt worden, aber letztlich für immer unvollendet geblieben. Indoor-Schwimmen für Schüler findet deshalb nach wie vor in Stadel statt (vgl. WeiachBlog Nr. 1837, s. unten).

Gravierender dürfte gewesen sein, dass sich die Suche nach den Finanzierungsmöglichkeiten nach erfolgter Genehmigung durch den Souverän für die Primarschulgemeinde offenbar nicht ganz einfach gestaltete. Kolportiert wird jedenfalls: Ohne massgebliche Beteiligung privater Darlehensgeber in Form wohlhabender Gemeindebürger, die dafür allerdings auch einen satten Zins kassiert haben, wäre die Umsetzung möglicherweise in globo am Geldmangel gescheitert. Affaire à suivre. Im Archiv der Primarschulgemeinde allfällig noch vorhandene Akten zu dieser Finanzierung warten noch auf die historische Aufarbeitung.

Zwei Jahrzehnte ungenutzter leerer Raum

Der leere umbaute Raum hinter der Glasfront im Untergeschoss der Turnhalle, versehen mit verstaubten Holzgerüsten aus der Bauzeit und von Einheiten der Schweizer Armee als Aufenthaltsraum genutzt (wie sich der hier Schreibende noch aus eigener Anschauung erinnern kann), wurde erst viele Jahre später (1994/95) zum Gemeindesaal umfunktioniert. So konnte wenigstens der obere Teil sinnvoll genutzt werden.

Nach der definitiven Schliessung des Gasthofs zum Sternen (im Jahre 1991) stand nämlich dessen grosser Saal nicht mehr zur Verfügung. Gemeindeversammlungen wurden in dieser Übergangszeit primär im Mehrzwecksaal im Untergeschoss des (heute weinroten) Schulhauses Hofwies abgehalten.

Quelle

Dienstag, 18. Juli 2023

Zwetschgenbäume durften die Pfarrscheune nicht gefährden

Mittlerweile kann man die Weiacher Einwohner, die älter sind als er, an einer Hand abzählen. Willi Baumgartner-Thut, geboren am 8. November 1930, ist das, was man einen Ur-Weycher nennen darf. Er wohnt, seit er sich erinnern kann, an der Winkelstrasse 7.

In seinen ersten Lebensmonaten war das allerdings noch nicht so. Sein Vater Johannes (geb. 1894) hat dieses Gebäude samt verschiedenen dazugehörenden landwirtschaftlichen Parzellen erst am 19. Mai 1931 kaufen können. Und zwar im Rahmen einer freiwilligen Versteigerung, wie die sog. «Eigentumserwerbs-Urkunde», d.h. ein Grundbuch-Auszug aus dem «Grundprotokoll Weiach Bd. 34, pag. 362», ausweist.

Freiwillige Gant war noch erlaubt

Nach heutiger Rechtslage wäre eine solche freiwillige Gant verboten (zumindest bezüglich der landwirtschaftlichen Flächen, vgl. Art. 69 BGBB, erlaubt sind lediglich amtlich angeordnete Zwangsversteigerungen), damals war sie noch möglich. 

Die Verkäuferin, «Wwe. [Witwe] Verena Meierhofer, geb. Meier, Wagners», muss eine Tochter desjenigen Heinrich Meier gewesen sein, der 1921 als Eigentümer der heutigen Friedhofparzelle 256 auf einem Plan des Kirchenbezirks eingetragen ist (vgl. WeiachBlog Nr. 1754).

Keine Parzellennummern, sondern Nachbarn benannt

Zu diesem heutigen Wohnhaus Winkelstrasse 7 (1922 für 23'000 Franken assekuriert, was nach Swistoval HLI aktuell rund 350'000 CHF entsprechen würde) gehörten auch «ca. 33 Aren 35 m2 Hofraum, Garten und Baumgarten in obern Luppen oder im Winkel, grenzend: 1. an die Strasse, 2. an Rud. Baumgartner, 3. an das Pfarrhaus und die Kirche, 4. an Jak. Schenkel, Küfer, Heinr. Griesser u. an den Fussweg.» Hier wird also aus dem Grundbuch nicht wie heute eine Parzellennummer entnommen, sondern eine Marchenbeschreibung samt Nennung der Nachbargrundstücke bzw. deren Eigentümer nach althergebrachter, jahrhundertealter Sitte.

