Mittwoch, 29. November 2023

Massive Erhöhung der Einbürgerungsgebühren

Nach den turbulenten Jahren der Helvetischen Republik, die die Weyacher als Privatleute und in Form ihrer Gemeinde in grösste Schwierigkeiten gestürzt hatten, da konnte man sich spätestens ab 1813 der Konsolidierung der Gemeindefinanzen und dem Wiederaufstocken der Waldungen widmen. Denn der im öffentlichen Eigentum stehende Wald, das war und ist die Trumpfkarte, mit der über viele Jahre hinweg die Lebenserhaltung für eine recht grosse Bevölkerung gesichert werden konnte. Auch für solche, die nicht wirklich viel Landwirtschaftsland und holzreichen Privatwald ihr Eigen nennen konnten. 

Wertvolles Weyacher Bürgerrecht

Das Bürgerrecht der Gemeinde Weyach war entsprechend begehrt. Der Bürgernutzen (umfassend Gratisbezüge für Bau- und Brennholz, Weiderechte (Ackaret) für Schweine im Eichenwald, etc.), war derart wertvoll, dass kaum jemand sein Bürgerrecht freiwillig aufgab. 

Damals zählte auch nicht der zivilrechtliche Wohnsitz, wenn es darum ging, mit Sozialhilfe unterstützt zu werden, sondern das Gemeindebürgerrecht und dessen Exklusivität. Spätestens zum Ende des 16. Jahrhunderts sicherte sich Wyach daher bereits das Privileg, den sogenannten Einzug (d.h. die Verleihung des Bürgerrechts) mit namhaften Einkaufssummen abgelten lassen zu dürfen. Dasselbe machte übrigens auch der Staat, wenn er das Kantonsbürgerrecht (damals «Landrecht» genannt) verliehen hat.

Gesuch um Bewilligung höherer Gebühren

Im Sommer vor 200 Jahren fand der damalige Gemeinderat, es sei an der Zeit, den gestiegenen Wert von Gemeindegut und Bürgernutzen mit einer höheren Einzugsgebühr absichern zu können, worauf er sich an den Oberamtmann auf Schloss Regensberg (so hiess der Nachfolger der Landvögte) wandte. Dort fand man Gehör und das Gesuch ging an den Regierungsrat (damals Kleiner Rat genannt):

«Ein von dem Lbl. Oberamte Regensperg mit empfehlendem Berichte d. d. 4ten hujus einbegleitetes Petitum der Gemeinde Weyach um Erhöhung ihrer Einzugsgebühren, wird der Lbl. Commißion des Innern zu näherer Prüfung und Einbringung eines gutächtlichen Berichts und Antrags überwiesen.»

Das hatte der Kleine Rat am 14. Oktober 1823 entschieden und nachdem die löbliche Kommission des Innern ihren Bericht eingereicht hatte, konnte die Regierung heute vor 200 Jahren über das Weyacher Gesuch befinden. 

Ausdrückliches obrigkeitliches Lob für Gemeinderat und Kirchenpflege

Der Ratsschreiber formuliert den Entscheid wie folgt:

«Es hat der Kleine Rath, nach Anhörung und in Genehmigung eines gutächtlichen Berichts und Antrags der Lbl. Commißion des Innern d. d. 12. hujus [12. November 1823], betreffend die ehrerbietige Bitte der Gemeinde Weyach um Erhöhung ihrer Einzugsgebühren, da sich bey näherer Untersuchung ergeben, daß ihr Gemeindsgut seit Ertheilung des letzten Einzugsbriefes durch sorgfältige Haushaltung und lobenswerthe Verwaltung der Vorsteherschaft, bedeutend vermehrt wurde, erkennt, diesem gegründeten Ersuchen mittels einer angemeßenen Erhöhung zu entsprechen, und daher ihren Einzug in das Gemeindgut von Frk[en]. 220. auf Frk[en]. 360., sowie in das Kirchengut von Frk[en]. 24. auf Frk[en]. 48. gesetzt, wogegen es bey der bestehenden Bestimmung der Gebühr in das Armengut u. in den Viehfond sein Bewenden haben soll.

Gegenwärtiger Beschluß wird dem Lbl. Oberamte Regensperg, unter Beylage eines neuen Einzugsbriefes (gegen welchen der alte zu beziehen und der Staatskanzley einzusenden ist) zu Handen der Gemeinde Weyach, unter Äußerung der Hochobrigkeitlichen Zufriedenheit mit der Verwaltung ihres Gemeindgutes, zugestellt.»

Wie man lesen kann, halten sich gewisse Begriffe hartnäckig. In diesem Fall «hochobrigkeitlich», was vor der Revolution den Inhaber der Hoch- oder Blutgerichtsbarkeit bezeichnete und diesen vom Niedergerichtsherren unterschied. Letztere gab es nach den Revolutionskriegen nicht mehr.

Happige Beträge

Nun, was war die Kaufkraft dieser Frankenbeträge vor 200 Jahren umgerechnet auf heutige Verhältnisse? Zieht man den Historischen Lohnindex (HLI) von Swistoval heran, dann ergibt sich in Geldwerten von 2009 eine Erhöhung von 25'714.- auf 42'077.- für das Gemeindegut und eine von 2'805.- auf 5'610.- für das mit wesentlich weniger Grundbesitz ausgestattete Kirchengut.

Daraus kann man ableiten, dass ein Zugezogener, der ins hiesige Bürgerrecht aufgenommen werden wollte, umgerechnet auf unsere Zeit auf der kommunalen Ebene mehr als 48'000 CHF hinblättern musste. Denn die Einzugsgebühr für Armengut und Viehfonds (deren Erhöhung vom Kleinen Rat abgelehnt wurde) ist da ja noch nicht eingerechnet.

Verglichen mit dem Stand zwölf Jahre später ist das umgerechnet auf die Kaufkraft noch vergleichsweise günstig. Denn 1835 verlangte man bereits 500 Franken, allein für das Gemeindegut (vgl. WeiachBlog Nr. 1642)!

Quellen und Literatur
  • Die Gemeinde Weyach bittet um Erhöhung ihrer Einzugsgebühren. Protokoll des Kleinen Rats (Regierungsrat) vom 14. Oktober 1823, S. 20. Signatur: StAZH MM 1.85 RRB 1823/0845.
  • Der Gemeinde Weyach wird eine Erhöhung des Einzugs bewilligt. Protokoll des Kleinen Rats (Regierungsrat) vom 29. November 1823, S. 213−214. Signatur: StAZH MM 1.85 RRB 1823/1001.
  • Brandenberger, U.: Können Sie sich Weyach leisten? WeiachBlog Nr. 1642 v. 19. April 2021.
  • Historischer Lohnindex (HLI), vgl.: SWISTOVAL. Swiss Historical Monetary Value Converter des Historischen Instituts der Universität Bern.
[Veröffentlicht am 30. November 2023 um 00:16 MEZ]

Samstag, 25. November 2023

Griesser seit über 500 Jahren in Weiach

Vor rund zweieinhalb Jahren hat sich eine Neuzuzügerin über meine Unterscheidung zwischen Alteingesessenen und Neo-Weiachern echauffiert (vgl. Quellen). Bei einem solchen Thema kommt es natürlich auf die Begriffsdefinitionen an. Wann gilt jemand als Alteingesessener?

Ohne jetzt eine fixe Grenze festlegen zu wollen: diejenigen Familien, deren Weiacher Bürgerrecht auf die Zeit vor 1798 zurückgeht, gehören aus Sicht des Ortshistorikers mit Sicherheit dazu. Wenn das Bürgerrecht bis heute besteht, sowie land- und forstwirtschaftliches Grundeigentum gehalten wird, dann muss man diese Geschlechter mit Fug und Recht als Alteingesessene bezeichnen. Zumal dann, wenn überdies Abkömmlinge in direkter Linie zivilrechtlichen Wohnsitz in Weiach haben. Diese Leute sind sozusagen der Kernbestand der Weiacher Wohnbevölkerung – ein mittlerweile ziemlich kleiner Prozentsatz.

Alamannischer Migrationshintergrund

Natürlich hat jeder hier Lebende letztlich eine Art Migrationshintergrund. Dazu muss man nur genügend weit zurückgehen. Denn auch die Alamannen, zu deren Abstammungs- und Kulturkreis die überwiegende Mehrheit der Deutschschweizer Stammbevölkerung gehört, sind in grösserer Zahl erst ab dem 7. Jahrhundert südlich des Rheins sesshaft geworden. Samt der über die Jahrhunderte unvermeidlichen familiären Vermischung mit den Restbeständen des römischen Reichs, der galloromanischen Provinzialbevölkerung.

Eins dieser Geschlechter nach meiner obigen Definition sind die Griesser. Dieser Familienname ist seit mindestens einem halben Jahrtausend mit Weiach verbunden. Der schweizweit wohl bekannteste Namensträger, der noch in Weiach wohnt, ist der Herdöpfel- und Tomaten-Experte Stefan Griesser (vgl. Quellen).

Wurzeln im Klettgau

In Deutschland findet man den Namen Grießer an 279 Orten, in der Schreibweise Griesser in der Schweiz an 119. Man beachte insbesondere den Cluster im baden-württembergischen Klettgau (heute: Südostteil des Landkreises Waldshut) und den grossen roten Kreis im Nordwesten des Kantons Zürich, der für Weiach steht. Der süddeutsche Cluster hat exakt die Ausmasse der früheren Landgrafschaft Klettgau (in den Grenzen von 1657 bis 1806):

Der Marktflecken Grießen im Klettgau ist sozusagen nur einen Katzensprung von uns entfernt. Er liegt am Nordfuss des Kalter Wangen, dessen Südflanke wir von Weiach aus sehen können. Wenn man den Familiennamen als Herkunftsbezeichnung versteht, dann liegt die alte Heimat der Griesser also gleich hinter dem Berg.

Dieser Hügelzug, der sich von Kadelburg (nahe Bad Zurzach) über die Küssaburg (634 m ü.M.), den Wannenberg (690 m ü.M.), den Kalter Wangen (671 m ü.M.) und den Gnüll (589 m ü.M. oberhalb Wasterkingen) bis nach Lottstetten erstreckt, ist altes Klettgauer Gebiet, das Rafzerfeld eingeschlossen.

Der Klettgau wird teilverschweizert

Den Grafen von Sulz fiel dank ihrer ehelichen Verbindung mit einer Tochter des Hauses Habsburg-Laufenberg im Jahre 1408 die Landgrafschaft Klettgau zu (inkl. der nach 1521 zu schaffhausischen Gebieten gewordenen Teile). Die Zürcher erwarben sich 1409 die Herrschaften Regensberg und Bülach, 1424 die Grafschaft Kyburg, wozu auch Weiach gehörte.

Derjenige Teil des Landgrafschaft Klettgaus, zu dem Hohentengen am Hochrhein, Stetten, Günzgen und Griessen gehörten, blieb auch nach 1657 Reichsboden, gehörte also staatsrechtlich weiterhin zum Heiligen römischen Reich deutscher Nation. Kurz nach dem 30-jährigen Krieg änderte sich das hingegen für die Gebiete nördlich des Eglisauer Brückenkopfs, weil die Grafen von Sulz in Geldnöten waren und daher den Städten Zürich resp. Schaffhausen ihre landesherrlichen Hoheitsrechte über das Rafzerfeld (1651) bzw. Buchberg und Rüdlingen (1657 zusammen mit weiteren Teilen des nordöstlichen Klettgau) verkaufen mussten. Die beiden eidgenössischen Städte waren bekanntlich mit dem Westfälischen Frieden von 1648 staatsrechtlich auch de jure unabhängig vom Reich geworden (de facto bereits seit dem Schwabenkrieg 1499; das älteste Bündnis der Schaffhauser mit den Eidgenossen datiert auf 1454).

Sulzische Untertanen werden auf eigene Faust Zürcher

Der Ort Griessen hat übrigens schon 1468 versucht, eidgenössisch zu werden, was aber misslang. Wenn jedoch ihre Landesherren 1488 in eigener Person Schweizer werden konnten, nämlich durch den Erwerb des Landrechts der Stadt Zürich, liessen sich dies auch einige sulzische Untertanen nicht entgehen. Sie konnten sich in Weiach niederlassen und erwarben das dortige Bürgerrecht. 

Laut Familiennamenbuch der Schweiz ist Weiach die einzige Schweizer Gemeinde, in der die Griesser vor Ende des Ancien Régime das Bürgerrecht erwarben.

In welchem Jahr dies der Fall war, liegt bisher im Dunkeln. Der älteste dem hier Schreibenden bislang bekanntgewordene Nachweis datiert auf das 1517.

Heini Griesser muss Geld aufnehmen

Und wie so oft handelt es sich um ein Finanzinstrument, beschrieben in einer Urkunde, die im Kaiserstuhler Stadtarchiv liegt. Konkret: um eine am 28. Januar 1517 besiegelte Gült, die in diesem Fall auf einem Ertragsanteil eines bestimmten Weiacher Landwirtschaftsbetriebs lastete.

Das Regest im Aargauer Urkundenbuch (AU XIII, Nr. 150) lautet wie folgt:

«1517 I. 28. (uff mitwoch nechst nach Pauli bekerung)

Heini Griesser von Wiach verkauft Hanssen Stollen, burger und des rats zuo Keyserstuol, die Gülte von 1 mütt guotz subers und wolgelutrotz vesen kernes Keyserstuoler meß, die jährlich auf sant Martistag zu entrichten ist, ab minem halben teyl deß güttlis zu Wiach gelegen, daß man nempte deß Schmidlis güttly, und gienge vorhin järlich darab ab minem teyl 6 stuck und l fiertel, sust fry ledig eygen. Der Kaufpreis beträgt 12 Gl. an guotter Schaffhuser müntz

Bürgen: Heini Brem, Hanß Aberly, Welti Fust und Cleuwi Kung, all vier von Wiach. Fertigung; Währschaftsversprechen; der Verkäufer behält sich das Wiederablösungsrecht vor. 

Erbetner Siegler: Barthlome Rösle, burger und des ratz zuo Keyserstuol. - Orig. Perg. StAK Urk. 133, besch. S. hängt.»

«Vesen» ist ein alter Begriff für die Getreideart Dinkel (vgl. Wikipedia sowie Idiotikon I, 1069, Bedeutung 2). Sauber und wohlgeläutert bedeutet, dass es sich um entspelzten Dinkel handeln muss.

Unklar ist, ob wir eine Privaturkunde vor uns haben, oder das Geschäft vor einem Gericht (Stadtgericht Kaiserstuhl oder Dorfgericht Weiach) gefertigt wurde. Aufgrund des Sieglers (eines Ratskollegen von Stoll) und der fehlenden Angabe des Gerichtsvorsitzenden tendiere ich auf ersteres.

Nachrangige Forderung

Hans Stoll von Kaiserstuhl investierte also 12 Gulden in Schaffhauser Währung (die örtlich übliche Geldeinheit, vgl. WeiachBlog Nr. 1601) in ein Wertpapier. Sein Wertanteil war 1 Mütt Kernen ab derjenigen Hälfte des Schmidlis Güetly, das dem Heini Griesser gehörte. Und wie das heute bei einer Hypothek ist: festgehalten ist auch der Rang dieser Forderung. Sie kommt nämlich nach Bezahlung der bereits darauf lastenden 6 Stuck 1 Viertel zur Auszahlung, wobei 1 Stuck = 1 Mütt. Total belasteten Heini Griessers Ackerland nun also Abgaben im Wert von 7.25 Mütt. 

Nach den in Kaiserstuhl geltenden Hohlmassen für entspelztes Getreide (vgl. WeiachBlog Nr. 117) fasste ein sog. Viertel 22.42 Liter, d.h. pro Mütt rund 90 Liter entspelztes Getreide. Jährlich an Martini (11. November) wurde somit ein Betrag fällig, der einem bestimmten Prozentsatz des Handelswerts dieses Mütt Kernen entsprach (üblich waren 5 Prozent).

Quellen und Literatur

  • Kläui, P.: Die Urkunden des Stadtarchivs Kaiserstuhl. Aargauer Urkunden Bd. 13 (AU XIII), Verlag Sauerländer, Aarau 1955.
  • Entspelzt oder unentspelzt? (Mass und Gewicht 4). WeiachBlog Nr. 117 v. 1. März 2006.
  • Als Weiach zum Schaffhauser Wirtschaftsgebiet gehörte. WeiachBlog Nr. 1601 v. 13. Oktober 2020.
  • Tina Pilla, Neuzuzügerin: Beitrag vom 16. März 2021 in der Facebook-Gruppe «Du bisch vo Weiach, wenn...».
  • Hinweis vom 25. Juli 2021 auf ZU-Bericht über Stefan Griesser, Alteingesessener und Kartoffelsaatgutexperte. [Gasser, B.: Kartoffeln aus aller Welt in Weiach. 1000 verschiedene Härdöpfel von Gelb über Rot bis Violett. In: Zürcher Unterländer Online, 24. Juli 2021, 11:32]
  • Stefano Ravara (ed.): Projekt «Mappa Dei Cognomi» 2017-2023. URL: www.kartezumnamen.eu

Dienstag, 21. November 2023

Leiacher. Einmal Verschlimmbesserung und zurück.

Was da im Dezember 2015 genau passiert ist? Eine versehentliche Löschung bei der Modernisierung der Zollinger'schen Flurbezeichnungen, die er seinem blauen Büchlein als letztes Kapitel zwischen Ausklang und Anhang beigegeben hat, war's wohl nicht. Eher eine Fehlinterpretation, ohne einen Blick auf die Flurnamenkarte von Boesch (vgl. WeiachBlog Nr. 86) geworfen zu haben.

Jedenfalls wurde beim Eintrag Leiacher, Im (Zollinger verwendete noch -ai-) aus der Erklärung «Wiese am Weg von der Sägestrasse zur Buhalde» (mit bereits an den heutigen Sprachgebrauch angepasster Bauhalde; vgl. Version November 2015) der Text «frühere Bezeichnung; Wiese am Weg von der Säge zur Buhalde». Damit wird impliziert, die Flur im Leiacher sei früher um einiges südwestlicher zu finden gewesen, als es die heutigen Bezeichnungen nahelegen.

Die Sägestrasse ist nicht die Säge

Zwischen einem eher punktförmigen Objekt wie der ehemaligen Säge (Bachserstrasse 20) und einem linearen Objekt wie der «Sägestrasse» ist jedoch ein grosser Unterschied.

Mit der «Sägestrasse» kann Zollinger nur die heutige Bachserstrasse gemeint haben, denn der heute Gartenweg genannte Fussweg qualifiziert nicht als Strasse. Dieser Weg von der Sägestrasse zur Buhalde kann also nicht der heutige Panoramaweg sein, der erst nach der Säge links von der Bachserstrasse abzweigt. Wohl aber einer der beiden Bewirtschaftungswege, die Richtung Südosten von ihr abgehen. Der dem Dorfzentrum nähere (Parzelle 892) trägt heute (aus mir unerfindlichen Gründen) den Namen Bachtelweg, der der Säge nähere (Parzelle 896) ist unbenannt geblieben.

Diese Verschlimmbesserung ist jetzt nach fast acht Jahren in der neuesten Ausgabe der 6. Auflage korrigiert worden.


Wo sind die Leiächer?

Folgt man der von Prof. Bruno Boesch 1958 erstellten Karte, dann beginnt die Flur Leiacher (bei Swisstopo in der Pluralform Leiächer) – abweichend von Zollinger – erst etwa 70 Meter nordöstlich des Bachtelwegs, erstreckt sich jedoch über den heutigen Leiacherweg (einen ungeteerten Feldweg) hinweg auf den grössten Teil des heute mehrheitlich überbauten Gebiets Obstgartenstrasse bis an die alte Bebauungslinie Schulweg–Lindenweg–ehem. Haus Bergstr. 2 (jetzt: Ersatzbau Obstgartenstrasse 1).

Diese Interpretation der Situierung im Raum wurde auf den Karten der Landestopographie (Swisstopo) übernommen, wie man beim entsprechenden Eintrag auf ortsnamen.ch sehen kann.

Neben Leiacher und Leiächer findet man dort auch die von Boesch notierte Mundartform Läiächere (phonetisch: læiæχərə)

Wo war der Leimacher?

Im selben Eintrag auf ortsnamen.ch wird die Flurbezeichnung «am Leimacher» aus der Mitte des 16. Jahrhunderts aufgeführt und damit mit dem Leiacher direkt verknüpft.