Auf dem aktuellen Katasterplan sieht man, dass das Grundstück 256 lediglich 12.65 Aren umfasst. Um auf die oben angegebene Fläche zu kommen, müssen die Parzellen 256, 255, 259 und 1561 (abzüglich des Gebäudegrundrisses) in Anschlag gebracht werden. 

Mit der Strasse ist also die Winkelstrasse gemeint, Rud. Baumgartner war der Eigentümer des Grundstücks 1560 (heute: Schreinerei Schmid André), im Uhrzeigersinn anschliessend folgt die Parzelle 258, auf der das Pfarrhaus und die Pfarrscheune (Büelstr. 19) stehen. Parzelle 472 ist die Kirche, dann folgen die Liegenschaften Luppenstrasse 6 (ehemals Chüefers) und Luppenstrasse 8 (ehemals Beck-Griessers). Der Fussweg ist der heutige Friedhofweg, der im östlichen Teil einen etwas anderen Verlauf hatte als heute..

Dienstbarkeit zugunsten des Staates

Im Grundbuch eingetragen war laut der «Eigentumserwerbs-Urkunde» auch die nachstehende «Grunddienstbarkeit ad ca. 16 Aren»:

1. Bei allfälligen Reparaturen der Pfarrscheune haben die Arbeiter den Zutritt in diesen Baumgarten; die in diesem acht Schuh von der Scheune entfernt stehenden Zwetschgenbäume sollen stets so gestutzt werden, dass sie weder über das Dach, noch an die Wand der Scheune hinaufreichen, und dem Oeffnen der Ballen [mutmasslich die Fensterläden] nicht hinderlich sind; Neue Bäume dürfen nicht näher als 20 Fuss gegen die Marken des Staates gesetzt werden.

2. Die Grenze zwischen dem Baumgarten und der Scheune zieht sich einen Fuss von der Mauer jener entfernt durch und ist durch Marksteine bezeichnet. Der offene Raum auf dieser Linie darf nicht durch einen Grünhag von Seite des Staates geschlossen und das Dachwasser durch obigen Baumgarten abgeleitet werden. 

Der jeweilige Besitzer dieses Baumgartens hat das Ableiten des Dachwassers ab der Kirche in denselben zu gestatten.

Anzunehmen ist, dass der Zürcher Staat (als Eigentümer der Pfarrscheune) wie auch die Kirchgemeinde Weiach (als Eigentümerin der Kirche) beide dasselbe Recht auf Ableiten des Dachwassers ihrer Gebäude in Anspruch nahmen. Auch wenn im Falle des ersteren die Formulierung durch die oben gewählte Verkürzung missverstanden werden könnte.

In welchem Jahr diese Dienstbarkeiten errichtet wurden, ist bislang nicht geklärt.

Quelle

  • Grundprotokoll Weiach, Bd. 34. Signatur: StAZH Z 811.257. Originaltitel: Pfandbuch für die Gemeinde (Quartier) Weiach. Band 34. Angelegt und abgeschlossen von Notar August Angst (Amtszeit 1918-1954). Mit Register. Entstehungszeitraum: 09.1925 - 07.1936.

Montag, 17. Juli 2023

«Gönd go wähle und abstimme!» Camille Lothe zum Nationalfeiertag

Vorbemerkung des Verlags: Beim nachstehend abgedruckten Text handelt es sich um die Ansprache zur letztjährigen Bundesfeier, nicht um einen Vorabdruck der diesjährigen. Frau Lothe hat mir ihre Ansprache am 14. Februar zugesandt. Die fünf Monate Zusatzverzögerung gehen also auf die Kappe des WeiachBlog-Schreiberlings. N.B.: Am 1. August 2023 wird die Grünen-Kantonsrätin Wilma Willi aus Windlach zu den Weycherinnen und Weychern sprechen.