Diese historische Fundstelle ist dem sog. Kelleramtsurbar des Fraumünsters (StAZH G I 142) entnommen. Das Kelleramt war eine Verwaltungseinheit, die 1548 (also kurz nach der Reformation) aufgelöst und ins Obmann- bzw. Almosenamt überführt wurde, wo weitere Weiacher Grundstücke steuerpflichtig waren.

Ohne genaue Analyse des wirtschaftlichen Zusammenhangs dieses Flurstücks (insbesondere die Angabe, in welcher Zelge es gelegen war) kann nicht entschieden werden, ob diese faktische Gleichsetzung zulässig ist oder nicht, zumal es auch noch an anderen Orten auf Gemeindegebiet Flächen mit lehmigem Boden gibt, die diese und ähnliche Bezeichnungen getragen haben. 

Zu nennen sind folgende in Urkunden im Kaiserstuhler Stadtarchiv erwähnte Flurnamen, alle ebenfalls aus dem 16. Jahrhundert: Leimgrůb (AU XIII, Nr. 282), Letten vorm Stein (AU XIII, Nr. 132), Letten, Lätten (AU XIII Nr. 270 u. 282), Lätten vor dem Stein (AU XIII, Nr. 282); Lättenwisli (AU XIII, Nr. 282), Lettenacker (AU XIII, Nr. 227) sowie Lettenwiß im Berg (AU XIII, Nr. 282). 

Ob letztere beiden identisch mit den späteren Läiächere sein können? Immerhin befindet sich die sog. Zelg am Berg (vgl. auch den Flurnamen oben auf Boeschs Karte) in exakt dieser Geländekammer (und nicht Richtung Kaiserstuhl bzw. Hardwald wie die beiden anderen Zelgen).

Lett und Lei sind zweierlei

Aber auch hier muss man genau unterscheiden zwischen Lei und Lett. Denn das ist durchaus nicht dasselbe, wie man dem Idiotikon, dem Schweizerdeutschen Wörterbuch, entnehmen kann (vgl. Id. 3, 1448): Letten, heisst es da, bezeichne eine «fette (blaue) Tonerde, tonartiger Mergel» oder auch «gemeiner Ton, der für Töpferarbeit untauglich ist, Lehm, wie er aus der Erde gegraben wird», bzw. «breiartiger Strassenkot, Schlamm, mergelartiger Sand», im Gegensatz zum «Leim» oder «Lei»«dem zur Töpferarbeit zubereiteten Ton». 

Quellen und Literatur
  • Kläui, P.: Die Urkunden des Stadtarchivs Kaiserstuhl. Aargauer Urkunden Bd. 13 (AU XIII), Verlag Sauerländer, Aarau 1955.
  • Brandenberger, U.: Flurnamenkarte 1958 quo vadis? WeiachBlog Nr. 86 v. 29. Januar 2006.
  • Brandenberger, U.: Weiach – Aus der Geschichte eines Unterländer Dorfes, 5. Aufl., Ausgabe Nov. bzw. Dez. 2015.
  • Eintrag Leiächer (Weiach ZH). In: ortsnamen.ch - Das Portal der schweizerischen Ortsnamenforschung.
[Neuer letzter Abschnitt hinzugefügt am 22. November 2023 um 10:05 MEZ]

Montag, 20. November 2023

Wirtstochter an anderen Betrieb abzugeben

Am heutigen Tag vor genau 100 Jahren war in der NZZ das nachstehende Inserat eingerückt: ein Stellengesuch. Für eine Stelle als Wirtstochter? Nein.

Berta Wagner (22), eine Tochter der Sternenwirtin, suchte eine «Stelle in gangbares Restaurant od. bessere Wirtschaft». Und gibt bekannt, sie sei jederzeit verfügbar: «Eintritt nach Belieben».


Dass der Gasthof zum Sternen damals einer Frau gehörte und daher der Begriff Sternenwirtin mehr als berechtigt ist, geht aus dem zweitältesten Lagerbuch der Gebäudeversicherung (PGA Weiach IV.B.06.02) hervor.

Dort ist beim ehaften Wirtshaus (Assekuranznummer 178 nach System 1895) im Jahre 1915 als Eigentümerin eingetragen: «Maria Wagner, geb. Kramer». Seit diesem Zeitpunkt gehört der «Sternen» nun ununterbrochen dieser Wirtefamilie, nachdem er ab 1860 nicht weniger als achtmal die Hand gewechselt hatte.

Quellen

  • Neue Zürcher Zeitung, Nummer 1599, 20. November 1923
  • Lagerbuch Gebäudeversicherung Kt. ZH, Expl. Gemeinde, 1834-1894. PGA Weiach IV.B.06.01.
  • Lagerbuch Gebäudeversicherung Kt. ZH, Expl. Gemeinde, 1895-1954. PGA Weiach IV.B.06.02.

Sonntag, 19. November 2023

Keine Rechtsgrundlage für Geheimhaltung des Resultats

Heute ging ja die Ausmarchung um den zweiten Zürcher Ständeratssitz über die Bühne. Und wie nach dem woke-links-grünen Propaganda-Stahlgewitter gegen den SVP-Kandidaten Rutz nicht anders zu erwarten, war nach dem Rückzug aller anderen aussichtsreichen Kandidierenden, die ihr hätten Stimmen kosten können, die GLP-Kandidatin Moser sozusagen gewählt. Dasselbe Muster wie in Deutschland (Alle gegen die AfD): Hauptsache kein SVP-ler, was man an seiner Stelle wählt, ist egal. Denn die SVP ist «Nazi». 

Das focht die Weiacher wie gehabt auch diesmal nicht an. Bei einer wie gewohnt tiefen Stimmbeteiligung von 27 % (nur 344 von 1264 Stimmberechtigten reichten ihren Wahlzettel ein) holte Rutz 227 Stimmen, Moser 102. Dieses Resultat wurde heute um 12:44 publiziert. Das war, wie wir uns erinnern, am 18. Juni diesen Jahres anders. 

Bezirksratspräsident spricht Publikationsverbot aus

Der Bezirksratspräsident hatte aufgrund des Stimmrechtsrekurses in Sachen «Zukunft 8187» dem Wahlbüro explizit verboten, die Resultate der Öffentlichkeit bekanntzugeben (vgl. WeiachBlog Nr. 1936). Abstimmungsprotokoll und Wahlzettel seien zu siegeln und lediglich dem Bezirksrat zur Kenntnis zu bringen. Über die Gründe für dieses Publikationsverbot war beim Bezirksrat auch auf Anfrage nichts zu erfahren. Mehr als einige Hinweise konnte auch das Aufsichtsorgan beim Kanton nicht geben.

Der Bezirksrat wies die Stimmrechtsbeschwerde in der Folge ab, wie die Gemeinde am 30. August per Medienmitteilung verlauten liess. Eine weitere Medienmitteilung gab am 12. September bekannt, dass der Beschwerdeführer den Entscheid ans kantonale Verwaltungsgericht weitergezogen habe. Und bereits am 14. September lag der erste Zwischenentscheid des neu für das Verfahren zuständigen Richters vor. Er ordnete an, die Resultate der Abstimmung seien umgehend zu veröffentlichen! Wie kam es dazu?

Zwischenentscheid vom 14. September ist publiziert

Da dieser sogenannte Zwischenentscheid in der Sache VB.2023.00508 nun in der öffentlich für jedermann zugänglichen Datenbank publiziert ist (vgl. Quellen unten), kann auch problemlos daraus zitiert werden.

Geheimhaltungsbefehl rekapituliert

In Ziff. II wird der Geheimhaltungsbefehl durch den Vorsitzenden Reto Häggi Furrer und seinen Gerichtsschreiber David Henseler wie folgt beschrieben:

 «Der Präsident des Bezirksrats wies "[d]as Wahlbüro" der Gemeinde Weiach mit Verfügung vom 6. Juni 2023 an, die Abstimmung durchzuführen und die Stimmen auszuzählen, jedoch das Abstimmungsresultat einstweilen nur dem Bezirksrat Dielsdorf mitzuteilen und nicht zu publizieren; die Stimmzettel und das unterschriebene Abstimmungsprotokoll seien "ordnungsgemäss zu versiegeln".

Mit Beschluss vom 28. August 2023 wies der Bezirksrat den Stimmrechtrekurs ab, soweit er darauf eintrat (Dispositiv-Ziff. I). In Dispositiv-Ziff. II wies er den Gemeinderat Weiach an, das Abstimmungsresultat vom 18. Juni 2023 "nach Rechtskraft dieses Entscheids mit Rechtsmittelbelehrung zu publizieren"

Mit dem Weiterzug, so das Verwaltungsgericht weiter, sei die Zuständigkeit für sog. prozessleitende Anordnungen (wie es eine solche Geheimhaltungsverfügung darstellt) vom Bezirksrat auf das Gericht übergegangen. So weit, so klar. 

Nachvollziehbarkeit? Fehlanzeige!

Was nun folgt, ist einigermassen ernüchternd. Zuerst wird festgehalten, der Entscheid sei in keiner Art und Weise nachvollziehbar: «Weder der Präsidialverfügung vom 6. Juni 2023 noch dem Endentscheid vom 28. August 2023 lässt sich eine Begründung entnehmen, weshalb die Vorinstanz dem Beschwerdegegner verbot, das Ergebnis der Abstimmung vom 18. Juni 2023 vor Rechtskraft des Rekursentscheids zu publizieren.»

Umgehende Veröffentlichung ist ein Gebot der Demokratie

Dann kommt es knüppeldick, denn da heisst es weiter: «Das vorinstanzliche Vorgehen ist denn auch nicht nachvollziehbar. Nach § 13 des Gemeindegesetzes vom 20. April 2015 (LS 131.1) in Verbindung mit § 81 Abs. 2 des Gesetzes über die politischen Rechte (GPR, LS 161) veröffentlicht die wahlleitende Behörde das Ergebnis der Abstimmung mit der entsprechenden Rechtsmittelbehörde; bei kommunalen Abstimmungen kann sie diese Aufgabe an das Wahlbüro übertragen (§ 81 Abs. 3 GPR). 