Camille Lothe, Jahrgang 1994, ist die – meines Wissens – mit Abstand jüngste Person, die je an einer Weiacher Bundesfeier die grosse Ansprache gehalten hat. 

Die Jungpolitikerin aus der Stadt Zürich fungiert mittlerweile seit bald einem Jahr als Präsidentin der Stadtzürcher SVP. Sie hat ein Studium in Politikwissenschaften an der Universität Zürich abgeschlossen. Als Wirtschaftsredaktorin des «Nebelspalters», Podcasterin (z.B. beim Format Bern einfach ihres Arbeitgebers) und Youtuberin (u.a. mit ihrem eigenen Format Uf dä Punkt.) ist sie medial auf vielen Kanälen präsent. Sie hat Migrationshintergrund und sie ist das, was man neudeutsch «outspoken» nennt. Getreu dem Titel ihres Youtube-Kanals.

Es ist wohl unausweichlich, dass eine solche Person in woke-links-grünen Kreisen zu einer Art Hassfigur und Projektionsfläche avanciert. Das NZZ-Magazin bezeichnet sie jedenfalls als «Frau der Extreme» und titelte vor bald einem Jahr: «An Fällen wie ihrem entscheidet sich die Zukunft der SVP: Wie tickt Camille Lothe?». Die Illustration von Michelle Rohn allein ist schon Provokation pur: im rechten Arm trägt die porträtierte Protagonistin eine Regenbogenflagge, im linken Arm ein rosarotes Sturmgewehr! (Artikel von Rafaela Roth, NZZ Magazin, 23.07.2022)

Für die ausnahmsweise bereits am 31. Juli durchgeführte traditionelle Bundesfeier auf dem Schulhausplatz brauchte es jedenfalls keinen Personenschutz. Ob die Ansprache Lothes zum Nationalfeiertag in irgendeiner Form extrem sei, diese Beurteilung sei nun der geneigten Leserschaft überlassen.

Der Abdruck erfolgt in dem Format, in dem die Rednerin den Text zur Verfügung gestellt hat. Einzig die Zwischentitel sowie die Verlinkungen auf externe Inhalte sind redaktionelles Beiwerk:

Festansprache zur Bundesfeier 2022

«731 Jahr… 731 Jahr.. Das isch die wunderschöni Jahreszahl, wo ich hüt dörf mit ihne fire.

731 Jahr sind eh langi Zit. Ih däre Zit hettet chöne über 19.8 Millione Tonne Emmentaler produziert werde, mer het sich 127 Millione mal de Song Chihuhua vom DJ Bobo chöne ahlose [Anm. WeiachBlog: dauert 3 Minuten] oder binere durchschnittliche Verzehrzit vo 75 Minute het mer allei chöne 5 Millione Fondue esse.

… Oder mini Lebenszit vo 28 Jahr macht 3.8% vo de Lebeszit vo de Schwiz us.

Mini Dame und Herre, min Name isch Camille Lothe, ich bin d’Präsidentin vo de Junge SVP Kanton Züri und ich han d’Ehr hüt ihri Festrednerin z’si. Es isch mir nöd nur eh grossi Freud, dörfe mit ihne de Vorabig zum 1. Auguscht z’verbringe, sondern die Red het au für mich en ganz bsunderige Stellewert: Ab morn tritt ich mis neue Amt als Präsidentin vo de SVP Stadt Züri ah. Ihri Gmeind het sich also ganz bewusst dazu entschide eh jungi Frau us de Stadt Züri zu sich ihzlade. 

Wüssed Sie, woni vor es paar Mönet die Ihladig erhalte han, han ich mich gfröget: Git’s da echt eh versteckti Botschaft us dere wunderschöne Gmeind ad Stadt Züri? Ich bin nämlich devo überzügt, dass ihre Gmeindrat das ganz bewusst gmacht het.»

In Weiach ist die Welt noch in Ordnung

«Gaht’s darum, dass ich während dere längere Fahrt mit Tram, Zug und Bus ihri schöni Landschaft gsehn? Ich chan ihne sege: d’Zit hani gnueg gah, d’Fahrt isch nämlich fascht 50 Minute gange – das isch aber usnahmswis nöd a de viele Tempo 30 Zone glegge, wie ich das us de Stadt kenne. Oder wend sie mich vilicht mit ihrem tüfe Stüürfuess dazue verlocke ih ihri schöni Gmeind z’zieh – en Stürfuess 89% isch im Verglich zu de 119% idä Stadt Züri doch en guete Ahreiz.

Es zeigt aber au öpis: Ufm Land chamer no mit Geld umgah. Während de Bund jährlich 118.8 Millione Franke für diversi Öffentlichkeitsarbet usgit, macht mer das bi ihne eifacher: Mer ladet eifach d’Stadtzürcher ih, die merked denn scho vo alleige d’Vorteil und d’Schönheit vo Weiach.

In Weiach isch d’Welt no in Ordnig. Ih dä Facebookgruppe «Du bisch vo Weiach, wenn..» sind d’Problem uf jede Fall chli. Es findet sich ihträg, dass mer damals besser nöd as Eidgenössische Schützefescht vo 1872 mit de sogenannte Herdöpfelbahn nach Züri gfahre isch: Dä ÖV hegi damals scho nöd funktioniert. Ebefalls wird drüber d’diskutiert, ob d’Weyacher mal meh Holz usm Wald gstohle hend, als d’Ihwohner us de andere Gmeinde. Gross globet wird s’Kafi vo de Tina – dete git’s anschinend feini Weihä. Sie gsehnd: d’Problem sind chli. Weiach schint en Fleck vo de Glückseligkeit z’si.

Dass mir überhaupt hüt chönd vo dem Fleckli Glück uf de Welt rede, isch kei Selbstverständlichkeit. Ahfangs August 1291 hend sich die drü Waldstette, Uri, Schwyz und Unterwalden zemegschlosse und damit de Ursprung vo de Eidgnosseschaft markiert. Bereits ih dem Dokument isch d’Wert und s’Fundament vo eusere Schwiiz z’erchenne. D’Eidgnosse handlet eigeständig. Sie handlet unabhängig. Sie handlet frei. D’Eidgenosse wend über ihres Schicksaal und ihri Landslüüt selber bestimme.

Mitm Bundesbrief vo 1291 hend eus die drü Waldstette nöd nur s’Fundament vo de hütige Schwiiz gleit, sondern hend damit au es wertvolls Erbe für die kommende Generatione gschaffe. Unabhängig, Selbstbestimmt und Frei söll d’schwizer Eidgnosseschaft si und au blibe.»

Kleinstaat ohne weltgeschichtliche Mission

«D’Schwiiz isch en Chliistaat. Mir hend eus vom chline, vo Natur us arme Land in Europa, vom einstige Armehuus Europa zu eim vo de erfolgrichschte und wohlhabenste Länder vo de Welt entwicklet. Mir glaubed nöd ane weltgschichtlichi Mission, wie anderi Staate. Mir sind neutral und betribed kei weltwiti Machtpolitik. Doch das isch nöd immer eifach z’erträge. Mir sind mit de schreckliche Tatsach konfrontiert worde, dass Chrieg in Europa nöd nur möglich isch, sondern au stattfindet. Doch grad i schwirige Zite isches umso wichtiger, dass mer sich ah die Wert erinnered, wo euses Erfolgsmodell Schwiiz usmached, erinneret.