Weder diese noch eine andere Bestimmung des Gesetzes über die politischen Rechte berechtigen die wahlleitende Behörde, die Publikation des Abstimmungsergebnisses wegen eines Rechtsmittelverfahrens gegen die Abstimmung aufzuschieben. Es entspricht vielmehr einem Gebot der Demokratie, dass das Abstimmungsergebnis umgehend öffentlich bekannt gemacht wird.

Dementsprechend fehlt auch dem Bezirskrat [sic!] eine Rechtsgrundlage, um die Publikation des Abstimmungsergebnisses zu untersagen.»

Der letzte Satz ist eine – man kann es nicht anders sagen – juristische Ohrfeige an die Adresse des Bezirksratspräsidenten. Denn ohne Rechtsgrundlage darf ein Staatsangestellter überspitzt formuliert nicht einmal einen Bleistift in die Hand nehmen. Fazit: Eine überaus deutlich formulierte Rüge!

Denkfehler: Abstimmungsresultat erst am St. Nimmerleinstag rechtskräftig

Mit diesem Vorwurf der mangelnden Rechtsgrundlage für eine Geheimhaltung ist die Standpauke aber noch nicht beendet. Der Vorsitzende setzte noch eins drauf, indem er auf einen folgenschweren Denkfehler des Bezirksratspräsidenten hinweist:

«Es kommt hinzu, dass aufgrund des vorinstanzlichen Vorgehens [Anm. WeiachBlog: der Geheimhaltungsbefehl] das Abstimmungsergebnis mit dem Abschluss des vorliegenden Verfahrens [der Schlussentscheid des Verwaltungsgericht] gar nicht in Rechtskraft erwachsen könnte, weil die Rechtsmittelfrist gegen das Abstimmungsergebnis mangels Publikation gar noch nicht zu laufen begonnen hat.»

Denn erst mit der Publikation (für den zweiten Wahlgang der Ständeratswahlen 2023 also heute um 12:44) beginnt eine kurze Frist zu laufen, innerhalb derer Stimmberechtigte Beschwerde gegen das Protokoll einreichen können, z.B. zur Art und Weise, wie das Ergebnis ausgezählt wurde.

Und deshalb ordnete das Verwaltungsgericht an, die Ergebnisse seien umgehend zu publizieren, was die Gemeindeverwaltung auch tat.

Bezirksratspräsident behält Gründe für Geheimhaltung für sich

Gegenüber WeiachBlog hat sich der Herr Bezirksratspräsident auch in einem persönlichen Gespräch nicht materiell zur Frage geäussert, aus welchen Gründen er im konkreten Fall die Geheimhaltung des Resultats angeordnet hat. Er akzeptiere aber die Verfügung des Verwaltungsgerichts und dessen Rechtsauffassung. Jetzt sei es wichtig, dass man nach vorne schaue und zu einem Entscheid komme, damit die Angelegenheit einer Lösung zugeführt werden könne. 

Hinweis: «Dieser Entscheid ist noch nicht rechtskräftig.» Da dieser Satz auch zwei Monate nach dem oben diskutierten Zwischenentscheid noch so in der Datenbank steht, ist nicht auszuschliessen, dass der Bezirksrat Dielsdorf Beschwerde beim Bundesgericht in Lausanne erhoben hat.

Quellen

[Veröffentlicht am 20. November 2023 um 00:30 MEZ]

Donnerstag, 16. November 2023

Spöitz-Verbot wegen den Wallisellern?

Wenn Gemeinden ihre Polizeiorgane zwecks besserer Effektivität und Erhöhung der Interventionsdichte zusammenlegen, wie das im Raum Bassersdorf, Dietlikon, Kloten, Opfikon, Wallisellen unter dem Label Polizeiverbund Hardwald gerade gemacht wird, dann verbindet man das sinnvollerweise damit, eine «gemeinsame, gleichlautende, harmonisierte Polizeiverordnung» zu erlassen.

Das Zitat findet sich heute im «Zürcher Unterländer», der bereits im Titel darauf aufmerksam macht, dass das Spuckverbot vor noch nicht allzulanger Zeit sozusagen out of Wallisellen über die Schweiz gekommen sei.

No spitting, please!

Redaktor Alexander Lanner bringt auch das Anti-Spuck-Gesetz von Singapur aus dem Jahre 1992 aufs Tapet, vor dem die Reisehinweise des Eidg. Aussendepartements warnen. 

Was den hier Schreibenden daran erinnert, wie er 1989 auf Besuch in der damals noch britischen Kronkolonie Hongkong mit Staunen die entsprechenden drakonischen Bussgeld-Androhungen in der U-Bahn zur Kenntnis genommen hat. Das Spuckverbot muss also wie so ein ostasiatischer Käfer auf dem Luftweg zu uns gekommen sein.

Doch Spass beiseite. Der «Unterländer» erwähnt zwar, dass ein solches Verbot auch in Glattfelden und Dielsdorf in Kraft ist, verschweigt seinen Leserinnen und Lesern aber, dass die Weiacher Regelung noch wesentlich schärfer ist als die in unserer östlichen Nachbargemeinde.

In Weiach ist Spucken auch im Wald verboten

Auch in Weiach kann Spöitze seit zwölf Jahren mit 50 CHF bestraft werden: «Das Spucken auf öffentlichem Grund und auf öffentlich zugänglichem Grund ohne Not ist untersagt.» (Art. 30 Abs. 4 PolVo Weiach 2011), derselbe Wortlaut wie in Wallisellen (Art. 50 Abs. 4 PolVo Wallisellen 2007). Das heisst: Es ist nur im eigenen Garten erlaubt. Wenn man beim Spucken im Wald erwischt wird (egal ob Staats-, Gemeindewald oder Privatwald), dann ist die Busse fällig.

Das Verrichten der Notdurft ist übrigens «an anderen als den dafür bestimmten Orten» untersagt. Heisst: nicht nur Wildpinkeln oder -sch...en im Wald ist verboten, das wird auch im eigenen Garten gebüsst (vgl. Art. 31 derselben Polizeiverordnung).

Wasserlassen im Wald ist in Glattfelden explizit nicht verboten, darüber haben sogar die Medien berichtet (vgl. WeiachBlog Nr. 1004, s. unten).

Falls Sie sich vorsehen und wissen wollen, was unsere kommunale Polizeiverordnung sonst noch alles verbietet, dann sollten Sie sich die 22 Seiten sehr genau durchlesen. Der Ortspolizist (Förster Alexander Good) und der Gemeinderat können natürlich durch die Finger sehen, aber wenn ihnen nicht danach ist (und im Falle einer Anzeige mit unwiderlegbaren Beweisen) kann es schon mal ziemlich teuer werden. Denn Unwissenheit schützt bekanntlich nicht vor Strafe.

Quellen und Literatur

Dienstag, 14. November 2023

Il Piccolo di Trieste. Weiacher Stimmen zum Alitalia-Absturz

«Il Piccolo» ist die wichtigste Tageszeitung der bis 1918 habsburgisch-österreichischen Hafenstadt Triest an der Adria. Das 1881 gegründete Blatt erreicht eine Auflage von rund 40'000. 

Am 16. November 1990 war das Flugzeugunglück am Weiacher Haggenberg in dieser Zeitung mit ganz grossen Lettern auf der Titelseite (abrufbar bei archive.org):


Bereits am Tag nach der Katastrophe galt in der Redaktion des «Piccolo» als wahrscheinlichste Hypothese: Diese DC-9 ist zu tief angeflogen. Das sieht man an der Schlagzeile und ihren Untertiteln. Ebenfalls fett wird die Betroffenheit der eigenen Region herausgestrichen, denn: der zweite Pilot (d.h. Copilot Massimo Defraia; oft «De Fraia» geschrieben) stammte aus der Region Triest (vgl. dazu den letzten Abschnitt).

Augenzeugin Ryffel

Am 15. November muss sich ein Korrespondent des «Piccolo» in Weiach mit hier Ansässigen unterhalten haben. Er hat Aussagen eingefangen, die ich so in anderen Zeitungen bisher nicht gefunden habe:

Che qualcosa non funzionasse in quell’atterraggio risulta anche dalle testimonianze degli abitanti dei paesi vicini al luogo della sciagura: «Il mio bambino era alla finestra. Ha visto l'aereo e si è impaurito; "Mamma, mamma! C’è un aereo che casca sulla casa!”». Ursula Riffel, custode della scuola elementare di Weiach è subito corsa alla finestra. «L'aereo è passato a pochi metri sopra di noi — racconta la donna — abbiamo visto distintamente tutte le sue luci. Poi è scomparso dietro un costone. Ma qualche secondo più tardi c'è stato un grande scoppio e una luce rossastra si è diffusa sulla collina».

Übersetzung (mit maschineller Unterstützung durch Google Translate und DeepL): Dass bei dieser Landung etwas nicht funktioniert hat, zeigen auch die Aussagen der Bewohner der Dörfer in der Nähe des Unglücksortes: «Mein Kind stand am Fenster. Es sah das Flugzeug und bekam Angst; "Mama, Mama! Da stürzt ein Flugzeug auf das Haus!"». Ursula Riffel, Hauswartin der Volksschule Weiach, rannte sofort zum Fenster. «Das Flugzeug flog ein paar Meter über uns vorbei», erzählt die Frau, «Wir sahen deutlich alle seine Lichter. Dann verschwand es hinter einer Kuppe. Doch ein paar Sekunden später gab es einen grossen Knall und ein rötliches Licht breitete sich über den Hügel aus.»

Das Ehepaar Ursula und Paul Ryffel waren die Schulhausabwarte und wohnten in der Abwartswohnung im Südwestteil des Mehrzweckgebäudes Hofwies (Schulweg 4, heutige Büroräume der Verwaltung der Schule Weiach).

Augenzeuge Mederle

Anche Enrico Mederle, 42 anni, originario di Bolzano, ma in Svizzera da 25 anni, abita a Weiach: «Qui ogni due minuti ci passa un aereo sulla testa. Li riconosciamo dagli orari e dal rumore che fanno, ieri sera mi sono subito accorto che qualcosa non andava in quel volo. Quel-l'aereo sembrava troppo silenzioso ma a tratti faceva invece un rumore gracchiante, inconsueto. Pochi secondi dopo averlo visto passare, ho sentito la scoppio, poi lo schianto».

Übersetzung (mit maschineller Unterstützung durch Google Translate und DeepL): Enrico Mederle, 42, ursprünglich aus Bozen, aber seit 25 Jahren in der Schweiz, wohnt ebenfalls in Weiach: «Hier fliegt alle zwei Minuten ein Flugzeug über unsere Köpfe hinweg. Wir erkennen sie am Flugplan und dem Lärm, den sie machen, und gestern Abend habe ich sofort gemerkt, dass mit diesem Flug etwas nicht stimmt. Das Flugzeug schien zu leise zu sein, aber zeitweise gab es stattdessen ein ungewöhnlich [wörtlich:] krächzendes Geräusch von sich. Sekunden nachdem ich es vorbeifliegen sah, habe ich die Explosion gehört und dann den Absturz

Mederle wohnte im Chalet Stockistrasse 8, gleich unterhalb der Einmündung der Weinbergstrasse. Von diesem Standort aus ist es sehr gut möglich, dass das Flugzeug – da es viel zu tief angeflogen ist – zuerst zu leise war (weil von dort aus gesehen hinter dem Wingert) und dann ungewöhnlichen Lärm gemacht hat. In diesem Moment versuchte Copilot Massimo Defraia laut dem Untersuchungsbericht nämlich noch, ein Durchstartmanöver einzuleiten, was die Triebwerke aufheulen liess (vgl. WeiachBlog Nr. 1610).

Angst vor dem Flughafen Zürich

Der Titel des Kastens über den Copiloten rückt allerdings nicht den Anflugpfad in den Mittelpunkt: «Diese Piste war schlecht für ihn», heisst es da im Piccolo di Trieste (s. Bild unten). Zu diesem Zeitpunkt wusste man noch nicht, was die eigentliche Unglücksursache war, nämlich die Fehlfunktion der Höhenmesser. In der Erinnerung seiner Angehörigen zählt etwas anderes: Massimo habe vor dem Flughafen Zürich Angst gehabt, weil der Anflug besonders schwierig sei.

Diese Angst scheint bei Raffaele Liberti, laut der Zeitung La Repubblica der Kommandant auf dem Flug Alitalia 404, eher zu wenig ausgeprägt gewesen zu sein. Zu selbstsicher wirkt er, wenn man sich die Transkripte der Cockpit-Kommunikation durchliest. 

Und hätte Liberti das Durchstartmanöver (Go around) seines Copiloten nicht abgebrochen, dann, wer weiss, wäre es vielleicht nicht zum Aufprall am Haggenberg gekommen. Nicht umsonst gilt in der Pilotenausbildung: Ein Go Around wird durchgezogen. Er darf nicht abgebrochen werden.

Quelle und Literatur

Montag, 13. November 2023

Wie kam der Flurname «Damast» zustande?

Er ist der wohl exklusivste Flurname auf Weiacher Boden überhaupt: Damast. Den findet man – laut der Datenbank ortsnamen.ch (Stand Mitte Oktober 2023) – nur bei uns. Und sonst nirgendwo in der Schweiz.

Wie alt ist die Ortsbezeichnung? 

Dazu führt der Eintrag bei Ortsnamen.ch keine historischen Belege auf. Die bislang älteste Nennung, die ich finden konnte, datiert auf das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Der von Willi Baumgartner-Thut der Nachwelt zur Kenntnis gebrachte Plan des Rebstrassenprojekts (1909-1911) weist ihn in der heutigen Schreibweise auf.

In der Flurnamenliste von Lehrer Adolf Pfister (mutmasslich 1941 erstellt; Teil des sog. Ortsgeschichte-Ordners) findet man den Namen auch. Seltsamerweise fehlt von ihm aber im blauen Büchlein von Walter Zollinger (1972/84) jede Spur.

Auf dem parzellenscharf gezeichneten Plan von Prof. Bruno Boesch aus dem Jahre 1958 (d.h. vor der Güterzusammenlegung) sieht man die Verortung der Flur Damast unterhalb der Fasnachtflue, wo sie bis knapp unter die oberste Rebstrasse reicht. Von diesem heute Rebbergstrasse genannten Weg bis zur Trottenstrasse bildet der Damast das Mittelstück, nordwestlich begrenzt durch die Flur Im Bruch/Im Luppen sowie südöstlich durch den Chabis.

Der heutige Damaststieg (eine Treppe in zwei Teilstücken, die von der Winkelstrasse in die Trottenstrasse und weiter in die Leestrasse führt) befindet sich somit am nordwestlichen Rand dieser Flur. Auf aktuellen Karten ist die Bezeichnung aus darstellungstechnischen Gründen ausserhalb des Einfamilienhausquartiers oberhalb der Leestrasse in der Nordecke der 1958 veranschlagten Fläche platziert, mit Schwerpunkt auf der heutigen landwirtschaftlichen Parzelle 322.

Eine Eigentümerbezeichnung?

In der Praxis brauchbar ist ein Flurname, wenn er einen hohen Wiedererkennungswert hat. Für Fluren ohne besondere topographische oder bewirtschaftungstechnische Merkmale werden dann gern Personennamen beigezogen, vorzugsweise solche, die eher selten sind. Denn was soll man mit einer Bezeichnung wie Des Meyerhoffers Wisli anfangen? Es gab (und gibt) schlicht zu viele Familien mit diesem Namen in Weiach. 

Anders sieht es aus, wenn eine Familie Valdey ein Stück Wald in Brandrodung urbar gemacht hat. Diesen Namen gibt es hier selten und daher wusste im 16. Jahrhundert wohl jeder, was mit «der Faldeyen Brand» an der Gemeindegrenze zu Raat gemeint war (vgl. RQNA Nr. 178, S. 386, Z. 33 und Weiacher Geschichte(n) Nr. 103, S. 406/407).

Aus einer Amts- bzw. Berufsbezeichnung, aber auch aus Vornamen konnte jedoch einer der vielen Übernamen entstehen, mittels derer man die Familienzweige der Baumgartner, Meier, Meierhofer, Schenkel, etc. voneinander zu unterscheiden vermochte.

Das Kind einer Leibeigenen

In einem undatierten Verzeichnis der Leibeigenen in Wyach, das mutmasslich aus dem Ende des 16. Jahrhunderts stammt, wird u.a. eine «Anna, verh. mit Hans Meyerhoffer, und ihr Sohn Damast» aufgeführt. (Zit. n. Regest zu StAZH C II 6 Konstanz, nr. 495).

Und es ist ziemlich wahrscheinlich, dass ebendieser Sohn namens Damast auch in einem Protokoll des Dorfgerichts vom 9. Mai 1612 (nach gregorianischem Kalender) auftaucht, weil seine Ehefrau dort als Beklagte erscheinen musste: die Verhandlung in Sachen «Gebhard Boumbgarter» gegen «Anna Glattfelderin, Damast Meyerhoffers fraw, unnd Kleinanna Müllerin, deß Cuonrad Trüllingers fraw» (vgl. RQNA Nr. 190, S. 421, Z. 29 und WeiachBlog Nr. 738).

Diese Anna Glattfelderin scheint spätestens in den 1620ern gestorben zu sein, jedenfalls findet man im ältesten Weiacher Kirchenbuch unter dem 9. November 1630 einen Eintrag über die Verehelichung eines Damast Meierhofer (im Original «Dammast») mit Adelheid Kissling von Rickenbach (vgl. StAZH E III 136.1, EDB 87).

Wiederum wenige Jahre danach, am 26. Juli 1638, ist erneut ein Dammast mit dem Familiennamen Meierhofer als Bräutigam vermerkt. Als neue Ehefrau: Dorothea Frei von Dachsen (nahe dem Rheinfall; vgl. StAZH E III 136.1, EDB 132).

Auch in Kaiserstuhl gibt es den Vornamen

Damast mag in Weiach ein exklusiver Vorname gewesen sein, aber auch im benachbarten Rheinstädtchen gab es ihn in diesen Jahren:

Am 26. Oktober 1565 werden in einer Urkunde zwecks Verortung eines mit einer Gült belegten Grundstücks am Kaiserstuhler Rebberg (d.h. auf der Reichsseite im heutigen Hohentengen gelegen) die Eigentümer der benachbarten Parzellen genannt (AU XIII, Nr. 231), darunter Damast Buol, ein Kaiserstuhler. Wohl derselbe Damast Buol wird 1570 (AU XIII, Nr. 242) erwähnt. 

Am 9. Februar 1620 (st. n.) wird Damast Lieneman, Bürger zu Kaiserstuhl als Verkäufer einer Gült beurkundet (AU XIII, Nr. 391) und 1627 erscheint ein Damast Enngler in einem weiteren Schriftstück, das im Kaiserstuhler Stadtarchiv liegt (AU XIII, Nr. 418).

Eine Gült ist ein Wertpapier, bei dem das Grundstück selber und nicht sein Eigentümer für Kapital und Zins haften (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 112, S. 455/456).

Was bedeutet der Name?

Dass unser Weyacher Damast etwas mit dem hochwertigen Stoff gleichen Namens oder gar dem Damaststahl, eines vom Namen der heutigen syrischen Hauptstadt Damaskus abgeleiteten Schweissverbundstahls, zu tun hat, ist zwar denkbar, erscheint jedoch angesichts des Auftauchens der oben belegten Vornamen doch wesentlich weniger plausibel.

Was dieser Vorname allerdings zu bedeuten hat, ist dem hier Schreibenden noch nicht klar. Wenn er sich von Tamás, der ungarischen Version des Namens Thomas ableitet, dann wäre er immerhin mit dem reformierten Bekenntnis besser vereinbar, als wenn er von Damasus oder Damasius (der Diamantene) stammen sollte. Denn dies war der Name zweier (katholischer) Päpste, was dann in Weiach schon einiges Aufsehen erregt haben dürfte.

Dammast (in der Schreibweise, wie in den Weiacher Kirchenbüchern überliefert) ist überdies ein Familienname aus Deutschland, den einige Quellen mit dem Namen Damaschke in Verbindung bringen.

Waren Damast und seine Mutter Blesier?

Wenn die oben entwickelte These stimmt, dann wäre der Flurname Damast vom Namen eines Leibeigenen abgeleitet. Denn da sich die Leibeigenschaft von der Mutter auf das Kind vererbte, so war auch Damast Meierhofer ein Leibeigener. Offen wäre dann noch, von welcher Institution. 

Aufgrund der Einordnung des Leibeigenenverzeichnisses unter den Akten des Konstanzeramtes dürfte es sich entweder um das Domstift Konstanz, den Fürstbischof von Konstanz oder um das Kloster St. Blasien im Schwarzwald gehandelt haben. 