Doch d’Erinnerig allei langet nöd. D’Unabhängigkeit und d’Freihet sind fundamentali Wert, ja gar d’Raison d’être vo de Schwiz. Doch ich möcht Sie dra erinnere: Sie sind nöd geh. Sie sind nöd bedingigslos. Grad ah somene wunderbare Ahlass, wie hüt abig, bestaht d’Gfahr, dass mer die Errungeschafte viel z’schnell als Selbstverständlichkeit gseht. Doch d’Freiheit muess immer wieder uf s’neue erkämpft und verteidigt werde. D’Freiheit isch fragil und verletzlich.»

Falsche Frisuren und fragile Freiheit

«Ja, das sind mahnendi Wort. D’Schwiz isch es Land in Freiheit – doch nur solang mir als Schwizer Bürger und Bürgerinne für die Freiheit ihstönd. Ich spriche Sie bewusst direkt als Bürger und Bürgerinne vo eusere Eidgnosseschaft ah. D’Freiheit isch en ganz persönliche Wert. Sie definiered als Gsellschaft d’Freiheit vo de Schwiz. Mini Dame und Herre – das isch eh grossi Ufgab. Doch grad idä aktuelle Zit isch die Ufgab umso wichtiger.

Mir lebed inere Zit, wo Bands ufgrund vo de falsche Frisur am Uftritt ghinderet werded. Mir lebed inere Zit, wo Lieder ufgrund vo falsche Inhalte nüme gspilt werded. Mir lebed inere Zit, wo de eifachi Bürger söll im kommende Winter nöd über 20 Grad heize. Das isch eh besorgniseregendi Entwicklig. Mir hend zueglueget, wie sich immer meh gsellschaftlichi Felder zur neue Staatsufgab entwickled hend. Es schint fast nüt meh z’geh, was sich vo de Zueständigkeit vom Staat entzieh chan. Mini Dame und Herre, das isch genau die Ihschränkig vo ihrere persönliche Freiheit. Ohni dass d’Gsellschaft d’Freiheit aktiv definiert, riskiered mir, dass au de moderni Staat zu enere moralische Instanz wird. Eh moralischi Instanz, wo sich zur Ufgab gmacht het, die individuelle Freiheitsentscheid vo sine Bürger abzneh. Doch wer für sich selber als Mensch kei Entscheidige meh treffe chan, lebt nüme in Freiheit.

D’Freiheit definiere isch essentiell. De Schwizer Staat isch daruf ahgwise. De Schwizer Staat isch meh als d’Summe vo de Rechtsgrundsätz us eusere Verfassig. Er isch nöd nur eh Verwaltigsmaschine. De Schwizer Staat brucht die moralische Grundsätz vo eus als Gsellschaft, will er sie vo sich us nöd erzüge chan. Eusi freiheitlichi Schwiz chan sich nur als sötiges definiere, wenn d’Bürger selber die freiheitliche Grundsätz immer wieder uf s’neue definiered.»

Direkte Demokratie leben

«Doch, wie definiert mer d’Freiheit als Gsellschaft? Zum Schluss möchte ich Sie ah eh witeri Errungeschaft erinnere: die direkti Demokratie. Doch z’viel Mensche ich dem Land, segeds Jungi aber au viel Lüt i die Bergregione gönd nüme go abstimme und go wähle. Ih dem Moment, wo de eifachi Bürger nüme sini direktdemokratische Recht brucht, passiered Fehlentwicklige. Oft wird gseit: «die da obe» mached ja sowieso was sie wend. Dass in Bern eh ganz eigeni Dynamik herrscht, witweg vom eigentliche Volk. Doch lönd sie mich s’Wort genau ah die Mensche richte, wo das glaubet: Mit genau dere Haltig: «die da in Bern mached was s’wend», gebed Sie als Stimmbürger eusi Unabhängigkeit uf. Wer sini Meinig nöd a d Urne treit, git damit die volli Macht und Entscheidigshoheit allne andere.

Es isch darum eusi Pflicht – au da in Weiach – die direktdemokratische Recht wieder wahrzneh, wieder konsequent ah Wahle und Abstimmige teilzneh und damit verantwortigsvoll eus für eh freiheitlichi Schwiz ihzsetze. Mir müend eus nämlich bewusst si, dass Freiheit, Sicherheit und Wohlstand kei Selbstverständlichkeit sind. Die freiheitlichi Gsellschaft idä de Schwiiz, chan nur bestah blibe, wenn mir gmeinsam eusi Pflicht wahrnehmed und selbstbestimmt seged, ih welli Richtig d’Schwiiz söll stüre.

731 Jahr, das langet au zum ungefähr 12 Millione mal mini Feschtred zum erste August ahzlose. Ich bin aber devo überzügt, dass kei 12 Millione mal nötig sind, sondern dass mini Botschaft hüt in Weiach ahcho isch. 

Es isch mir eh Ehr gsi, dörfe ihri Feschtrednerin z’si. Ich wünsche ihne jetzt en wundervolle 1. August. Gnüssed Sie d’Zit mitenand, lueged Sie use uf eusi wunderschöni Schwiiz und hebed Sie Muet und Chraft, zu de Freiheit vo eusere Schwiiz z’stah.»

Kommentar WeiachBlog

Im Gegensatz zu anderen Festrednern, die sich schon kurz nach ihrer Ansprache verabschieden mussten, hat es Camille noch mehrere Stunden in Weiach ausgehalten. Dem Vernehmen nach sei sie bis 2 Uhr morgens geblieben. Ohne den Fluglärm, dessen 90-Sekunden-Takt im Verlauf des Abends den Redefluss schon ziemlich stört, kann man es bei uns zu späterer Stunde an einem lauen Sommerabend durchaus aushalten und sich gut miteinander unterhalten.

Das Zitat, das WeiachBlog der Rednerin für den Titel dieses Artikels in den Mund gelegt hat, soll durchaus programmatisch wirken. Denn in diesem Punkt ist in Weiach die Welt überhaupt nicht so, wie sie die Verfechter der direktdemokratischen Abstimmungskultur (inkl. Gemeindepräsident) gerne hätten. Die Weycher sind regelmässig unter den Top 10 der stimmabstinentesten Gemeinden im Kanton zu finden, Briefwahlmöglichkeit hin oder her. Ausreisser, wie der letzte Abstimmungssonntag (18. Juni 2023), haben meist mit besonderer persönlicher Betroffenheit zu tun. In diesem Fall ist die Rekordstimmbeteiligung (Verdoppelung der sonstigen Werte!) wohl primär der Vorlage zum Projekt «Zukunft 8187» geschuldet.

Gerade an diesem sogenannten Infrastruktur-Projekt lässt sich exemplarisch aufzeigen, wie die aus Stadtzürcher Sicht geäusserten Zuschreibungen (mit Geld umgehen können, Welt noch in Ordnung, etc.) bei genauerer Betrachtung keineswegs von allen in der Gemeinde Ansässigen geteilt werden. Und das hat sehr viel mit dem demographischen und baulichen Wandel der letzten paar Jahre zu tun, von dem Weiach sozusagen überrollt worden ist.

Man hat Bauentwicklung befürwortet. Und es kamen Menschen. Mit anderen Ansichten und Bedürfnissen als sie bei der bisherigen Bevölkerung noch vor wenigen Jahren mehrheitlich Konsens waren. Der aktuelle akute Kitaplätze-Notstand (u.a. als Folge der abrupten Schliessung der gemeindeeigenen Kita im Pfarrhaus) ist nur eines von vielen Symptomen dieser Wachstumsschmerzen. 

Und wie bei einem Teenager, der zu schnell in die Höhe geschossen ist: es braucht Zeit, seine Gefühle zu sortieren, mit der Umgebung und sich selber die eigene Identität neu zu definieren und herauszufinden, was man nun künftig wie tun will im Leben. Insofern war die Wahl einer jungen SVP-Politikerin aus urbanem Umfeld als Festrednerin 2022 genau die richtige Entscheidung.