Letzteres ist deshalb am wahrscheinlichsten, weil noch im ausgehenden Mittelalter in unserer Gegend viele sog. Blesier anzutreffen waren, also Gotteshausleute, die zum Kloster St. Blasien gehörten und auch unter dessen Schutz standen. Dann allerdings wäre ein katholischer Vorname in Weyach in der Frühen Neuzeit zwar unüblich, aber immerhin als ein deutliches Zeichen der Zugehörigkeit zu werten.

Quellen und Literatur

  • Pfister, A.: Flurnamenliste; erstellt zwischen 1936 und 1942; Teil des sog. Ortsgeschichtlichen Ordners im Archiv des Ortsmuseums Weiach (noch ohne Signatur).
  • Kläui, P.: Die Urkunden des Stadtarchivs Kaiserstuhl. Aargauer Urkunden Bd. 13 (AU XIII), Verlag Sauerländer, Aarau 1955.
  • Sammlung der Orts- und Flurnamen des Kantons Zürich, 1943-2000 (Signatur: StAZH O 471). Datenerfassung für Weiach durch Prof. Bruno Boesch mit dem Gewährsmann Alb. Meierhofer im Jahre 1958.
  • Eintrag Damast. In: ortsnamen.ch. Das Portal der schweizerischen Ortsnamenforschung (Stand vom 13. November 2023).

Sonntag, 12. November 2023

Zollingers allzu uniforme Archivverweise

Seit der Publikation der auf den neuesten Stand gebrachten 3. Auflage der Weiacher Ortsgeschichte in der Tradition Walter Zollingers sind nun bereits 20 Jahre vergangen. Mittlerweile steht das Werk auf der 6. Auflage, wobei es für diese seit 2018 mehrere Dutzend Monatsversionen gibt. Bis in heutige Tage sind einige Eigenheiten Zollingers erhalten geblieben, vor allem dort, wo es dem hier Schreibenden bisher zeitlich nicht möglich war, den Verweisen im Detail nachzuspüren.

Welcher Band ist gemeint?

Vier Anmerkungen in Zollingers blauem Büchlein Weiach 1271-1971 referenzieren jeweils einen der im Archivkeller des Gemeindehauses an der Stadlerstrasse 7 stehende Bände mit ein und derselben Angabe: «Gemeindearchiv Weiach, Band IV, B IIa». Gemeint ist das PGA, das Archiv der politischen Gemeinde Weiach.

Wenn man sich ansieht, welche unterschiedlichen Zeiträume von den Kapiteln in Zollingers «Chronik» abgedeckt werden, zu denen diese Anmerkungen gehören, nämlich die gesamte erste Hälfte des 19. Jh., dann wird noch deutlicher, dass es mit dieser Signaturangabe ein Problem gibt. 

Bei einem Abgleich mit den Verzeichnissen von Weiacher Archivbeständen, die im Fonds GA Gemeindearchive des Staatsarchivs des Kantons Zürich unter der Klassengruppe StAZH GA 157 verfügbar sind, bestätigt sich diese Ahnung zur Gewissheit.

Alle nachstehenden Zitate?

Die erste Anmerkung (Anm-50) erhebt auch noch den Anspruch «für alle nachstehenden Zitate». Das ist nicht gerade hilfreich, weil nicht klar ist, bis wohin diese Angabe reicht. Wir nehmen einmal an: bis zum Ende des Kapitels. 

Auszug aus GA 157.14 
Verzeichnis des Archivs der POLITISCHEN Gemeinde WEIACH. Angefertigt von Paul Roesler, Rorbas. 1935. Exemplar des Staatsarchivs

Die Angabe «Band IV, B IIa» kann sich, wie man in StAZH GA 157.14 aus dem Jahre 1935 sieht (die zu Zeiten Zollingers gültige Archivstrukturierung), eigentlich nur auf  «IV.B 2a» (Protokoll des Gemeinderates 1803-1807) beziehen. Und für Anm-50 ist das auch völlig plausibel, denn im Text geht es ums Jahr 1803.

Für Anm-59 und Anm-65 kann das aber nicht gelten, denn diese betreffen wieder andere Zeiträume. Und damit auch andere Bände im Gemeindearchiv.

Keine Seitenangaben

Anm-72, die letzte der vier kryptischen Verweisstellen, erhielt von Zollinger als einzige noch eine Zusatzangabe: «1834 bis 1849». Wenn man nun diesen Zeitraum in den Bandbeschreibungen sucht, dann stellt man eine Übereinstimmung einzig bei den Gemeindeversammlungsprotokollen fest. Das wäre dann aber eine Referenzierung nach dem Muster «Band IV, B I ...».

Da zudem keinerlei Seitenangaben gemacht werden, bleibt nichts anderes übrig, als in den noch vorhandenen Bänden des PGA Weiach mit den heutigen Signaturen IV.B.01.xx sowie IV.B.02.xx (wobei xx ein Platzhalter für die Bandlaufnummer innerhalb der Serie ist) auf die Suche zu gehen. 

Für die Anm-72 kann jetzt schon gesagt werden, dass das leider sinnlos ist. Denn dieser Band ist schon seit vielen Jahren verschollen.

Nachtrag vom 16. November

Gerade diese Diskrepanz zwischen Zusatzangabe «[...] bis 1849» verglichen mit «[...] -1850» im Verzeichnis von 1935 könnte dadurch bedingt sein, dass Zollingers Quelle (Pfr. Kilchsperger? Pfr. Wipf?) den verschollenen Band noch physisch vor sich hatte.

Samstag, 11. November 2023

An Martini im «Sternen» liegengelassene Sackuhr

Das heutige Datum, der Tag des Hl. Martin, oder kurz Martini, war ein wichtiger Termin im bäuerlichen Jahreslauf. An diesem Tag wurden traditionellerweise die Zinsen fällig. An Martini begann die Winterschule, wobei man wissen muss, dass vor Einführung der allgemeinen Schulpflicht viele Kinder im Sommer nicht zur Schule gingen, denn dann wurden sie als Arbeitskraft in der Landwirtschaft dringend gebraucht. Im Winter waren sie eher entbehrlich. Vgl. zu diesem einleitenden Abschnitt auch WeiachBlog Nr. 1609.

An Martini fand in unserer nächsten Umgebung aber auch noch etwas anderes statt. Da war nämlich im benachbarten Städtchen Kaiserstuhl Markttag. Vielleicht ist er daraus entstanden, dass an diesem Tag (und bis zu dessen Säkularisierung im Jahre 1806/07) viele dem Kloster St. Blasien zinspflichtige Bauern zum Amtshaus an der Hauptgasse 35 nahe der Rheinbrücke kamen, um dieser Verpflichtung nachzukommen. Und wo viele Menschen zusammenkommen, da gibt's auch für Wirte und Händler etwas zu verdienen.

Am 11. November 1834 jedenfalls, das wissen wir sicher, war Markttag. Dies geht aus einem Inserat des Weiacher Sternenwirts Jakob Schenkel im Zürcherischen Wochenblatt hervor. Unter der Rubrik Anzeigen von Gefundenem wurde der nachstehende Text abgedruckt:

«97. Letzten Kaiserstuhler Martinsmarkt ist bey Unterzeichnetem eine Sackuhr liegend gefunden worden; wer dieselbige verloren zu haben glaubt, kann sie gegen Beschreibung erhalten. Jb. Schenkel, Wirth, in Weyach.»

Eine Taschenuhr also hatte da ein im Gasthaus zum Sternen Einkehrender liegengelassen oder sonst verloren und in den Tagen darauf nicht abgeholt. Und weil die Leute an einem solchen Markttag von weit her aus dem Zürichbiet nach Kaiserstuhl strömten, entschied sich Wirt Schenkel für eine Annonce in einem Stadtzürcher Blatt, denn Unterländer Regionalzeitungen gab es damals noch nicht (die kamen erst ab den späten 1840er-Jahren auf).

Ob die Eigentümerschaft sich gemeldet hat, wissen wir nicht, aber das Inserat war für Schenkel sicher hilfreich dabei, nach Ablauf einer bestimmten Zeit das Eigentum an der Fundsache für sich beanspruchen zu können.

Quelle und Literatur

Donnerstag, 9. November 2023

Der «Grümpel-Meier». Löter, Schirm- und Pfannenflicker

In den Jahreschroniken von Walter Zollinger (1896-1986) findet man neben den wiederkehrenden, sozusagen statistischen Angaben über die Witterung und den Gang der landwirtschaftlichen Arbeiten auch Hinweise auf kleingewerblich-handwerkliche Selbstständige, die in unserem Dorf ihr Auskommen fanden. So im zweiten Band über das Jahr 1953 (ZBZ G-Ch Weiach 1953, S. 13-14; vgl. WeiachBlog Nr. 761):

«Noch kurz vor Jahresschluss, am 30. Dezember, musste einer der ältesten Einwohner und Bürger zu Grabe getragen werden: Albert Willi-Meier zur Schmiede, in seinem 85. Altersjahr. - Ein Dorforiginal, ebenfalls im 85. Altersjahr in der Anstalt Rheinau verstorben und am 13. August hier beerdigt, war dessen Verwandter: der Löter, Schirm- und Pfannenflicker Albert Meier. Er hatte sich, bevor er in Rheinau versorgt werden musste, mit Sammeln von allen möglichen "Altertümern" befasst, die er in Schutt- und Ablagerungsplätzen der nähern und weitern Umgegend oder bei Bauern aufstöberte. Nachdem er sie gereinigt und einigermassen wieder instandgestellt hatte, bot er sie zum Verkauf an. Daneben flickte und lötete er wieder zusammen, was man ihm nur brachte. Ein alter Schopf diente ihm als Wohn-, Ess- und Schlafraum, wie auch als Werkstatt. Hier folgt ein Bildchen seines Tag und Nacht vor dem Schopf ausgestellten bunten Warenlagers:

Hanni Rutschmann-Griesser (1928-2023) konnte sich aus ihrer Kindheit noch sehr gut an den «Grümpel-Meier» erinnern. Er sei jeweils ganz schwarz gewesen vom Russ der Pfannen und mit seinem vorne und hinten mit Pfannen behängten Velo durch die Gegend gefahren.  [Mdl. Mitteilung - 18. Oktober 2002]

Leider ist nicht bekannt, aus welchem Jahr die Aufnahme stammt. Wenn man das mutmasslich von Zollinger selber geschossene Foto analysiert, dann wird schnell klar, dass es sich bei diesem Schopf nur um das Erdgeschoss des in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre von Kunstmaler Eugen Fauquex bemalten Riegelhauses Oberdorfstrasse 25 handeln kann (Baujahr laut Bauernhausforschung um 1812, als Anbau an Nr. 27).

Eine Alberten-Dynastie

Doch nun noch zum eingangs von Zollinger erwähnten Verwandten des Löters Albert Meier.

Martin Willi von Weiach Energy an der Kaiserstuhlerstrasse 10 (Migrol-Tankstelle) hat heute in seinem Stammbaum nachgesehen und den in der Schmiede in der unteren Chälen ansässigen Albert Willi identifizieren können:

Albert Willi-Meier (1869-1953) verheiratet mit Sophia, geb. Meier (1871-1946) war Martins Urgrossvater. Wir haben also hier die Tradition, den Sohn Albert zu nennen, sodass Martins Vater Albert Willi-Simon als Albert III. Willi und sein Grossvater Albert Willi-Jost als Albert II. Willi gelten dürfen. Ob auch Albert I. Willi schon als Schmied tätig war (z.B. als Angestellter des 1893 erwähnten Jakob Bersinger, vgl. WeiachBlog Nr. 1662) müsste genauer untersucht werden.

Literatur

  • Isabell Hermann: Die Bauernhäuser des Kantons Zürich, Bd. 3. Basel 1997 [Hrsg. Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde] – S. 275.
  • Die Zollingerschen Jahreschroniken in der ZB. WeiachBlog Nr. 761 v. 2. Februar 2010.
  • Ein Adressbuch ohne Adressen von 1893. WeiachBlog Nr. 1662 v. 2. Juni 2021.

Dienstag, 7. November 2023

Wenn Weiacher Gemeindewald nicht der Gemeinde Weiach gehört

Wie vor zwei Monaten erläutert (vgl. WeiachBlog Nr. 1987) sind die grössten Parzellen auf Weiacher Boden überwiegend Waldparzellen. Das findet man heraus, wenn man auf maps.zh.ch, dem Geographischen Informationssystem (GIS) des Kantons Zürich, mit dem Fokus auf die Amtliche Vermessung (AV) unterwegs ist.

Nur die langgezogenste Parzelle (von einem Grundstück oder einer Liegenschaft zu reden, mutet etwas verwegen an) besteht, einige wenige Uferpartien ausgenommen, fast ausschliesslich aus Wasserflächen: der Schweizer Anteil am Rhein auf Weiacher Territorium. 

Diese Parzelle 1403 erstreckt sich von der Kantonsgrenze (Gemeindegrenze zu Zurzach, Ortsteil Kaiserstuhl) bis an die Bezirksgrenze (Gemeindegrenze zu Glattfelden, Ortsteil Zweidlen-Station, bzw. Rheinsfelden). Und: die Parzelle steht im Alleineigentum eines Gemeinwesens. Welches, das verrät WeiachBlog Nr. 1280.

Nach Waldeigentümerkategorien eingefärbt

Sie können das aber auch selber herausfinden, ganz ohne WeiachBlog: auf der oben erwähnten GIS-Plattform des Kantons. Und zwar unter der Rubrik Flora und Fauna, Vegetation. Dort gibt es eine Karte namens Waldeigentumskategorien, Forstkreise und Forstreviere.

Waldparzellen im Eigentum der Eidgenossenschaft (bspw. VBS oder Staatsbetriebe wie die SBB) sind rot eingefärbt, Parzellen des Zürcher Staates hellblau, solche von kommunalen Gemeinwesen hellgrün (darunter nicht nur Wald der Politischen Gemeinde Weiach, oder bis Ende 2021 der Primarschulgemeinde, sondern auch die einzige Waldfläche der Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Weiach). Korporationswald ist in orange gehalten. Und Privatwald kommt in Gelb (mit Rotstich) daher. In geschlossenen Waldgebieten kann man daher auch feststellen, ob die Waldstrasse einer Gemeinde oder Privaten gehört, wie auf dem nachstehenden Ausschnitt schön sichtbar.


Stadel hält Weiacher und Zweidler Gebiet im Portfolio

Gemeindewald auf Weiacher Gebiet ist nicht immer Weiacher Gemeindewald. Er gehört zwar politisch zur Gemeinde Weiach, gehört aber nicht ins Gemeindegut der Politischen Gemeinde Weiach. 

Eigentümerin der Parzelle 713 ist die Gemeinde Stadel (96'125 m²; auf dem Kartenausschnitt oben ist das das Grundstück mit der roten weissumrandeten 7 und der Flurbezeichnung Winzlen). Nahtlos anschliessend daran und ebenfalls im Eigentum der Stadler: die auf dem Plan mit dicker roter Linie umrandete Fläche. Sie liegt auf Gemeindegebiet von Glattfelden. Diese Parzelle (Glattfelden-6097) misst 29'492 m². Für die Bewirtschaftung dieser gesamthaft rund 12.5 Hektaren Wald ist der Zweckverband Forstrevier Egg-Ost - Stadlerberg mit Sitz in Schöfflisdorf zuständig. 

Die Aufsicht über diese Fläche ist allerdings beim Kanton auf zwei Forstkreise aufgeteilt, denn Glattfelden gehört zum Forstkreis 6, Weiach zum Forstkreis 7. Deshalb ist auch unser Förster Alexander Good sozusagen Diener zweier Herren, denn das Forstrevier Weiach-Glattfelden (Sitz am Grubenweg 6 in Weiach) liegt natürlich auch in zwei Forstkreisen.

Der Leuenchopf und das Gebiet des ehemaligen Winzlenhofs (Wüstung des 19. Jahrhunderts) sowie die Fürstenhalde sind Eigentum der Gemeinde Weiach. Diese oben erklärte Aufteilung der Eigentumsverhältnisse ist übrigens auch eine mögliche Erklärung, weshalb es auf obigem Planausschnitt den Flurnamen Winzlen gleich zweimal gibt (vgl. auch WeiachBlog Nr. 563).

Wer hat die grösste Parzelle: Weiach oder Stadel?

Die Antwort lautet: Stadel. Denn die Gemeindewaldung auf dem Stadler- und Raaterberg (Parzelle Stadel-722) umfasst nicht weniger als 869'965 m², also fast 87 Hektaren.

Würde Weiach hier auftrumpfen wollen, dann wäre das möglich. Mittels einer Fusion seiner grössten Waldparzelle 1144 (83.2 ha; vgl. WeiachBlog Nr. 1987) mit den angrenzenden Parzellen 1050 und 1051:  832'211 m² (1144) + 73'853 m² (1050) + 7'635 m² (1051) = 913'699 m²

Auch den Kaiserstuhlern gehört Weiacher Wald

So umfangreich wie das Waldstück der Stadler auf Weiacher Territorium ist das der Ortsbürgergemeinde Kaiserstuhl nicht. Sie ist Eigentümerin von Weiach-1039 mit 3193 m². Auch hier ist die Bewirtschaftung ähnlich einfach wie auf dem Ämperg: Die (nur durch einen Waldweg abgetrennte) angrenzende Parzelle Bachs-750 mit 344'949 m² gehört nämlich ebenfalls der Ortsbürgergemeinde Kaiserstuhl.

Für die Bewirtschaftung zuständig ist der Forstbetrieb Region Kaiserstuhl mit Sitz in Fisibach, dessen Bereich die ehemaligen Gemeindewaldungen von Kaiserstuhl, Rümikon, Wislikofen und Mellstorf (seit 1. Januar 2022 zur Gemeinde Zurzach) sowie Fisibach und den dort liegenden Aargauer Staatswald umfasst. Sein Betriebsleiter Samuel Schenkel ist den Weiachern als Vizepräsident des OK 750 Jahre Weiach auch kein Unbekannter.

Literatur

Donnerstag, 2. November 2023

«Im Land ume vögele». Was tut ein Gassenvogel?

Pfarrer Rudolf Hüsli, der für Weyach zwischen 1555 und 1557 zuständige Seelsorger, kannte sich nicht nur mit Vögeln aus. Er verstand sich auch auf klare Sprache und deutliche Worte. Was ihm im Dezember 1555 als Pfarrer des südlich der Stadt Winterthur gelegenen Bauerndorfes Töss zum Verhängnis wurde. 

Denn Kritik an der Sozialpolitik der Regierung in Zürich, wie er sie in einer Predigt ab der Kanzel geäussert hatte, das ging gar nicht. Vor allem da sie überdies auch noch zutreffend war. Hüsli wurde kurz darauf aus dem Bett heraus verhaftet und in den Gefängnisturm Wellenberg gesteckt.

Wenige Tage später erledigte die Obrigkeit die Angelegenheit für alle Seiten gesichtswahrend, setzte Hüsli als Pfarrer von Töss ab und verdonnerte ihn zum Bewährungsdienst in einem kleinen Nest nahe dem Rhein, für das die Regierung das Recht auf die Pfarrwahl innehatte: Weiach.

Besserer Job dank Vogelbuch?

Um den Job als Pfarrer für Weyach riss sich in diesen ersten Jahren nach der Reformation keiner. Denn es gab damals bei uns nicht nur kein Pfarrhaus (was ein- bis zweimal die Woche je sechs Stunden Fussmarsch hin und zurück in die Stadt Zürich bedeutete), die Position war überdies auch noch so schlecht besoldet, dass man davon unmöglich eine Familie durchbringen konnte. Hüsli hatte aber zu diesem Zeitpunkt bereits eine Ehefrau und zwei kleine Kinder (vgl. WeiachBlog Nr. 432).

Im Bemühen rehabilitiert zu werden und wieder eine bessere Pfarrstelle zugesprochen zu erhalten, übersetzte Hüsli in seiner Weiacher Zeit das Vogelbuch des berühmten Conrad Gessner aus dem Lateinischen ins Deutsche und widmete es der Zürcher Regierung. Mit Erfolg: 1557 wurde ihm die Pfarrei Zollikon übertragen. Nur so, als braver Systemkonformer, konnte er sich zehn weitere Kinder leisten.

Wenn Eier nichts taugen

Doch zurück zu den Vögeln. In seiner Übersetzung findet man mehrfach die Wörter «g(e)vogel» bzw. «ungevogel» (Id. I 698). Damit hat er, wie man dem Schweizerdeutschen Wörterbuch, dem Idiotikon, entnehmen kann, den Zustand von Vogeleiern bezeichnet: befruchtet oder unbefruchtet. Ebenfalls aus Hüslis Übersetzung stammt die Binsenweisheit, Eier von Tauben ohne Kuter (das ist die männliche Taube) seien «ganz ungevogel und unnütz». (Id. I 699)

Und wenn Sie jetzt bereits die Verbindung zu einer Tätigkeit gemacht haben, durch welche die Befruchtung natürlicherweise zustandekommt, dann liegen Sie völlig richtig:

«vogeln vögeln Vb. ‘miteinander schlafen’, spätmhd. vog(e)len ‘begatten’ von Tieren, besonders von Vögeln, danach auch (meist mit Umlaut) vögeln von Menschen (15. Jh.). Herkunft ungewiß. Vielleicht hervorgegangen aus fegeln, mhd. vegeln, einem Iterativum zu fegen ‘reinigen, kehren’, auch ‘reiben, mit kurzen, raschen Bewegungen wischen’ (s. d.), mhd. vegen (in diesem Sinne semantisch vergleichbar mit ficken, s. d.), mit früher (teils euphemistischer, teils lautspielerischer) Angleichung an Vogel bzw. vogeln, vögeln.» [vgl. Eintrag in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Akademie der Wissenschaften der DDR, Lexikographen-Gruppe unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer (1922-2020)]

Dass dieses Wort in schriftlicher Form erst im 15. Jahrhundert auftaucht, heisst nicht zwingend, dass es erst damals entstanden ist. Da es zu einem fundamentalen Erkenntniszusammenhang aus dem bäuerlichen Alltagslebens gehört, könnte das Wort auch weitaus älter sein und aus einer Zeit stammen, in der schriftliche Aufzeichnungen viel seltener waren. Denn breite Verfügbarkeit von Papier ist in deutschsprachigen Gebieten erst ab dem 14. und v.a. 15. Jahrhundert anzusetzen (vgl. Verbreitung der Papierherstellung in Europa).

Der Vergleich menschlicher Sexualität mit derjenigen von Tieren macht die Angelegenheit zusätzlich anstössig, ja geradezu vulgär, was sittenstrengen Obrigkeiten, die die unausweichlich ins Haus stehenden Folgen solchen Tuns fürchteten, natürlich nicht gefallen konnte.

Mandat der Stadt Zürich betreffend Unzucht junger Leute

Ein Jahrhundert nach Hüslis Weiacher Zeit hat die Zürcher Obrigkeit keine Kosten gescheut und ihre obrigkeitlichen Anordnungen zur Eindämmung ärgerlichen bis gefährlichen Treibens auf Papier drucken lassen.

So im Jahre 1658 die erneuerte «Satzung und Ordnung Wider herfuͤrbrechende allerley muhtwillig- und lychtfertigkeiten / wie auch das naͤchtliche gassen voglen / und darby verlauffende vilfaltige frefel.» (SSRQ ZH NF I/1/11 26; 1658 Juli 7)

Auch zehn Jahre nach dem Westfälischen Frieden 1648, der der Schweiz die staatsrechtliche Unabhängigkeit vom Hl. Römischen Reich deutscher Nation brachte, führt der Zürcher Staat den Reichsadler samt Krone auf dem Wappen. Nur eine Sparmassnahme?

Sandra Reisinger, die Bearbeiterin desjenigen Bandes aus der Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, der eine Auswahl an Zürcher Mandaten versammelt (SSRQ ZH NF I/1/11), fasst diese Verordnung in ihrem Regest wie folgt zusammen:

«Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich wiederholen ältere ähnliche Mandate und verbieten das nächtliche Zusammenkommen der jungen Knaben und Mädchen in den sogenannten Lichtstubeten, Weidstubeten, im Wald und auf den Allmenden. Auch an den Sonntagen sind diese Treffen sowie das Baden, Tanzen und Musizieren bei Strafe verboten. Die Bewohner der Landschaft werden speziell auf das Verbot hingewiesen. Alle Amtsträger, Pfarrer und Familienmitglieder sollen den Jungen ausserdem ein Vorbild sein, sie von unzüchtigem und unehrenhaftem Verhalten abhalten und bei Nichtbefolgung dies der Obrigkeit melden. Damit alle Bewohner Zürichs Kenntnis des Mandats haben, soll es zwei Mal jährlich verlesen werden.»

Vorschriften einhämmern. Wirkt nachhaltig.

Mindestens zwei Mal jährlich, muss man dazu ergänzen, denn der letzte Satz des Mandats, der zugleich auch eine Aufforderung an die Pfarrherren ist, lautet:

«Und dannethin damit sich niemand einicher unwuͤssenheit zuentschuldigen / so gebietend Wir fehrners / und ist hiemit Unser befelch / will und meinung / daß soͤlich Unser Ansehen uf das wenigist des jahrs zweymal offentlich verlesen werde / damit also ein jeder und jede sich darnach zuverhalten / und ihnen selbsten vor schmaach und schaden zusyn wuͤssind.» [Unterstreichung durch WeiachBlog]

Repetitio est mater studiorum. Will heissen: Was man den Leuten regelmässig einhämmert, das bleibt haften, allenfalls sogar wortwörtlich. Jedenfalls geht es in Fleisch und Blut über. Die soziale Kontrolle im Bauerndorf bewirkt dann ein Übriges und die Strafbewehrung sowie Stigmatisierung bei Verstössen sichert den gewünschten Effekt nachhaltig. Wie nachhaltig, das sieht man an Reaktionen wie derjenigen von Mina Moser (1911-2017), die noch im Alter von über 90 Jahren gezögert hat, allein (d.h. ohne männliche Begleitung) das Wirtshaus zum Wiesental zu betreten (vgl. WeiachBlog Nr. 1409).

Aber man muss dranbleiben. Gerade bei der Jugend.

Reisingers Zusammenstellung ist längst nicht die erste, die es zu diesen Mandaten gibt. Besonders wertvoll auch für Laien (und dilettierende Ortshistoriker, wie es der Autor dieser Zeilen ist) sind nebst der Zugänglichkeit (online jederzeit frei abrufbar unter: https://rechtsquellen.sources-online.org) die Kommentare zu den einzelnen Mandaten, die man übrigens nicht nur in Transkription und vollem Wortlaut vorfindet, sondern auch mit danebengestelltem Druckblatt (sozusagen als digitales Faksimile).

Schauen wir in den Kommentar Reisingers, dann wird klar, dass die Disziplinierung des jungen Gemüses eine Daueraufgabe war (und ist):

«Klagen über das nächtliche Herumtreiben von Jugendlichen sind in Zürich schon seit dem Spätmittelalter in obrigkeitlichen Verordnungen und Gerichtsprotokollen dokumentiert [...]. Mit gedruckten Mandaten, dem Einbezug von Eltern, Lehrpersonen und Wachtpersonal versuchte die Obrigkeit, dem Treiben Einhalt zu gebieten. Dies hatte aber oft wenig Erfolg, nicht zuletzt auch deswegen, weil sich unter den Jugendlichen häufig die eigenen Söhne und Töchter der Ratsherren befanden [...].»

Dieses Problem kennen wir auch heute. So erklären sich die Samthandschuhe, die die Stadtpolizei Zürich im Umgang mit der Hausbesetzerszene anzuziehen genötigt ist auch ganz ohne Rückgriff auf linke Politiknarrative. Denn des für Sicherheit zuständigen Stadtrats Richard Wolff eigene Söhne tummelten sich ja in eben dieser die geltende Ordnung frech herausfordernden Subkultur. Zur Ehrenrettung des Herrn alt Stadtrats: Die (erwachsenen) Kinder machen halt auch weitgehend, was sie wollen. Und es sind heute andere Zeiten, wie Mina Moser es ausgedrückt hätte:

«Das vorliegende Mandat ist das einzige, welches das nächtliche Herumtreiben und andere Aktivitäten der Jugendlichen gesondert behandelt. Hingegen werden Nachtruhestörungen in zahlreichen Zürcher Sammelmandaten thematisiert (beispielsweise StAZH III AAb 1.2, Nr. 1 aus dem Jahr 1601: «daß ein jeder syne kinder zuͦ aller zucht, frombkeit und ehrbarkeit und mit nammen dahin zühe, daß sy nachts by guͦter zyt im huß sygind, und niemand weder mit schryen noch anderen dingen beleidigind»).» [Link durch WeiachBlog auf e-rara.ch umgeleitet]

Womit wir nun endlich die im Titel dieses Beitrags gestellte Frage beantworten können.

Der Gassenvogel, das allzu bekannte Wesen

«Gassenvoglen» (im Titel des Mandats explizit erwähnt) ist laut Idiotikon das «sich auf den Gassen herumtreiben, gleichsam ein 'Gassenvogel' sein». Von diesem Zirkelschluss einmal abgesehen gibt es auch noch weitere volkstümliche Redensarten in dieser Richtung. So beispielsweise «im Land ume vögele», worunter «herumschweifen» zu verstehen ist. Im Aargau nannte man das (laut Id. Bd. I von 1883) «umenand vögele». Unserer Zeit geläufiger ist der Begriff «Nachtschwärmer».

Dass beim «gassenvoglen» auch eine sexuelle Konnotation mitschwingt, darf getrost angenommen werden. Vögeln ist also ein Problem, das – ob unter Erregung öffentlichen Ärgernisses oder nicht – zusammen mit dem Herumtreiben gleich mit verhindert werden sollte.

Fest steht: bei diesem Kampf gegen Sodom und Gomorrha handelt es sich um eine Sisyphos-Arbeit. Das wird allein schon aus dem Statement eines US-Navy-Chaplains deutlich, der dem Autor dieser Zeilen, lang ist's her, anlässlich einer Konferenz aller Armeeseelsorger der KFOR zu verstehen gegeben hat, Disziplin punkto Keuschheit sei auf Flugzeugträgern mit Tausenden auf engem Raum eingesperrten, eher jüngeren Leuten, schwierig zu erreichen: «Da kannst Du predigen so lange Du willst... Die Natur ist stärker.»